Definitorisches: Dialekt vs. Sprache
Als bisher unbefriedigend ([11], 61) gelten die bis zur Gegenwart andauernden
Versuche, Dialekt und Sprache voneinander abzugrenzen;
auch ist es - wohl aufgrund individuell abweichender Verhältnisse -
offenbar unmöglich, hinsichtlich aller Nationalsprachen und
Sprachvarianten (Varietäten) gemeinsam verwendbare Oberbegriffe
zu finden.
Sie finden nachfolgend einige exemplarische Zitate; die (noch vorläufige)
Kompilation erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, außerdem
sind die Zitate und Quellenangaben (noch) nicht nach Verfassern bzw.
Erscheinungsjahren geordnet. Zur aktuellen Lage der
Variationslinguistik des Deutschen [11]. Zum Terminus
Überdachung (=> KLOSS 1952, GOOSSENS
1973) s. unten sowie [9a], [11] und [12].
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Mundart ist "die besondere Art zu reden, wodurch sich die Einwohner einer
Gegend von den Einwohnern anderer Gegenden unterscheiden, die Abweichungen
einzelner Gegenden in der gemeinschaftlichen Sprache; wohin also nicht nur
die Abweichungen in der Aussprache, sondern auch in der Bildung, der Bedeutung,
und dem Gebrauche der Wörter gehöret [...]"
J. Chr. ADELUNG in [14]
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Die allgemeine dt. Schrift-, Hoch- oder Gemeinsprache ist ein Gebilde,
das mehr in der Idee als in der Wirklichkeit lebt, mehr geschrieben als
gesprochen wird. [...] Sie stellt ein in heißem Ringen [...] gewonnenes
Kunstprodukt dar. [...] Die [...] Mundart wird in der Regel nur
gesprochen, nicht geschrieben. [...] Auch die Mda hat ihren
bestimmten sprachlichen Bau und ist
von Willkür weit entfernt; auch sie unterscheidet
zwischen falsch und richtig, altmodisch und modern ...
Adolf BACH in [1], 3 (§ 3)
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Dialekte sind Varianten einer
Sprache, die in einem Teilgebiet ihres
Gesamtverbreitungsgebietes gesprochen werden und sich bei Wahrung einer
prinzipiellen gegenseitigen Verständlichkeit durch mehr oder minder
umfangreiche Unterschiede in der Aussprache, aber
auch im Wortschatz oder sogar in
Teilen der Grammatik voneinander unterscheiden.
Peter FINKE in [7]
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Dialekte sind in bezug auf Lautung,
Flexion/Wortbildung, Wortschatz und ggf. Stilistik (Phraseologie, Syntax)
eigentümliche, landschaftlich oder örtlich beschränkte
Systemvarianten einer staatlichen oder überstaatlichen
Gemeinsprache.
W. NÄSER, in: Materialien für den Internationalen
Ferienkurs der Philipps-Universität (Vortrag: Die deutschen Mundarten),
1978
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Eine Langue heißt dann
Dialekt, wenn sie Varietät ist, nicht
standardisiert ist und areal nur begrenzt verbreitet ist.
J. HERRGEN, Definition;
WWW-Quelle [16]
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Die regionalen D[ialekte]. weisen (wie auch die
sozialen, vgl. => Soziolekt) keine geringere systematische
Regelmäßigkeit auf als die
Standardsprache; [...] kommunikativ sind sie
ebenso leistungsfähig [...]. Oft lassen sich
zwischen Standardsprache und D. => Interferenz
und Funktionsdifferenzierung feststellen; erstere
dient dem formellen Verkehr, letztere dem mehr informellen (familiären,
intimen) Gebrauch.
Th. LEWANDOWSKI in [10] Bd. 1, 149
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Dialekte definieren sich nach geograph. bestimmten
Deckungs- und Vorkommensbereichen von Idio- und Soziolekten. Eine
Sprache ist (in der Regel) ein Gefügekomplex
und Deckungsbereich aus Idiolekten,
Soziolekten und
Dialekten. Der Übergang vom Dialekt zu dem,
was man Sprache nennt, ist fließend.
Werner KÖNIG in [5], 11
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Die Definition besagt, daß man von irgendetwas genau dann sagen kann
: « Es ist ein Dialekt », wenn es
sämtliche der folgenden 4 Eigenschaften hat : 1. eine Langue zu sein
(L), 2. eine Varietät zu sein (V), 3. kleinregional zu sein (K) und
4. nichtstandardisiert = oral zu sein (O) [...]
Ulrich AMMON in [13]
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Dialekt und Umgangssprache sind die nicht
kodifizierten, 'flexiblen', nicht durch schulische Einwirkungen 'entfremdeten'
Sprachformen der Nähe, des persönlichen Umgangs, wogegen die
Standardsprache v.a. in ihrer strikt kodifizierten
schriftlichen Form oft mit schulischen Misserfolgserlebnissen konnotiert
ist und als Sprache der Distanz erlebt wird. [6], 305
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Mundart ist stets eine "der
Schriftsprache vorangehende, örtlich gebundene,
auf mündliche Realisierung bedachte und vor allem die natürlichen
alltäglichen Lebensbereiche einbeziehende Redeweise, die nach eigenen,
im Verlaufe der Geschichte durch nachbarmundartliche und hochsprachliche
Einflüsse entwickelten Sprachnormen von einem großen heimatgebundenen
Personenkreis in bestimmten Sprechsituationen gesprochen wird".
Bernhard SOWINSKI in [3], 180 f. (auch zitiert in [4], 9 und
[8], 457)
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Dialekt ist [...] der als Ausdrucksweise der
Sprachgemeinschaft eines Ortes zu betrachtende, auf lokale Verwendung zielende
Komplex von Sprechweisen, bei dem zur Aufhebung der Differenzen zum
hochsprachlichen System, im Vergleich zu den anderen
am gleichen Ort vorkommenden Sprechweisen dieser Sprachgemeinschaft, eine
maximale Anzahl von Regeln notwendig ist.
Jan GOOSSENS in [9b], 21; zit. in [8], 457
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Ein Dialekt ist als solcher 'Dialekt einer Sprache'
(sonst an sich betrachtet ist er ebenfalls eine "Sprache"). Hingegen kann
man "Sprache" entweder in bezug auf "Dialekt" auffassen
oder auch als einen 'substantivischen' Begriff. d.h. als einen
nicht-relationellen und in dieser Hinsicht autonomen, selbständigen
Begriff."
Eugenio COSERIU, "Historische Sprache" und "Dialekt", in [2];
108
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Dialekt wäre [...] "die
erste Unterordnung der
Sprache, gekennzeichnet durch verschiedene
Besonderheiten, die ihn von anderen benachbarten und verwandten Einheiten
abheben, welche, im Vergleich zu der unmittelbar darüberstehenden Einheit,
(der Sprache), alle auf derselben Ebene liegen."
M. CARAGIU-MARIOTEANU, Kompendium der
rumänischen Dialektologie [...], Bukarest 1975, 28, zit. in: Teofil
TEAHA, Der Beitrag der rumän. Sprachwissenschaft zur
Theorie des Dialekts, [2]; 155
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Der Terminus Dialekt bedeutet im allgemeinen eine
strukturelle Varietät in der Beziehung zu
einer anderen strukturellen Varietät oder ein
Teilgebilde bezugnehmend zum Ganzen. [...] Ein
Dialekt muß durch die gleichen Idiolekte
gebildet werden. Wird diese Bedingung nicht erfüllt, so handelt
es sich schon um einen anderen, einen benachbarten Dialekt. [...] Die Frage,
wie weit einer mit den anderen verwandt ist, oder welche territorialen Varianten
gegen ihre Identifizierung sind, betrifft nicht das Funktionieren ihres Systems
bei der Verständigung. Denn danach ist erst derjenige Dialekt als ein
anderer Dialekt zu betrachten, der dem Dialektsprecher des ersteren
unverständlich ist.
Jan CHLOUPEK, Die Stellung des Dialekts im Rahmen der
Nationalsprache, in: [2]; 166 f.
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[a] In diesem Sinne ist "Sprache" eine
übergreifende, regionale bis überregionale, öffentlich bis
offiziell und allgemein gebrauchte, der Schriftsprache angenäherte bis
geradezu identische, höher bis hochwertig eingeschätzte,
entwicklungsgeschichtlich sich nicht unmittelbar aus einem Protosystem ableitende
Sprachform.
[b] Umgekehrt läßt sich "Dialekt" verstehen
als untergeordnete, lokal bis regional gebundene, privat bis halböffentlich
und damit beschränkt gebrauchte, der Schriftsprache mehr oder minder
fernstehende, meist wenig geschätzte, entwicklungsgeschichtlich auf
natürlichem Weg aus einem Protosystem hervorgegangene Sprachform. Synchron
aufgefaßt ist "Sprache" daher stets eine
übergeordnete und "Dialekt" eine
untergeordnete Größe, die sich nur innerhalb
eines Systems in Abhängigkeit von Bezugsgrößen definieren
lassen.
Peter WIESINGER, "Sprache", "Dialekt" und "Mundart", in [2];
187
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"Mit der Berücksichtigung [...] der vertikalen Dimension ist
Dialekt nicht mehr allein auf das Niveau der
größten Standard- bzw. Schriftspracheferne [...] festgelegt. Dialekt
verliert dadurch seine Abgrenzungsschärfe nach oben', die ohnehin
weder durch die Dialektverwendung noch durch die Erfahrung des Dialektologen
bestätigt wird. Der Begriff des zweidimensionalen Dialekts
trägt in besonderer Weise den Sprachverhältnissen der Gegenwart
Rechnung, die nicht so sehr die Pole Basisdialekt
und Standardsprache, sondern stattdessen zunehmend
den dazwischen liegenden Kontinuumsbereich [...] in kommunikativer
Nutzung zeigen und für die Dialektologie interessant erscheinen
lassen."
G. BELLMANN in [15]; Hervorhebungen von mir, W.N.
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Zur Überdachung: Schon 1952 ("Die Entwicklung neuer germanischer
Kultursprachen", später [12]) bezeichnet Heinz KLOSS
Mundarten, die häufiger als andere zu sog. Ausbaudialekten werden,
als "dachlose" Maa. ("roofless dialects"). Diesen fehle das "hochsprachliche
Schutzdach" ([12], 61). Jan GOOSSENS verwendet die Metapher
in [9a] und schreibt S. 20: "Von dieser Zeit [17./18. Jhd.] an lassen sich
die früher nd. und früher hd. Mundarten
mit dem sie alle überdachenden Element, der dt.
Schriftsprache, in einem größeren
Diasystem vereinen." und S. 21: "Das bedeutet,
daß wir mit Hilfe des Kriteriums der Überdachung dasjenige, was
wir unter Nd. verstehen, nicht als eine Sprache
definieren können." (das gelte nur für einen Teil vor dem
17. Jhd.). BARBOUR / STEVENSON definieren in
[11] Überdachung als "ein Phänomen, das sich vielfach
über nationale Grenzen hinwegsetzt: Wo immer
eine Form von Standarddeutsch als 'höchste Instanz' akzeptiert wird,
sind die betreffenden Mundarten als Varietäten des Deutschen zu betrachten.
Das Westfälische und der in Ostbelgien verbreitete Rheinland-Dialekt
sind beispielsweise von Standarddeutsch überdacht, während das
eng verwandte Limburgische dem Niederländischen zugeordnet wird." (ebd.
13)
[1] BACH, Adolf: Deutsche Mundartforschung. Ihre Wege, Ergebnisse
und Aufgaben. Heidelberg 1969
[2] GÖSCHEL, Joachim, u.a. (Hgg.): Dialekt und Dialektologie.
Ergebnisse des Internationalen Symposions "Zur Theorie des Dialekts",
Marburg/Lahn 5.-10. September 1977, Wiesbaden 1980 (= ZDL, Beihefte N.F.
26)
[3] SOWINSKI, Bernhard: Grundlagen des Studiums der Germanistik.
Teil 1: Sprachwissenschaft. Köln / Wien 1970
[4] LÖFFLER, Heinrich: Probleme der Dialektologie. Eine
Einführung. Darmstadt 1974 (dort Auseinandersetzung mit den
"Definitionsproblemen" 1-10)
[5] KÖNIG, Werner: dtv-Atlas zur deutschen Sprache. Tafeln
und Texte. München 1978 (viele weitere Auflagen)
[6] LINKE, Angelika u.a.: Studienbuch Linguistik. 3. Aufl.
Tübingen 1996 (= RGL 121)
[7] Internet-Quelle:
Handout Vorlesung 2: Chaos und Ordnung: Die
Sprachenvielfalt. Uni Bielefeld, Fakultät für Linguistik und
Literaturwissenschaft
[8] ALTHAUS, Hans Peter, u.a. (Hgg.): Lexikon der germanistischen
Linguistik. 2., vollst. neu bearb. und erw. Auflage, Tübingen 1980
[9a] GOOSSENS, Jan (Hg.): Niederdeutsch. Sprache und Literatur.
Neumünster 1973
[9b] GOOSSENS, Jan: Deutsche Dialektologie. Berlin 1977 (=Sammlung
Göschen 2205)
[10] LEWANDOWSKI, Theodor: Linguistisches Wörterbuch.
3 Bde., Heidelberg 1979 f.
[11] BARBOUR, Stephen, u. Patrick STEVENSON:
Variation im Deutschen. Soziolinguistische Perspektiven. Berlin / New York
1998; zur Definition: 60-62 (Résumé); 80 f; 110 f.
[12] KLOSS, Heinz: Die Entwicklung neuer germanischer
Kultursprachen seit 1800. 2., erw. Aufl. Düsseldorf 1978 (= Sprache
der Gegenwart 37)
[13] Ulrich Ammon: Vorbereitung einer Explizit-Definition von "Dialekt" und
benachbarten Begriffen mit Mitteln der formalen Logik. In: Klaus J. Mattheier
(Hrsg.): Aspekte der Dialekttheorie. Tübingen 1983 (Reihe Germanistische
Linguistik. 46), S. 27-68, hier S. 36.)
[14] ADELUNG, Johann Christoph: Grammatisch-kritisches
Wörter-buch der hochdeutschen Mund-art. Mit beständiger Vergleichung
der übrigen Mund-arten, besonders aber der oberdeutschen. 2., vermehrte
und verbesserte Aufl. Leipzig 1793-1801, Bd. 3, 311
[15] BELLMANN, Günter: Zweidimensionale Dialektologie.
In: Günter Bellmann (Hrsg.): Beiträge zur Dialektologie am Mittelrhein.
Stuttgart 1986 (Mainzer Studien zur Sprach- und Volksforschung. 10), S. 1-55,
hier S. 4.
[16]
http://www.nat-schuelerlabor.de/FB/Philologie-I/germanistik/Herrgen/html/veranstaltungen/materialien_vl_folien.htm
Änderungen und Ergänzungen vorbehalten.
(c) W. NÄSER; Stand: 15.12.2010