für eine Produktion des hr, Studio Kassel:

Milchmädchenrechnung

Ich stehe an der Supermarktkasse und bezahle meine Milch; die Kassiererin tippt den Betrag falsch ein - wer würde in dieser alltäglichen Situation an die Milchmädchenrechnung denken? Wie in vielen anderen nebulösen Fällen glaubt man auch hier an einen Ursprung aus der Geistes- und Literaturgeschichte. In der Fabel "Das Milchmädchen und der Milchtopf" des durch diese Gattung berühmt gewordenen Dichters J. de Lafontaine (1621-1695) bringt das Milchmädchen Perette einen Topf mit Milch zum Markt und errechnet, was aus dessen Verkauf alles an Erlös zu erzielen wäre. Doch plötzlich stolpert das aus Mädchen und verschüttet dabei die ganze Milch. Die Rechnung ist nicht aufgegangen oder, so könnte man auch sagen, mit diesem Ausgang hat das Mädchen nicht gerechnet (womit wir eine nicht-mathematische, als Synonym von "erwarten" stehende Variante von rechnen hätten).

Daraus soll dann die Bedeutung "auf Trugschlüssen aufgebaute Erwartung" entstanden sein. (Duden, Das gr. Wb. der dt. Sprache in 6 Bänden, Bd. 4 (1978), 1783 r.u.).

Genauso gut könnte man aber auch intuitiv daran denken, daß von einem wenig rechenbegabten, allzu leichtgläubig auf seine Fähigkeiten vertrauenden Mädchen eine nicht ganz stimmige Rechnung präsentiert wird - womit wir an die Supermarktkasse zurückgekehrt wären.

Die Milch der frommen Denk(ungs)art kommt in Schillers "Wilhelm Tell" (IV, 3) vor:

"Ich lebte still und harmlos - Das Geschoss war auf des Waldes Tiere nur gerichtet, meine Gedanken waren rein von Mord - Du hast aus meinem Frieden mich heraus geschreckt, in gärend Drachengift hast du die Milch der frommen Denkart mir verwandelt, zum Ungeheuren hast du mich gewöhnt - Wer sich des Kindes Haupt zum Ziele setzte, der kann auch treffen in das Herz des Feinds." Die Milch-Metapher gibt es auch im Englischen: "the milk of human kindness". Warum Schiller sie verwandte, bleibt im Dunkel.

Assoziativ könnten wir auch an die Weinsorte "Liebfraumilch" denken, eine Hommage an das, was das Jesuskind in den ersten Wochen aus den Brüsten seiner gottergebenen Mutter genießen durfte (siehe auch hier!)

Änderungen und Ergänzungen vorbehalten. W. Näser, MR, 28.9.2k6