Mit den Protesten von Anwohnern gegen neu errichtete Sendeanlagen ist der Mobilfunk ins Gerede gekommen. Auch die Forschung kann derzeit keine definitiven Antworten geben, ob von der elektromagnetischen Strahlung gesundheitsschädigende Wirkungen ausgehen. Das macht die Festlegung von Grenzwerten zu einem schwierigen Unterfangen.
Spe. Der Mobilfunk boomt. Weltweit schätzen es mittlerweile mehr als 200 Millionen Menschen, vom normalen Telefonnetz mit seinen ortsfesten Anschlüssen unabhängig zu sein. Wie jede Technik ist auch die Mobiltelefonie nicht zum «Nulltarif» zu haben. Ein immer dichteres Netz von Antennen ist der Preis, den man dafür zu zahlen hat, dass immer mehr Menschen jederzeit und überall erreichbar sein wollen. Die Swisscom betreibt in der Schweiz rund 2500 dieser Basisstationen, und die Telekom-Unternehmen Diax und Orange sind dabei, ihre Mobilfunknetze auszubauen. Sie stossen dabei auf den unerwartet heftigen Widerstand von Anwohnern, die durch die elektromagnetische Strahlung der Sendeantennen ihre Gesundheit bedroht sehen. Vor diesem Hintergrund hat die Verordnung über den Schutz vor nichtionisierender Strahlung (NISV), die vor einigen Monaten vom Eidgenössischen Departement für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation in die Vernehmlassung geschickt wurde, unvermittelt an Aktualität gewonnen.
Wie verträglich elektromagnetische Strahlung für den Menschen ist, ist ein Thema, das die Wissenschaft seit vielen Jahren beschäftigt. Konzentrierte sich das Interesse anfangs vor allem auf niederfrequente Strahlung, wie sie beispielsweise von Hochspannungsleitungen emittiert wird, rückte in den letzten Jahren zunehmend die hochfrequente Strahlung von Radio-, Fernsehen- und Mobilfunkantennen in den Blickpunkt der Forschung. Unbestritten ist, dass diese Strahlung zu einer Erwärmung des Gewebes führen kann. Steigt die Körpertemperatur dabei um mehr als ein Grad an, kann es zu Erschöpfung und Stress kommen. Auch Funktionsstörungen von Muskel- und Nervenzellen wurden beobachtet.
Im Tierexperiment treten diese thermischen Effekte typischerweise auf, wenn pro Kilogramm Körpergewicht eine Strahlungsleistung von 4 Watt oder mehr absorbiert wird. Die International Commission on Non-Ionizing Radiation Protection (ICNIRP), eine mit der Weltgesundheitsorganisation (WHO) in Genf zusammenarbeitende Expertenkommission, empfiehlt für die allgemeine Bevölkerung eine über den ganzen Körper gemittelte Absorptionsrate von maximal 0,08 Watt/kg. Dieser Grenzwert liegt damit um einen Faktor 50 unter dem als bedenklich geltenden Wert. Da die Absorptionsrate selbst nur schwer zu messen ist, ist es üblich, aus diesem «Basisgrenzwert» Referenzwerte für das elektromagnetische Feld einer Mobilfunkantenne abzuleiten. Liegen die elektrische und die magnetische Feldstärke unterhalb dieser (frequenzabhängigen) Referenzwerte, ist automatisch gewährleistet, dass auch der Basisgrenzwert eingehalten wird.
Uneinig ist man sich heute, ob es neben der thermischen Wirkung der hochfrequenten Felder noch andere Effekte gibt, die möglicherweise gesundheitsschädigend sind. So klagen manche Anwohner von Mobilfunkantennen über Schlaf- und Konzentrationsstörungen, Müdigkeit, Kopfschmerzen oder Hautausschläge. Da diese Symptome oftmals bei Feldstärken auftreten, die weit unterhalb der Grenzwerte liegen, spricht man auch von einer elektromagnetischen Hypersensitivität. Ob es sich dabei um ein objektivierbares Phänomen handelt oder ob psychologische Aspekte eine ausschlaggebende Rolle spielen, konnte bis heute noch nicht geklärt werden.
Nicht-thermische Effekte werden oftmals mit der speziellen Pulsform der im digitalen Mobilfunk verwendeten Signale in Zusammenhang gebracht. Durch eine Amplitudenmodulation der hochfrequenten Trägerwelle werden dieser nämlich auch niederfrequente Anteile beigemischt. Diese niederfrequenten Anteile könnten biologische Effekte hervorrufen, auch wenn die vom Körper absorbierte Leistung gering ist. Auf der Suche nach solchen Effekten ist man beispielsweise der Frage nachgegangen, ob die im Mobilfunk benutzte Strahlung die Teilungsrate von Zellen beeinflussen kann. An gentechnisch veränderten Mäusen wurde untersucht, ob die elektromagnetische Strahlung von Mobilfunkanlagen zu einem gehäuften Auftreten von Gehirntumoren führt. Auch der Einfluss der Strahlung auf das menschliche Erinnerungs- und Reaktionsvermögen war Gegenstand von Untersuchungen.
Die Ergebnisse dieser Studien sind alles andere als eindeutig. Mal widersprechen sich die Resultate, mal sind die Studien so schlecht konzipiert, dass nicht einmal Vergleiche möglich sind. Und dort, wo es tatsächlich Hinweise auf nicht-thermische Effekte gibt, sind diese entweder nicht signifikant oder nicht reproduzierbar (siehe untenstehenden Artikel). Die ICNIRP kam deshalb im letzten Jahr zu folgendem Schluss: «Die Literatur über nicht-thermische Effekte von amplituden- modulierten elektromagnetischen Feldern ist so komplex, die Gültigkeit der dokumentierten Effekte so fragwürdig und die Relevanz der Effekte für die menschliche Gesundheit so unsicher, dass es unmöglich ist, diese Informationen als Basis für die Festlegung von Grenzwerten für die Feldexposition des Menschen zu benutzen.»
Solange man allfällige Risiken weder ausschliessen noch quantifizieren kann, steht der Gesetzgeber vor einer heiklen Aufgabe. Wie soll er sich in einer Situation verhalten, in der es zwar begründete Verdachtsmomente, aber keinen definitiven Nachweis einer schädigenden Wirkung von schwachen elektromagnetischen Feldern gibt? In der NISV wird ein Kompromiss-Vorschlag unterbreitet. Der Standort für neue Sendeanlagen ist so zu wählen, dass in einem sogenannten Freihaltebereich rund um den Sender möglichst keine Wohnräume, Schulen oder sonstigen «Orte mit empfindlicher Nutzung» liegen. Die Berechnung dieses Bereichs basiert auf Werten für die elektrische und die magnetische Feldstärke, die zehnmal kleiner sind als die von der ICNIRP empfohlenen Grenzwerte. Konkret bedeutet das, dass eine mit 900 MHz sendende GSM-Basisstation etwa 25 Meter von der nächsten Behausung entfernt sein sollte.
Der Faktor 10 kann wissenschaftlich nicht begründet werden. Vielmehr soll er dem im Schweizer Umweltschutzgesetz verankerten Vorsorgeprinzip Rechnung tragen. Dass dieser Faktor Widerspruch hervorrufen würde, war vorauszusehen. So fordert die Schweizerische Vereinigung der Telekommunikation in einer Stellungnahme zum Verordnungsentwurf, die international empfohlenen Grenzwerte ohne Verschärfung zu übernehmen. Anderenfalls werde der Eindruck erweckt, diese Grenzwerte böten keinen ausreichenden Schutz. Der in Zürich ansässigen Schweizerischen Arbeitsgemeinschaft Biologische Elektrotechnik hingegen gehen die Vorsorgemassnahmen nicht weit genug. Auch der zusätzlich eingebaute Faktor könne das Wohlbefinden von elektrosensitiven Menschen nicht garantieren.
Ausser acht gelassen wird in der derzeitigen Diskussion, dass der Mensch durch das Handy einer stärkeren Strahlung ausgesetzt ist als durch einen in der Nachbarschaft stehenden Sender. Zwar strahlt das Handy eine geringere Leistung ab als eine Sendeantenne, dafür befindet es sich aber direkt am Kopf. Die über den ganzen Körper gemittelte Absorptionsrate ist ein schlechtes Mass, diese Exposition zu erfassen. Vielmehr sind die im Nahfeld der Antenne auftretenden lokalen Spitzenwerte ausschlaggebend. Man ermittelt sie, indem man die absorbierte Leistung über kleine Gewebevolumen von 10 Gramm mittelt. Die ICNIRP empfiehlt, dass die lokale Absorptionsrate nirgendwo im Körper 2 Watt/kg überschreiten sollte. Auch dieser Grenzwert berücksichtigt jedoch ausschliesslich thermische Effekte.
Die meisten der heute gebräuchlichen Handys genügen dieser Anforderung. Ein am Institut für Feldtheorie und Höchstfrequenztechnik der ETH Zürich durchgeführter Vergleich von 18 verschiedenen Gerätetypen hat allerdings erhebliche Unterschiede zutage gefördert. Während die Exposition durch die besseren Geräte rund zehnmal geringer war als empfohlen, blieben andere Geräte nur knapp unterhalb des Grenzwertes. Eine Typenprüfung ist derzeit in Europa noch nicht obligatorisch. Es wird jedoch an einem standardisierten Messverfahren gearbeitet.
Wenn sich die Diskussion in der Schweiz derzeit dennoch in erster Linie um die Sendeanlagen dreht, so liegen die Gründe auf der Hand. Wie man mit dem Handy umgeht, bleibt jedem selbst überlassen. Die Basisstationen strahlen jedoch Tag und Nacht, ohne dass man darauf Einfluss nehmen könnte. Und auch der psychologische Aspekt ist nicht zu unterschätzen: Ein Sendemast in Sichtweite der eigenen Wohnung wirkt um einiges bedrohlicher als das kleine Handy mit seiner geschickt verpackten Technik.
Quelle: Neue Zürcher Zeitung, 2. Juni 1999