INT. SOMMERKURS DER PHILIPPS-UNIVERSITÄT 1993 * LITERATUR UND MEDIEN Kurs 6: Dr. Wolfgang Näser Text 10b: MOSKITO - Das Schülermagazin im Ersten Von Detlev REINERT (in: DAS ERSTE 6/92, 36 f.) 1 "Haste schon gehört", flüstert Rolle, der mit der Tolle, "Karl steckt mitten in der Pubertät". Darauf Depechi, der mit dem frühherbstlichen Stoppelfeld auf dem Kopf: "Ach, du mein Schreck, hoffentlich kommt er da wieder raus." 5 Mit diesem kurzen Kalauerdialog der beiden Zeichentrickfiguren Rolli und Depechi beginnt jede Folge der 1987 gestarteten Sendereihe "Moski- to - nichts sticht besser". Das Jugendmagazin des Senders Freies Ber- lin, das jährlich zwölfmal sonntags ausgestrahlt wird, bohrt sich im Juni schon zum 50. Mal in leichte und schwierige Themen - und schlüpft 10 dabei als Ober-Plagegeist noch immer frech durch die Netze pädagogi- scher TV-Unterhaltung. In der Jubiläumssendung am 14. Juni [1992] um 14 Uhr 15 im Ersten wid- men sich die "Moskito"-Macher ausnahmsweise sich selbst. Die Zuschauer können einen Blick hinter die Kulissen werfen und erfahren, wie die 15 Sendung mit dem Insekt auf Touren kommt. In Rückblicken sind zudem die Highlights der Reihe noch einmal zu sehen. Kein Thema ist tabu: ob Pubertät oder Politik, Liebesleid oder Lesen, Kunst oder Klauen - in jeder Episode werden Reizstoffe aus dem Teen- ager-Alltag 45 Minuten lang in Sketchen, Dokumentarfilmen, Cartoons 20 und Videoclips durchgespielt. Dabei entfaltet "Moskito" mit seinen schnellen Schnitten einen scheinbaren Wirrwarr aus journalistischen und ästhetischen Formen, gerät allerdings nie in den zeitgeistigen Beliebigkeitstaumel üblicher Potpourri-Magazine. "Moskito" sucht den Sinn über die Sinne. Der erzieherische Kommentar 25 hat hier deshalb weder Geste noch Wort, die tantenhafte Zwischenmode- ration entfällt. Der mahnende Zeigefinger und die vermeintlich beleh- rende Erklärung haben sich in der Kunst der raffinierten Montage wir- kungsvoll versteckt. "Wir wollen Jugendliche zu Wort kommen lassen, ohne daß wir mit unserer redaktionellen Meinung hinterm Berg halten", 30 beschreiben die beiden "Moskito"-Redakteurinnen Meyen WACHHOLZ und Juliane ROSSIUS ihr Collagerezept. Der Erfolg gibt ihnen recht: sechs internationale Auszeichnungen heim- ste "Moskito" bislang ein, zuletzt die Goldmedaille beim TV- und Film- Festival 1991 in New York für die Sendung [=den Beitrag] "Geschäft mit 35 der Sexualität". Schon beim "Prix Jeunesse 1988" in München würdigte die Jury den Beitrag "Erste Liebe" und lobte vor allem "den geglück- ten Versuch, ein normalerweise weder an Fernsehen noch an sozialen Themen interessiertes Publikum zu erreichen, indem man seinen Bedürf- nissen nach Rhythmus und Abwechslung entgegenkommt". 40 Die Zielgruppe spielt jedenfalls nach wie vor mit - auch wenn sie in die Jahre gekommen ist. Denn die ursprüngliche Idee - 1986 von Redak- teurin Frauke KLINKERS gemeinsam mit Meyen Wachholz entwickelt - war ein Programm für die "Lücke-Kinder von zehn bis 14 Jahren" (Wachholz). Für jene Fernsehzuschauer mithin, die für den Kindergarten schon zu 45 alt, aber für die Discothek und die Kneipe noch zu jung sind, also mitten in der Pubertät nur auf sich selbst gestellt sind. "Kindersendungen gab es von ARD und ZDF nur für Kinder bis zehn Jah- ren", erinnert sich Meyen Wachholz, "Jugendprogramme setzten frühe- stens bei den 16jährigen ein." Fest entschlossen, diese Kluft zu über- 50 winden, erfanden die SFB-Frauen ein Magazin, in dem, so Wachholz, "Schüler beschreiben können, wie sie in diesem Alter leben, was sie stört, was sie mögen, wovon sie träumen, worüber sie sich aufregen: Schule, Freundschaft, erste Liebe, Eitelkeiten und Hemmungen. Aber wir wollten auch zeigen, daß Pubertät durchaus von der komischen Seite ge- 55 sehen werden kann, Sketche, Musikfilme und Cartoons sollten zum Lachen verführen. Sie sind roter Faden und Ventil zugleich. Der kleine Kreis der "Moskito"-Initiatoren wuchs bald zu einem großen Mitarbeiterschwarm heran - mit großer Außenwirkung. Das rotzige Pop- Duo "Die Ärzte" beispielsweise, mit drei Schallplatten auf dem Index 60 als jugendgefährdend eingestuft und öffentlich-rechtlich weitgehend boykottiert, schrieb eigens für "Moskito" neue Songs. Furore machte hier der Petting-Schlager der Berliner Combo "Sie tun es", dessen erste Strophe lautet: "Uwe hat sie gleich bemerkt / die Beulen unter Gabis Hemd / plötzlich wird ihm kalt und heiß / ein Gefühl so neu und 65 fremd." Nach der Ausstrahlung, sagt die frühere Lehrerin Meyen Wach- holz, gestanden Kollegen anerkennend: "Das hätten wir uns nicht ge- traut." Die Songs dienen als Vorlage für die von Dieter KÖSTER inszenierten kurzen Musikfilme, in denen - "mit einer gewissen Hemmungslosigkeit 70 im Umgang mit den Stilmitteln" (Köster) - kleine Geschichten erzählt werden. "Wir operieren mit geschmacklosen Bildern, unverkrampft, so, wie die Musikproduktion das Elend im Kopf vorgibt", erklärt Dieter Köster, "aber mit einem Augenzwinkern, das einen eher sorglosen Aus- gang signalisiert." 75 Mitarbeit kam schnell auch von anderer Seite, denn endlich war wieder mal eine Jugendsendung Vorreiter einer neuen Fernsehästhetik. Walter MOERS erfand die Comic-Schwestern "Pinkie und Yellow", und Trickfilmer Michael SCHAAK ("Werner, beinhart") dreht die Cartoons mit "Depechi und Rolle". Die vielfältigen Launen [von] Berliner Balgen nutzt dem- 80 gegenüber Regisseur Jürgen NOLA, um Sketche für Kinder und mit Kindern zu inszenieren. An dieser bewährten Mischung aus Spaß und Ernst hat sich wenig geän- dert, auch wenn seit Anfang 1990 die Zielgruppe nach oben, auf die Zwölf- bis 18jährigen, korrigiert wurde. Dieser Schritt ermöglichte 85 dem Team, sein Themenspektrum zu erweitern. Zum Beispiel: "Politik". Was ist Politik? Wollte "Moskito" im Sommer 1991 wissen. "Reden, re- den, reden...", "der Versuch, das Zusammenleben der Menschen zu re- geln" und "ein Gewitter von oben". Eine Frage und drei spontane Ant- worten von Schülern. Ein typischer Einstieg in "Moskito": einfach und 90 direkt. Was aber bedeutet Politik? Eigentlich nichts, sie spiele keine Rolle im privaten Leben, finde nur im Parlament, nicht auf der Straße statt, sagen weitere Schüler in die Kamera. Politik? Nein danke, "die bringt's nicht". Man kennt diese Art der halbdokumentarischen Befra- gung und befürchtet dahinter das erzieherische Sendungsbewußtsein der 95 70er Jahre: schaut sie euch gut an, diese Jugend mit null Bock auf nichts, die kaum noch einen geraden Satz zusammenbringt. Aber falsch, ganz falsch - wieder einmal. Schnell nimmt "Moskito" die Wende zum frechen Magazin mit selbstironischem Unterhaltungswert. Ein Knilch liest am Rednerpult des Berliner Rathauses den zeitunglesenden 100 und strickenden Abgeordneten die Leviten. Schnitt. Helmut KOHL singt als goldkettenbehangene Discjockey-Puppe im Joggingdreß-Outfit eine Hymne auf sich selbst. "Oberaffentittengeil", sagt der falsche Latex- Helmut am Schluß des Songs. Schnitt. Wie man denn Bundeskanzler werde, wird anschließend der leibhaftige Kohl in der Sendung gefragt. "Viel 105 arbeiten, jahrzehntelang 15 bis 17 Stunden am Tag und natürlich auch die natürliche Gabe der Gesundheit und starker Nerven", antwortet ernst und streng der wahre Helmut. Es ist dieser steife, ritualisier- te Habitus der Politikersprache, der die Jugendlichen immer wieder abschreckt. 110 "Moskito" indes blieb nicht sprachlos. Ein Jugendlicher entwirft dar- aufhin den Typus des idealen Politikers: locker solle er vor allem sein, ein Lehrer und Sozialarbeiter zugleich. Möglichkeiten politi- schen Engagements abseits der Parteien zeigte "Moskito" in unkommen- tierten Gesprächen mit einem jungen Naturschützer, einem Golfkrieg- 115 Gegner und einem 16jährigen, der schon jetzt seine Totalverweigerung plant. So nahm die Sendung kaum spürbar eine neue Richtung: mit sanf- tem Druck bietet sie kleine Lösungen an, vor allem aber den Mut zur Selbsthilfe. Nach 45 Minuten hat sich so wieder einmal aus vielen kleinen Steinchen 120 ein Mosaik zusammengefügt. Frech und unkonventionell kratzt dieses Schüler- und Jugendmagazin damit auch an der oberflächlichen Bilder- welt üblicher Magazinsendungen. "Moskito" ist mehr als nur ein Teen- ager-Magazin. Es ist auch ein lustvoller und kritischer Stich in die oberflächliche - weil integrationswütige - Medienwelt und deshalb auch 125 für Erwachsene ein verführerisches Gegengift. "Moskito" jedenfalls steckt noch voll in der Pubertät. Und hoffentlich kommt es da nie wieder raus. -------------- Aufgaben: 1. Stellen Sie - und das dürfte hier besonders interessant sein - die WÖRTER und (idiomatischen) WENDUNGEN in Listenform zusammen; beachten Sie dabei bitte besonders die JUGENDSPRACHE. 2. Versuchen Sie, die Intention des Programms kurz in Thesen-Form wiederzu- geben. 3. Gibt es in den Fernsehprogrammen Ihres Landes ein gleiches oder ähnliches Programm? Wenn ja, beschreiben Sie es bitte. 4. Im Text werden einige Beispiele aus "Moskito"-Sendungen angeführt, so der "Petting"-Song der "Ärzte", dann die Parodie auf Bundeskanzler KOHL und das Beispiel eines 16jährigen, der jetzt schon seine "Totalverweigerung" plant, was vom Autor als "kleine Lösung" im Sinne von "Mut zur Selbsthilfe" inter- pretiert wird. Totalverweigerung bedeutet, daß ein junger Mann weder Mili- tär- noch Sozialdienst leisten, also auch nicht z.B. in einem Krankenhaus oder Altersheim ein "soziales Jahr" ableisten will. Was halten Sie davon? Um in Extremen zu sprechen: meinen Sie, daß eine solche Sendung eher "Aus- steiger-Mentalität" vermitteln oder, wie zum Beispiel früher das DDR-Fern- sehen, "moralisch positive Werte" als mögliche Vorbilder anbieten sollte? Meinen Sie, daß eine ins Lächerliche gezogene "Präsentation" des Bundes- kanzlers und seiner Aufgaben zur "Kritikfähigkeit" anregen könnte? Können Sie sich vorstellen, daß das Regierungsoberhaupt Ihres Landes in einer Ju- gendsendung ebenso behandelt bzw. dargestellt würde? 5. Noch nie in der Geschichte der Kriminalität hat es in den Ländern der "er- sten Welt" so viele jugendliche Sexualstraftäter, das heißt auch Vergewal- tiger, im Alter von 12-16 Jahren gegeben wie heute. Medienkritiker führen das zurück auf die Vermittlung einer primitiv-mechanistischen, aggressiven Sexualität in Zeitschriften und Medienprogrammen mit Jugendlichen als Ziel- gruppe. Nach konservativer Auffassung sind Menschen in der Pubertät charakterlich noch "unfertig", die Persönlichkeit ist noch nicht völlig "ausgeformt". Daher müsse man, so sagen diese Pädagogen, die pubertären Jugendlichen in dieser Übergangszeit körperlich und geistig sinnvoll auslasten und sie daneben behutsam an die Sexualität heranführen, diese als Teil einer ganz- heitlichen und auf Treue hin ausgerichteten Liebe verständlich machen. Geht "Moskito" einen anderen Weg? Was meinen Sie zu dem "fortschrittlichen" Konzept, nach dem Jugendliche sich "sexuell ausleben" und, wenn sie frustriert sind, "Dampf ablassen" [= sich abreagieren] sollen? Meinen Sie, daß es keinen Sinn (mehr) hat, Wut in positive Richtungen hin zu "kanalisieren" (vgl. HESSE-Text) und nicht umsetzbare Sexualität zu "sublimieren"? 6. Wie würden S i e eine Jugendsendung machen? Welche Schwerpunkte würden Sie setzen? (c) WN 20061993