Wörter und Wendungen, SS 1997, Dr. Wolfgang Näser, Di 16-18 h, HS 207 Biegenstr. 14

hier: Creative writing

Paul O'MAHONY schreibt am 22.6.97 zu Matthias ALTENBURGs Text "Kennen Sie Marburg" in einem ebenso klug abwägenden wie gut strukturierten Kurz-Essay:

Zwei Wochen nach der Tat sorgt Matthias Altenburgs "Kennen Sie Marburg" immer noch für große Aufregung. Die Beweisstücke türmen sich auf, aber noch herrscht allgemeine Unentschlossenheit. Die Gegner werfen dem Bühnenautor vor, die alte Universitätsstadt und ihre Bewohner beleidigt zu haben. Die Befürworter ihrerseits argumentieren, die Wahrheit liege hinter den vielen Klischees. Hat Altenburg einen Grund, sich wer weiß wie großartig zu fühlen, oder sollte er sich vielleicht überlegen, ob er nicht lieber eine Mitfahrgelegenheit zum Rhein-Main-Flughafen findet?

Die erste öffentliche Äußerung zu diesem kitzligen Thema befindet sich im Marburger Magazin Express (20.6.). Ein "alarmierter" Michael Arlt steht fest auf der gegnerischen Seite. In seinem sarkastischen Gegenzug schreibt er, daß er seit dem Erscheinen des Artikels Maßnahmen ergriffen habe, sich vor der "Marburger Typischkeit" zu schützen. Er steht nicht allein. Zu der Frage, ob sie den Artikel zufällig gelesen habe, reagierte eine Freundin von mir, als hätte ich vom Weltuntergang gesprochen. ich ließ das Thema fallen, da ihre Augen rot und ihre Zähne lang wurden. Sie ist Rollstuhlfahrerin, und der zweifelhafte Witz über Kommunisten, Juden, Rollstuhlfahrer und Schwule ist mir erst später aufgefallen.

Einige Stunden später saß ich in meinem Zimmer mit drei Leuten aus der WG. Noch später sollte eine Fete bei uns stattfinden und die Bude duftete schon nach leckerem Essen. Die Sache vorhin hatte in mir eine gewisse Neugier erweckt, und ich fragte nochmal wegen des Artikels. Kaum hatte ich die Worte ausgespuckt, als ich beinahe von einer Welle der Begeisterung überfallen wurde. Nie zuvor waren meine Mitbewohner so einig, wenigstens nicht seit dem Tag, als das Rausnehmen der Biotonne nicht zu blutigen Nasen führte. Wie der Zufall es wollte, gab es einen mir unbekannten Typen bei der Party, der unbedingt ein Tütchen mit uns rauchen wollte. Ihm hat der Artikel auch gefallen und er stammelte eine Zeitlang vom Zeitgeist. Wir haben ihn nicht verstanden.

Die Beleidigungen sind so offensichtlich, die Verallgemeinerungen so gemein, die Stadtbeschreibungen so unverschämt und die Selbstsucht so übertrieben, daß ich den Artikel richtig witzig fand. Vom Stil her entspricht der Artikel eher einem literarischen Werk als einem mit Tatsachen beladenen Reisebericht. Daher darf er seine fiktive oder wirkliche Meinung ausdrücken, genau so wie er es will. Zum Teil finde ich den Artikel sogar treffend. Ich habe den Eindruck, jeden Tag alte Männer mit Aldi-Tüten gesehen zu haben. Daß einer von ihnen ein "richtiger" Kommunist ist, war mir neu. Von Japanern, Amerikanern, Studenten (insbesondere Biologiestudenten), Fußgängerzonen und Kirchen gibt es schließlich eine ganze Menge. Und sogar einen Fluß. Den gab es nämlich auch, "als das Reden noch geholfen hat". Zum Schluß hat Altenburg die Absicht, Marburg in Ruhe zu lassen. Das sollten wir ihn auch.

[WN 010797]