Dr. Wolfgang Näser: Wörter und Wendungen in der deutschen Zeitungssprache * SS 2000

Führung durch das Druckhaus der Oberhessischen Presse, Frauenbergstraße, Marburg

Am 23.5.2000 besuchte ich mit rund 20 Teilnehmer/innen meiner Übung Marburgs älteste Tageszeitung; Karl-Werner Fischer, seines Zeichens Rentner und ehemaliger Mitarbeiter der OP-Anzeigenabteilung, erzählte uns, wie eine Zeitung entsteht, welchen Stellenwert sie in unserer "Lese-Gesellschaft" einnimmt und welche Grundsätze und Verfahren bei der redaktionellen Arbeit zu beachten sind.

Die Mitte des 19. Jahrhunderts von J. A. Koch gegründete und von 3 Generationen der Akademikerfamilie Hitzeroth fortgeführte Zeitung erscheint an 6 Wochentagen in einer Auflage von etwa 34.000 Exemplaren, die, übereinandergeschichtet, die doppelte Höhe der Elisabethkirche erreichen. Geht man davon aus, daß eine Tageszeitung von jeweils mehreren Personen gelesen wird, so erreicht die OP rund 200.000 Menschen im Landkreis und darüber hinaus.

Die 1997 angeschaffte und montierte Offset-Rotationspresse mit ihren riesigen, je 1,3 Tonnen schweren Papierrollen hat die grafische Qualität wesentlich verbessert. Zusammen mit der OP-Tagesausgabe werden auch Beilagen gedruckt, die mit fünf speziellen Maschinen automatisch eingelegt werden.

Ihre Informationen erhält die OP u.a. aus den "Tickern" (den Fernschreibern) der Nachrichtenagenturen (DPA, AP, Reuters usw.), wichtige Fotos kommen per Bildfunk herein, bisweilen wird auch das Internet befragt; regionale und lokale Ereignisse werden auch von der Polizei, Krankenhäusern, der Philipps-Universität und anderen Institutionen mitgeteilt.

Die OP beschäftigt 30 hauptamtliche Redakteure und mehrere hundert freie Mitarbeiter. Redaktionsschluß ist jeweils gegen 23 Uhr, wenig später werden alle 34.000 Exemplare in nur rund 75 Minuten gedruckt. Die versandfertigen Zeitungsbündel werden von Fremdfirmen ausgeliefert: das ist rationeller als mit dem früheren OP-eigenen Fuhrpark. Von zentralen Punkten aus bringen viele hundert Verteiler die OP zu jedem Kunden, bis ins kleinste Dorf, und bewältigen dabei eine tägliche Strecke von Marburg bis Paris und zurück.

Was die überaus wichtige Seite 1 betrifft (sozusagen das Gesicht einer Tageszeitung), so wechselte die OP 1994 zu einem ureigenen Konzept: Meldungen aus der Region stehen hier neben wichtigen Nachrichten aus Deutschland und der Welt; damit, so Herr Fischer, wolle die OP dokumentieren, wie wichtig ihr die eigene Region und damit die Sorgen und Interessen ihrer Leser seien. Für dieses Seite-1-Konzept sei die OP mit dem Konrad-Adenauer-Preis belohnt worden. Jeweils am frühen Nachmittag entscheidet die Seite-1-Konferenz darüber, mit welchen wichtigen Nachrichten und Meldungen die OP eröffnet und damit das Erstinteresse der Leser auf sich zieht. Die Seite-1-Meldungen sind häufig nur der Anfang von Artikeln, die im Inneren der Zeitung fortgesetzt werden. Dieses im Grunde sehr kluge Konzept bringt den Leser dazu, die Zeitung aufzuschlagen und sie nicht schon nach der Erstseite wegzulegen (viele Internetausgaben von Tageszeitungen gehen ähnlich vor).

Wie andere Tageszeitungen besteht die OP aus "Büchern": sie beherbergen die jeweils auf mehreren Seiten zusammengefaßten Themenbereiche bzw. Ressorts wie Politik, Regionales, Feuilleton, Sport. Je nach Wochentagen und Ereignissen können diese Bücher verschieden umfangreich sein, so muß bzw. kann der Sport-Chefredakteur am Montag die geballte Ladung von Ereignissen des Wochenendes auf nicht weniger als rund 20 Seiten unterbringen, während an anderen Tagen hier nicht so viel zu berichten ist. An jedem Freitag enthält die OP den sogenannten PAP-Markt, "Privat an Privat", wo in hunderten von Kleinanzeigen alles Mögliche verkauft und gesucht wird. Die PAP-Seiten erscheinen nebenbei auch in anderen Tageszeitungen der Region und erreichen so eine neun- oder zehnmal höhere Auflage. Auf diese Weise hat jeder PAP-Inserent einen wesentlich größeren Wirkungsbereich und damit größere Chancen.

Die OP hat eigene Publikationsgrundsätze erarbeitet und realisiert als überparteiliches und unabhängiges Presseorgan die grundgesetzlich garantierte Meinungs- und Informationsfreiheit. "Eine Zensur findet nicht statt". Auch als Werbeträger genießt die OP eine gewisse Unabhängigkeit; so könnten ihr, wie Experte Fischer ausführt, auch potente Großinserenten nicht vorschreiben, im Verbund mit entsprechenden Aufträgen etwa über firmeneigene "Jubiläen" zu berichten.

Die OP bemüht sich, den Wünschen und Interessen ihrer Leser möglichst gut und umfangreich entgegenzukommen; das zeigt auch die im ehemaligen Stammhaus neben dem Oberstadt-Brunnen eingerichtete Leser-Redaktion, wo ein direktes Feedback stattfinden kann. Zahlreiche freie Mitarbeiter sind Zeugen wichtiger regionaler Ereignisse und berichten darüber in Wort und Bild; daß dies nicht immer in wünschenswerter Ausführlichkeit geschieht, liegt an dem jeweils begrenzten Publikationsplatz. Es ist zudem nicht einfach, eine auf sechs Spalten mit vielen Informationen und ggf. Fotos bzw. Grafiken angefüllte Seite paßgerecht zu "umbrechen", d.h. für den Druck einzurichten; außerdem haben auch die Korrektoren ein Wörtchen mitzureden, sofern nicht schon automatische Korrekturen in der PC- gestützten Textverarbeitung vorgenommen wurden.

Wenn die frische OP morgens um Sieben auf dem Frühstückstisch liegt und dann - das wurde ermittelt - durchschnittlich 37 Minuten lang gelesen wird, so ist wohl den wenigsten bewußt, welch großer Aufwand und welch fleißige Arbeit sich hinter all den Seiten und Artikeln verbirgt. Unsere tägliche Zeitung: möge ihr eine gute Zukunft beschert sein, zu unser aller Nutzen.

Wird ggf. (durch Berichte und Meinungen meiner Übungsteilnehmer) ergänzt.
(c) Dr. Wolfgang Näser, Marburg, 24.5.2000