Textsorte Besinnungsaufsatz, Beispiel 2:

Welchen Wert hat das Photographieren?
(geschrieben am 2. März 1960)

VORBEMERKUNG: Der Text entstand in meiner Zeit als Schüler der Untersekunda b an der Christian-Rauch-Schule Arolsen unter dem Deutschlehrer Leo Müller, dessen etwas zur Hölzernheit neigende Stil-Vorstellung hier deutlich durchscheint. Fünfzehn Jahre nach Ende des Krieges hatte Deutschland seine Weltgeltung in der Fotografie zurückerlangt: Firmen wie Agfa, Braun, Leitz, Liesegang, Robot, Rollei, Schneider, Voigtländer, Zeiss glänzten mit optisch und feinmechanisch erstklassigen Produkten. Jenseits vom späteren Multimediarummel mußten wir uns mit konventionellen Hobbies bescheiden, darunter das uns auch und gerade in der Schule als äußerst kreativ vermittelte Fotografieren. Wer eine bescheidene Kleinbildkamera mit einem vollsynchronisierten Verschluß wie dem legendären Prontor-SVS besaß, konnte sich schon glücklich schätzen; semiprofessionelle Geräte wie die zweiäugige Rolleiflex waren den wirklich Wohlhabenden vorbehalten. Manche hatten sogar nur eine einfache "Box", das war ein etwas unhandlicher, klobiger schwarzer Kasten mit Fixfocus-Objektiv und fast keinen Einstellmöglichkeiten für Blende und Belichtungszeit, und es war eine Kunst, auch hiermit eindrucksvolle Bilder zu erzielen.

Unser Wissen bezogen wir teils aus der Praxis, teils aus Produktinformationen und Zeitschriften. Wir fotografierten in Schwarz-Weiß, aus Kostengründen nur selten in Farbe. Wir mußten sparen: es gab nur wenig Taschengeld und viele, so auch ich, verdienten sich etwas hinzu, meist durch Nachhilfestunden, was auch dem schulischen Fortschritt zugutekam.

Rückschauend läßt sich feststellen, daß uns damals nichts fehlte und daß sich aus der Bescheidenheit und Beschränkung heraus oft mehr gewinnen läßt als aus einem Überfluß, der zu wahl- und ziellosem Handeln führt. Ein wenig aus dem vergleichsweise behüteten und glücklichen damaligen Schüler-Bewußtsein möge mein fast 47 Jahre alter, kurzer Text vermitteln, in all seiner manchmal etwas ungelenken Einfachheit. W. Näser, 19.1.2007

Gliederung:

A. Photographieren als Freizeitbeschäftigung
B. Wert des Photographierens für:
     I. die Erinnerung an schöne Erlebnisse
    II. das Sammeln wertvoller und seltener Aufnahmen
        1. Seltenheiten (alte Gebäude, Gegenstände, Kunstgegenstände)
        2. Wissenschaftliche Aufnahmen (Makro- und Mikroaufnahmen,
             Aufnahmen aus der Technik, der Biologie usw.)
   III. die Bereicherung des Wissens auf dem Gebiete der Optik
    IV. die Verbesserung des persönlichen Geschmacks
C. Zusammenfassung: Vor- und Nachteile

Ausführung:

A. Wenn man bei der deutschen Jugend eine Umfrage über das Photographieren als Freizeitbeschäftigung veranstaltete, würde man sehen, daß über die Hälfte aller Mädchen und Jungen in ihrer Freizeit photographische Aufnahmen machen. der eine opfert viele, der andere wenige Stunden für dieses Steckenpferd. Nicht jeder besitzt eine teure Kamera für mehrere hundert Mark mit reichhaltigem Zubehör; sehr viele photographieren nur mit einer Box oder einer einfachen Kamera. Ob teure oder billige Geräte - das Photographieren hat einen Wert, wenn man es richtig betreibt. Im folgenden will ich versuchen, den Wert des Photographierens herauszustellen.

B I. Oft zeigten mir meine Eltern ihr Photoalbum mit wertvollen Aufnahmen. Ich konnte sehen, wohin sie gereist waren, welche schönen Erlebnisse sie gehabt hatten, wen sie auf ihren Reisen kennengelernt hatten und vieles mehr. Es ist gut, möglichst oft seinen Photoapparat bei sich zu haben; so manches schöne Erlebnis kann man im Bild festhalten. In seinen Anfängen war das Photographieren noch eine Last: zentnerschwere Ausrüstungen mußten auf Reisen mitgeschleppt werden, aber heute ist die leichte, handliche Kamera überall der treue, ständige Begleiter der reiselustigen Jugend. Man möchte doch gern später einmal seinen Kindern zeigen, welche schönen Erlebnisse man gehabt und wen man kennengelernt hat. Eine gute Aufnahme ist immer eine bleibende Erinnerung und von unschätzbarem Wert.

II.1. Nicht nur schöne Erlebnisse kann man mit der Kamera festhalten, sondern auch wertvolle Dinge. Ich denke da in erster Linie an alte Gebäude, alte Gegenstände und Kunstgegenstände. Nicht oft kommt man in eine alte Stadt und kann dort die Reste mittelalterlichen Lebens bewundern; in einem Museum hat man reiche Gelegenheit, wertvolle Dinge aufzunehmen, wenn es nicht zufällig verboten ist; Denkmäler, Statuen, Plastiken, Reliefs bieten lohnende Objekte für den kunstgeschichtlich Interessierten.

2. Wissenschaftliche Aufnahmen können mich bei der Arbeit für die Schule unterstützen und mein Wissen bereichern. In der Physik kann ich schwierige Versuchsanordnungen, komplizierte Geräte und vieles anderes aufnehmen, ich kann Mikroaufnahmen machen, d.h. den Photoapparat durch ein Zwischenstück mit dem Mikroskop verbinden und so zum Beispiel das Leben im Wasser, Bakterien, Stoffasern, die Spitze eines Mikrosaphirs (Plattenspielernadel) aufnehmen; mit einfachen Hilfsmitteln kann man eine Kamera an ein gutes Fernrohr anschließen und einzelne Sterne oder ganze Sternsysteme, z.B. Spiralnebel, photographieren.
Auf dem Gebiete der Biologie kann ich seltene Pflanzen, vergrößerte Pflanzenteile, im zoologischen Garten seltsame Tiere oder das Leben in einem Wald aufnehmen. Auf dem Gebiete der Wissenschaft hat sich der Wert des Photographierens bisher am klarsten erwiesen.

3. Durch das Photographieren wird mein Wissen in optischer Hinsicht ausgezeichnet erweitert. Gründlich dringt man in die Geheimnisse und Zusammenhänge der Optik ein, begreift manches, was in der Schule nicht gründlich genug behandelt wurde, und gewinnt dadurch große Kenntnisse. Man lernt, wie man Filme entwickelt, kopiert, Bilder abzieht, Aufnahmen vergrößert, wie man mit wenigen kleinen Hilfsmitteln gute Aufnahmen machen kann und vieles mehr. Besitzt man ein teures Gerät, so kann man sich im Einstellen der Belichtungszeit, der Blende, der Entfernung und des Lichtwertes üben, bis man es zu einem perfekten Photographen gebracht hat. Nie kann man alle Zusammenhänge und Probleme der Optik besser verstehen, als wenn man photographiert.

4. Nicht nur mein Wissen in optischer Hinsicht wird durch das Photographieren verbessert, sondern auch mein persönlicher Geschmack. Dadurch, daß ich gute Aufnahmen mache, lerne ich, eine Sache geschickt anzufassen. Während meiner Freizeitbeschäftigung lerne ich, wie man Photoaufnahmen am besten arrangiert, welchen Abstand man vom Objekt nimmt; ich lerne, geschmackvolle Landschaftsaufnahmen zu machen und zum Beispiel Blumen wirkungsvoll zu photographieren. Je besser und geschickter ich meine Aufnahmen mache, desto besser wird auch mein persönlicher Geschmack.

C. Zum Schluß wollen wir einmal die Vor- und Nachteile des Photographierens betrachten und mit den letzteren beginnen. Eine gute Kamera ist sehr teuer in der Anschaffung, außerdem benötigt man zum richtigen Photographieren ein reichhaltiges Zubehör: verschiedene Filter, Vorsatzlinsen; das Entwickeln und Vergrößern eines Films kostet viel Geld. Wenn man auf Reisen ist und seine Kamera bei sich hat, muß man immer auf das wertvolle Gerät aufpassen und es vorsichtig behandeln. Aber alle diese Dinge können die Vorteile des Photographierens nicht aufwiegen: viele schöne Erlebnisse, z.B. Feste, Reisen, kann man im Bild festhalten, man kann sein Wissen in vieler Hinsicht erweitern und seine Geschicktheit und den persönlichen Geschmack verbessern. In diesen Vorteilen liegt der Wert des Photographierens.

Text und HTML: (c) W. Näser, Marburg