Text-Zitat nur zu internen didaktischen Zwecken

Ines Pohl charakterisiert Martin Walser in der HNA v. 4.6.2k2 wie folgt:

"Berechenbar ist an Martin Walser einzig die Lust an der Provokation. Unvorhersehbar das, was er als nächstes wieder schreiben oder sagen wird. Vereinnahmen lässt er sich nicht. Dementsprechend sollte sich niemand auf ihn verlassen. Keine Partei und auch sonst keine politische Gruppierung.

Er ist und bleibt ein unabhängiger Kopf. Mit dicken bauschigen Augenbrauen und derzeit leidlich wirrem Haar. "Das Leben ist nur erträglich, wenn man schreibend darauf antwortet", sagt er, tut es fleißig und katapultiert sich damit regelmäßig genau in die Mitte, in das Herz der öffentlichen Aufregung. Kürzlich durch seine Friedenspreisrede in der Frankfurter Paulskirche, als er sagte, dass Ausschwitz sich nicht eigne, zur "Drohroutine zu werden". [...]

Dass ein Kritiker einmal über ihn gesagt hat, "Mehr als die Summe seiner Werke wiegt seine öffentliche Gestalt", hat einen Grund. Martin Walser erweist sich immer wieder als scharfer Beobachter, eine Art Chronist der deutschen Befindlichkeit. Und er bleibt aufregend irritierend, über die Jahre und seine vielen Bestseller hinweg. Einer Einordnung in das gängige und gefällige Rechts-Links-Schema entzieht er sich. Als Wahlkampfhelfer für Willy Brandt, zwischenzeitliches DKP-Mitglied, Gewerkschaftsfreund und Kritiker des amerikanischen Vietnam-Kriegs galt er damals freilich als linkslastig.

Mitte der 80er Jahre aber erntet er mit seinem Bedürfnis nach einer Wiedervereinigung Deutschlands nur Spott und Hohn von seinen linken Genossen. Querdenker und Provokateur aus Leidenschaft eben. Wie kaum ein anderer nahm der Allemanne, der Schriftstellerfürst vom Bodensee, schon fast jedes Feindbild ein, das die Öffentlichkeit bereit hält, von linksradikal bis nationalistisch.

Beide Lager übersehen dabei gerne, dass es in den politischen Äußerungen Walsers eine erstaunliche Kontinuität gibt. Das gilt besonders für seine nach wie vor umstrittene Friedenspreisrede aus dem Jahr 1998. Sie ist voller Selbstzitate, die weit in sein langes Schriftstellerleben zurück reichen. Schon in den siebziger Jahren hat Walser davor gewarnt, Auschwitz zu instrumentalisieren, er hat sich damit beschäftigt, was das Hin- und Wegschauen für die Erinnerung bedeuten.

"Ich bin auch ein Kleinbürger und möchte durch meine Arbeit über meine Klasse das mitzuerschaffen helfen, was ihr so sehr fehlt, das Bewusstsein ihrer historischen Wichtigkeit", hat er, der in einem herrschaftlichen Haus am teuren Bodenseeufer residiert, einmal über sich selbst gesagt. Und Martin Walser spricht für die Volksseele. Und weil er so nah am Quell des bundesdeutschen Wesens säße, spräche "es" manchmal aus ihm heraus. Walser hat bezaubernde, werbende, ja verliebte Texte über sein Heimat, über das Licht, das über dem Bodensee liegt und über den allemannischen Dialekt geschrieben.

Trotz aller bekennende Volksnähe gibt Walser sich bei öffentlichen Auftritten meist knarzig und unnahbar. Oft schaut er missmutig in die Kamera. Die Stirne gerunzelt, die bauschigen Brauen skeptisch zusammengezogen, die Hand am Kinn in kritischer Denker-Pose. Zudem sieht er sich gerne als verfolgte Unschuld. Ganz so, als wäre er kein Dichterfürst, sondern nur ein schlichter Mann vom Bodensee. Der nichts dafür kann, was ihm widerfährt. So zeigt er sich auch jetzt tief betroffen darüber dass er, der doch nur ein kleinbürgerliches Selbstbewusstsein schaffen will, jetzt wieder als Scharfmacher hingestellt wird. Dass er, der anständige Allemanne, als Nationalist bezeichnet wird, obwohl er doch 1963 wochenlang als Zuschauer im Frankfurter Auschwitz-Prozeß saß.

Als Walser, der über Kafka promovierte und einige Jahre beim Süddeutschen Rundfunk als Redakteur arbeitete, zum ersten Mal von sich reden machte, gehörte er zur "Gruppe 47". Auch von daher galt er automatisch als links und fortschrittlich. Eine Zeit lang übersah man, dass er nicht zum Avantgardisten, wohl aber zum Volksschriftsteller taugte. Heute ist er - nach Konsalik - der am meisten gelesene deutsche Schriftsteller.

Und das hat eben damit zu tun, dass er es wie kein anderer versteht, auf der Klaviatur des deutschen Seelenlebens zu spielen. Walsers Romanhelden suchen - häufig am Tatort Bodensee - nach ihrem Selbst-Bewusstsein. Und da entgeht ihm keine Schwäche, keine Lebenslüge, und keine Erbärmlichkeit. Die menschliche Wirklichkeit in all ihrer mitunter grotesken Gebrochenheit, das ist sein Thema.

Da ist Walser vielleicht einmal zuverlässlich. Stets kann sich die deutsche Volkseele so wiederfinden, wie sie sich gerne sieht: großartig und gedemütigt."

Übungen hierzu:

W. Näser, MR, 4.6.2k2