26. Höchstalemannisch

Kennzeichen: volltönende Endvokale (-i, -u) wie im Althochdeutschen; Diphthongierungen (hd. i > ië; u > uo; /ö/ > ië); /ch/ auch vor /e/ = [x]; /n/-Ausfall und Ersatzdehnung (triichu ['tri:xu:] 'trinken'); Sibilarisierung von an- und inlautemdem /s/ (schich 'sich', gschine [stimmhaft!] 'seine')
 Visperterminen/VS: "Im Winter fleigunt die trochunu Bletter in der Luft umanandre"; "Ihr derft nit setige Chinderie tribu"; "Schin Brüöder will schich zwei scheni Hiischer in unsum Gartu buwu."

Während im Bergdorf Bosco Gurin [1] noch die HA-Variante des "Guriner Deutsch" lebendig ist, gibt es offenbar heute in Macugnaga keine Sprecher mehr; der in Probe [2] zu hörende Ing. Augusto Pala war einer der letzten.
Mundarten wie das HA sind so weit von der standardsprachlichen Norm entfernt, daß - analog zum Friesischen - mit Fug und Recht gefragt werden kann, ob hier nicht die Grenze zur Fremdsprache überschritten wird.


Probe 1: Bosco Gurin (Walserdorf im Tessin), besucht in der von Prof. Dr. Max Pfister (=> Univ. des Saarlandes) und Prof. Dr. L.E. Schmitt (+ 1994) geleiteten Exkursion zur deutsch-romanischen Sprachgrenze in der Schweiz und in Oberitalien" (17.-26.9.1973).

O-Töne:
(a) "Tellu, Schallu, Müüschufallu": aus einem Interview von Max Pfister mit Herrn Tobias Tomamichel (20.9.73; s. Foto rechts; Tonaufnahme W. Näser, bearb. 2/2001)
(b) Tobias Tomamichel liest aus seinem Buch eine Geschichte: "D'r Jagustier" (20.9.73, Aufn. W. Näser, bearb. 2/2001)

Aus dem Protokoll zur Exkursion erfahren wir:

Bosco Gurin ist das einzige deutschsprachige Dorf des Tessin. Schon recht früh wurde es von den Pomatern wohl über die Guriner Furka erreicht; von der frühen Besiedelung zeugt die schon im Jahr 1253 eingeweihte Dorfkirche. Durch mehrere schwere Lawinenkatastrophen immer wieder dezimiert (zuletzt 1951), betrug die höchste Einwohnerzahl (Mitte des 19. Jahrhunderts) etwa 400 Seelen. Die wirtschaftlich ungünstige Lage sorgte für steigende Abwanderung: 1970 zählte man nur 128 Personen. Heute sind noch 8 schulpflichtige Kinder am Ort, vor 15 Jahren waren es 50. Bis ins 20. Jhd. hinein bildeten Milchwirtschaft und Viehzucht die ökonomische Grundlage; heute arbeiten die meisten in anderen Berufen außerhalb des Ortes. Auffällig in Gurin sind (erbteilungsbedingt) zahllose kleine und kleinste Wiesenparzellen und Äcker.

Die Bevölkerung besteht aus einem relativ festen Kern von wenigen alteingesessenen Familien. Auf dem um die Kirche gruppierten Walserfriedhof begegnen uns immer wieder Namen wie Janner, Bronz und Tomamichel, aber auch italianisierte wie Della Pietra (dt. Zumstein) und Sartori (dt. Schnider).

Die Guriner Walsermundart hat aufgrund ihrer geographischen Isolation eine Sonderstellung innerhalb der höchstalemannischen Dialekte, so z.B. in der Beibehaltung voller Endvokale (-u, -ä) wie im Spruch an der Dorfkirche: Sunnu oder Räge / Va Gott der Säge. Andere Beispiele sind gäärä 'gern', Hoorä 'Horn', Moorä 'Morgen', auch die archaischen Wörter Muämä 'Tante', Schnurä 'Schwiegertochter', Attu 'Vater'. Anderere Ausprägungen fand sie durch den ständigen unmittelbare Kontakt mit der offiziellen Kantonssprache, dem Italienischen, und zwar in den für Veränderungen anfälligsten Teilbereichen Wortschatz und Syntax, z.B. Är ischt troolut met där Macchinu un hät prochä där aarum 'Er ist gestürzt mit dem Motorrad und hat [sich] den Arm gebrochen' (it. rullare 'schlingern'; macchina 'Motorrad, Auto')

Dadurch, daß das Italienische alleinige Amtssprache des Tessin ist, gab es in Bosco Gurin schon seit jeher Sprachprobleme in Schule und Kirche. Die Bevölkerung legte immer Wert auf einen Pfarrer mit Deutsch als Muttersprache oder doch zumindest guten Deutschkenntnissen; diesem Wunsch wurde von bischöflicher Seite nicht immer entsprochen (nach Rudolf Zimmer 9/73, gekürzt u. bearb.; offizielle Informationen aus Bosco Gurins Website hier).

Probe 2: Macugnaga (östlich des Monte Rosa an der oberitalienischen Grenze zum Schweizer Kanton Wallis); Sprecher: Ing[egnere] Augusto Pala (primär romanophoner 'Macugnero'); Charakteristika: sehr breites, offenes /a/ wie im Italienischen (kchlààr, sààge); /â/ = nasaliertes /a/; in gschine 'seine' und (als Resultat regressiver Assimilation) in disch 'diese' ist das /sch/ stimmhaft. Tonaufnahme: W. Näser 20. Sept. 1973 (Exkursion Pfister/Schmitt); Transkription: W. Näser; Versuch einer (paraphrasierenden) hd. Übertragung: M. Pfister und W. Näser

'S Tuotuzèiche      => Tondatei, Real Audio

Disch' Nacht hett dr Fuchs in iiser Hüüsmattu
Gibilled un geschrèit vor üüs ani gattu.
Ta undrem groß Ääsch chedarme ssu sii,
Wo is der chlen Acher der Viëgassu bii.

Wer hett mer min Gottu erwischet 's bièsch wië,
Is dits gschpassig Ding esmâl äschue gschië.
Doch dirfter petittet's, i will es kchlààr sààge,
Daß uber wier Tage müß I tuote lààge.

Ä suo der siëch Franz en ellende Morge
He g'säd gschine Zuchte um hèd dschis versuorge,
Bim Sehn disem Zéiche der aale mâlt Mââ
Hett schi ani Schtritte noch Hoffnung lang ghââ.

Der Schtee isch derwirselt un gwoakse ist's halt wië.
Bis wèm het schi en ââchats miid Herz me schur gië.

Übertragung:

Heute nacht hat der Fuchs auf unserer Wiese
Viermal (?) gebellt und geschrien,
Da unter der großen Esche [...]
Wo der kleine Acker neben dem Viehpfad liegt.

Als mein Pate die schlimme Krankheit bekam,
Ist diese komische Sache schon einmal passiert.
Doch diesmal bedeutet's, ich will es klar sagen,
Daß innert vier Tagen ich tot sein werde.

Der kranke Franz, an einem traurigen Morgen,
Hat's seinen Kindern gesagt und sich die letzte Ölung geben lassen.
Im Bewußtsein dieses Zeichens hat der alte kranke Mann
Nicht Widerstand noch Hoffnung gehabt.

Die Lungenentzündung hat sich verschlimmert und das Fieber ist gestiegen,
Bis schließlich das Herz stillstand und es geschehen war.

Probe 3: Leo Meyer, Ds Gygi - Ä Zelletu vam Turtmatall (aus: Noble, C.A.M., Modern German Dialects, New York 1983, S. 177. Schreibung von mir an einigen Stellen leicht vereinfacht)

Der aalt Schafhirt z'Turtma, schi sägunt mu mummu ds Hans Josi im Breinbrächi, het schisch menngsmal Bozugschichte gizelt. So loset jetzu, wes he lieb ischt; ich will he eis vam Gygi zellu.

Grad dana vam Gygi uber ischt Plüomatt. Da han i mi as Chind und Stafilggurru vernüüsinot und vertwelt. Jeckos! ds Gysi und di Belznese heint mer gnüog Chlupf gmacht.

Im Gygi, sägunt sch, sygi ämal oi ä Hirt und ä Sännu gsy. Di heigi vam Oberstafil wellu amap robu, aber, schetz i, ds Jäärbbrit vergässu. "Ich ga sus schon gan reichu", het der Hirt dum Sännu unena gseit, "machet schisch ier numu du Puchil unerdanna!" Und är ämüf.

Da hets grägnot, und är ischt bnachtot und het mießu obena blybun. Und richtig het er schi uf un Beiju gleit, uf ds Gliger und het wellu schlafu. Aber da chumunt dry aalti Chiejerinne, jedi mit änera Gepsu, und heint mu Süüffi und Popil angibotu. Är mege nit trychu, hei är ne gseit.

Da heigi mu dischu Wybsbilder anggä, är chenni nän, us wellera är welle. Trych är us är eerschtu, gäb är e Singer, trych är us är andru, gäb ä Gyger, und welle är di dritti, gäb är ä Hackbrättler. Und är d eerschti angstizt.

Das het nu gmottot! Är gidanne uber Killer und Hotzlete und uunhabe ambri und het halt gsungu appas prächtigsch und ischt gsprungu uber Tosse und Fät, und Grongge und Ggufer.

Der Sännu het glotzet und gloset! Ds hibsch Gsang und ds Gygu het ischu Sännu verzänt, und är het schi verwägu, är welle ä Gyger wäärdu, und är nit lingge, dun Wäg unner d Fies und was gischt was d hescht allun Saalzwäg amüüf und abrüüf bis zum Obergygistaafilti. Aber der het nimme wellu amapha chun.

Jetzu heint schynu Lyt unnena Chlupf berchu; äs het ne  gglychot, äs sigi mu as was bigägnot, är heigi appa as Bei gibrochu olt är hei schi am Änt noch erfallu; äs ischt den oi gschwind appas, wie mu seit.

Und düo heint irero as paar d Meining zämugleit und sint nu ga süochu in alle Chremmu und Stygu, geng vergäbu. Jetzu chumunt sch düo zer Hittu und lüogunt uberabro du Oscht ud ds Dach, und gseed! da ischt d Sännusch Hüüt üüsgspreitoti gsy. Da het er düo fer schys Gygu gha, und darfer säägent sch jetzu discher Alpu ds Gygi.

Mu selle nie z vill wellu und nit verwägu sy, heint äsie d aaltu Lyt gseit.

Ergänzungen und Korrekturen vorbehalten. Hinweise und Kommentare erwünscht.
HMTL: © W. Näser 20.8.1996 / Stand: 19.5.2002