Dr. Wolfgang Näser

INT. SOMMERKURS DER PHILIPPS-UNIVERSITÄT 1993 * LITERATUR UND MEDIEN * Kurs 6 
Formen schriftlicher Kommunikation, Sommersemester 2002
 
Text 10a / Text 7:  

Reality TV - Ein Interview mit Dietrich LEDER zu seinem Film "Titelgeschichte - Jagd nach Sensationen"
(West 3, 3.6.1993, 20.15), ausgestrahlt am 28.5.1993 morgens im WDR 5 * Transkription: Wolfgang Näser

I   = Interviewerin, L  = Autor, ...  = Versprecher

I [noch Anmoderation:] Der Autor Dietrich Leder ist in seinem Film "Titelgeschichte - Jagd nach Sensationen" der Frage nachgegangen, wo Programmentscheidungen getroffen werden, wo die Grenzen gezogen werden zwischen Sensationslust und journalistischer Ethik und wo die Information aufhört und Voyeurismus beginnt. Der Film wird am 3. Juni um 20 Uhr 15 im Dritten Fernsehprogramm, in West 3, ausgestrahlt.

I Ich bin jetzt mit Dietrich Leder telefonisch verbunden. Guten Morgen, Herr Leder.
L Guten Morgen.
I Titelgeschichte - Jagd nach Sensationen - sind in Ihrem Film auch wieder Beispiele für "Reality TV" zu sehen?

L Das ist eine gute Frage und führt mitten ins Zentrum der Entscheidungen, die ich auch zu treffen hatte und die tagtäglich ja viele Kolleginnen und Kollegen treffen: was man zeigt und was man nicht zeigt. Ich habe in meinem Film sieben Beispiele von realer Gewalt, wie sie im Fernsehen gesendet wurden, untersucht und habe jeweils neue Entscheidungen getroffen, was ich zeige und was ich nicht zeige; das heißt, es wird in meinem Film nichts geben, über das ich mich anschließend entrüste. Das heißt, viele Kollegen, die darüber gearbeitet haben, haben immer das gezeigt, haben davon gelebt, was sie gezeigt haben, um sich anschließend moralisch darüber zu entrüsten. Ich habe nur das gezeigt, was ich selber verantworten kann, das heißt, ich habe ganz bestimmt nicht Stellen abgebrochen oder habe ganz bestimmte ästhetische Operationen rückgängig gemacht.
I Aber Sie haben zunächst Beispiele bringen müssen, um sich dann damit auseinandersetzen zu können.

L Ja...mein Film besteht aus zwei Elementen, er ist ganz einfach strukturiert, das eine sind insgesamt sechs Gespräche, die ich mit Programmverantwortlichen geführt habe vom Kameramann bis zum Chefredakteur über ihren täglichen Umgang mit diesen Schreckensbildern, und auf einer zweiten Ebene, immer abwechselnd, habe ich eben sechs oder sieben dieser bekannten, muß ich dazu ausdrücklich sagen, bekannten Schreckensbilder untersucht. Ich habe nichts aus dem aktuellen Bereich der letzten Wochen genommen, sondern ich habe Bilder gewählt, die aus dem Arsenal derjenigen Bilder stammen, die sich den Zuschauern in den letzten zwanzig Jahren eingeprägt haben.
I Zum Beispiel?

L Beispielsweise...das Flugunglück in Ramstein, ...dort kam es...Mitte der achtziger Jahre zu einem Unglück bei einer sogenannten...Kunstflugvorführung einer italienischen Düsenjägerstaffel, das hat zufälligerweise ein Fernsehkameramann aufgenommen, wie ein Düsenjäger gegen den anderen jagt, diese Maschine zu Boden knallt und dann ein Feuerball auf die Zuschauer zurast.
I Diese Bilder gingen ja praktisch um die Welt, hm?
L Um die Welt - sie wurden sehr oft wiederholt, und sie haben, das muß man dazusagen, ehrlicherweise dazusagen, sie haben einen besonderen ästhetischen Reiz.
I Schreckensbilder und ästhetischer Reiz - das hört sich ja erst mal sehr paradox an.

L Das ist nicht paradox. Ich glaube, daß die...daß diese Schreckensbilder fast alle einen ganz spezifischen eigenen Reiz haben. Das haben sie allerdings menschheitsgeschichtlich immer schon gehabt. Wenn Sie, um ein willkürliches Beispiel zu nehmen, die Odyssee lesen, ja, werden Sie dort Szenenbeschreibungen finden, die Sie heute einem Kind nicht laut vorlesen würden, weil sie die Gewalt, die dort bildlich beschrieben ist, zu brutal empfinden. Es hat immer wieder diese Schreckensbilder menschheitsgeschichtlich gegeben, und es hat immer wieder die Faszination gegeben, von ihnen zu erzählen oder sie anzuschauen. Es ist natürlich nur so, daß das Fernsehen das uns erst mal in einer neuen technischen Qualität und in einer hohen Häufigkeit direkt ins Haus liefert.
I Zu welchem Fazit sind Sie denn jetzt gekommen in ihrem Film?

L Erstens: es gibt keine Moral-Regel, die die Entscheidungen bestimmt, was man zeigt, was man nicht zeigt; alle, mit denen ich gesprochen habe, haben eher herumgestottert, herumlaviert, es sind immer Einzelfälle, in denen man entscheidet und bei denen man am nächsten Tag sich geniert, daß man es gezeigt hat, und das führt dazu, daß man eher beim nächsten Mal sich zurückhaltend verhält.
Zweitens
: zu viel Schreckensbilder selber nutzen auch dem kommerziellen Fernsehen nichts, deshalb vollführt das kommerzielle Fernsehen eher 'nen Eiertanz. Drittens: es gibt keine neuen Schreckensbilder, sondern nur Variationen alter, und da muß man dazusagen, daß das kommerzielle Fernsehen ja etwas eingeführt hat, was wir bislang nicht kannten, nämlich Boulevardfernsehen: wir sehen das, was Bild-Zeitung...heißt, jetzt zum ersten Mal über den Bildschirm, und das erinnert uns ja daran, daß die BILD-Zeitung ja mit dem BILD schon geworben hat, auch mit den Schreckensbildern und den Katastrophenbildern, bevor das Fernsehen populär wurde. Das heißt: das ist eine Entwicklung, die vielleicht folgerichtig ist, aber die wir nicht unbedingt begeistert hinnehmen müssen.

I Das war Dietrich LEDER, Autor des Films "Titelgeschichte - Jagd nach Sensationen", der am 3. Juni um 20 Uhr 15 im Dritten Fernsehprogramm ausgestrahlt wird. Danke.  (c) WN 28051993

Aufgaben:

  1. Listen Sie Wörter und Wendungen (vgl. die anderen Texte)
  2. Versuchen Sie, das von D. LEDER Gesagte thesenartig zusammenzufassen.
  3. Versuchen Sie eine Definition zum (inoffiziellen) Begriff "Boulevardfernsehen".
  4. Kommentieren Sie LEDERs Aussagen.
  5. Was ist Ihre Ansicht zu meiner These, daß uns das Fernsehen möglicherweise zu Voyeuren macht? Halten Sie das für übertrieben oder teilen Sie diese Kritik?

(c) WN 20061993, Neusatz 14.6.2002