Parlamentsrede des Bundeskanzlers vom 10.11.1998 zum Programm der rot-grünen Bundesregierung (Regierungserklärung)

Erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik haben die Wählerinnen und Wähler durch ihr unmittelbares Votum einen Regierungswechsel herbeigeführt. Sie haben Sozialdemokraten und Bündnis 90/Die Grünen beauftragt, Deutschland in das nächste Jahrtausend zu führen.

Dieser Wechsel ist Ausdruck demokratischer Normalität und eines gewachsenen demokratischen Selbstbewußtseins.

Wir können stolz darauf sein, daß die Menschen in Deutschland rechtsradikalen und fremdenfeindlichen Tendenzen eine deutliche Absage erteilt haben.

Auch an dieser Stelle möchte ich noch einmal meinem Vorgänger im Amt, Herrn Dr. Helmut Kohl, für seine Arbeit und seine noble Haltung bei der Amtsübergabe danken.

Vor uns liegen gewaltige Aufgaben. Die Menschen erwarten, daß bessere Politik für Deutschland gemacht wird.

Wir wissen: Ökonomische Leistungsfähigkeit ist der Anfang von allem.

Und wir müssen:

und vor und bei allem:

Dafür brauchen wir neue Unternehmen, neue Produkte, neue Märkte. Schnellere Innovation, eine bessere Ausbildung und eine Steuer- und Abgabenpolitik, die Arbeit entlastet.

Diese Bundesregierung wird die Probleme schultern. Und sie wird die schöpferischen Kräfte in unserem Land mobilisieren.

Die Bedingungen, unter denen wir an den Start gehen, sind alles andere als günstig. Die alte Bundesregierung hat uns keineswegs ein "bestelltes Haus“ hinterlassen.

Das Ergebnis unseres vorläufigen Kassensturzes zeigt den Ernst dieser Lage. Die Verschuldung des Bundes ist auf weit über eine Billion D-Mark getrieben worden. Der laufende Bundeshaushalt ist mit Zinsverpflichtungen von mehr als 80 Milliarden D-Mark belastet. Das heißt: Jede vierte Mark, die der Bund an Steuern einnimmt, muß er für Zinszahlungen ausgeben.

Milliardenschwere Haushaltsrisiken wurden ignoriert. Einnahmen wurden zu hoch veranschlagt, Ausgaben zu niedrig. Jahrelang hat man den Haushalt nur durch Einmaleffekte ausgeglichen. Deren Wirkung ist gleich wieder verpufft.

Die großen Haushaltslasten aber, die schwerwiegenden strukturellen Probleme des Bundeshaushalts hat man einfach in die Zukunft verlagert.

Nach den jetzt ermittelten Zahlen müßte die jährliche Neuverschuldung mittelfristig um bis zu 20 Milliarden Mark höher ausgewiesen werden, als das im Finanzplan geschehen ist.

Das kann und will ich nicht akzeptieren. Deshalb sage ich gleich zu Anfang:

Diese finanzielle Erblast zwingt uns zu einem entschlossenen Konsolidierungskurs.

Wir werden um strukturelle Eingriffe nicht herumkommen. Alle Ausgaben des Bundes müssen auf den Prüfstand. Der Staat muß zielgenauer und wirtschaftlicher handeln.

Der Mißbrauch staatlicher Leistungen muß eingedämmt werden. Subventionen und soziale Leistungen werden wir stärker als bisher auf die wirklich Bedürftigen konzentrieren.

Die Bürgerinnen und Bürger erwarten von uns nicht, daß wir alles in kurzer Zeit schaffen. Aber sie haben einen Anspruch darauf, daß wir nicht nur reden, sondern auch handeln.

Daß endlich wieder Politik für die Menschen gemacht wird.

1.

Wir haben gesagt, wir wollen nicht alles anders machen, aber vieles besser. Daran werden wir uns halten.

Das sagen wir denen, die heute die Schlachten des Wahlkampfes noch einmal schlagen wollen. Die schon wieder Schwarzmalerei betreiben und diesen lähmenden Pessimismus verbreiten, der unser Land lange genug gehindert hat, die nötigen Schritte zur Anpassung an die Wirklichkeit zu tun.

Aber das rufen wir auch denjenigen zu, die meinen, das jetzt Beschlossene ginge nicht weit genug.

Wir wollen die Gesellschaft zusammenführen, die tiefe soziale, geographische und gedanklich-kulturelle Spaltung überwinden, in die unser Land geraten ist. Wir werden Deutschland entschlossen modernisieren und die innere Einheit beherzt vorantreiben.

Voraussetzung dafür ist eine schonungslose Beurteilung der Lage. Aber auch und vor allem: das Besinnen auf unsere Stärken. Und das Zutrauen, daß wir es schaffen können.

Dieser Regierungswechsel ist auch ein Generationswechsel im Leben unserer Nation. Mehr und mehr wird unser Land heute gestaltet von einer Generation, die den Zweiten Weltkrieg nicht mehr unmittelbar miterlebt hat.

Es wäre gefährlich, dies als einen Ausstieg aus unserer historischen Verantwortung mißzuverstehen. Jede Generation hinterläßt der ihr nachkommenden Hypotheken – niemand kann sich mit der "Gnade“ einer "späten Geburt“ herausreden.

Für manche ist dieser Generationswechsel eine große Herausforderung. Schon ein Blick auf die Regierungsbank oder in dieses Parlament zeigt, was die große Mehrheit unter uns politisch geprägt hat. Es sind Biographien gelebter Demokratie.

Wir haben den kulturellen Aufbruch aus der Zeit der Restauration miterlebt und mitgemacht. Viele von uns waren in den Bürgerbewegungen der 70er und 80er Jahre engagiert. Die ehemaligen Bürgerrechtsgruppen aus der DDR, die gemeinsam mit den ostdeutschen Sozialdemokraten die friedliche Revolution gestaltet haben, sind an dieser Regierung beteiligt.

Diese Generation steht in der Tradition von Bürgersinn und Zivilcourage. Sie ist aufgewachsen im Aufbegehren gegen autoritäre Strukturen, im Ausprobieren neuer gesellschaftlicher und politischer Modelle.

Jetzt ist sie – und mit ihr die Nation – aufgerufen, einen neuen politischen Pakt zu schließen, gründlich aufzuräumen mit Stagnation und Sprachlosigkeit, in die die vorige Regierung unser Land geführt hat.

An ihre Stelle setzen wir eine Politik, die die Eigenverantwortlichkeit der Menschen fördert und stärkt. Das verstehen wir unter einer Politik der Neuen Mitte.

Diesen Weg werden wir partnerschaftlich beschreiten. Jeder im In- und Ausland kann sich darauf verlassen, daß diese Regierung zu ihrer sozialen und politischen Verantwortung steht.

Die Hoffnungen, die auf uns ruhen, sind fast übermächtig. Aber eine Regierung allein kann das Land nicht verbessern. Daran müssen alle mittun. Und je mehr Menschen sich mit ihrer Initiative und Leistungsbereitschaft an der Reform unserer Gesellschaft beteiligen, desto größer werden die Erfolge sein.

Den Menschen in Deutschland mangelt es nicht an schöpferischen Kräften. Wir werden helfen, sie zur Entfaltung zu bringen.

2.

Unser drängendstes und schmerzhaftestes Problem bleibt die Massenarbeitslosigkeit. Sie führt zu psychischen Zerstörungen, zum Zusammenbruch von Sozialstrukturen. Den einen nimmt sie die Hoffnung, und den anderen macht sie angst.

Und sie belastet unser Gemeinwesen derzeit mit Kosten von jährlich 170 Milliarden Mark.

Die Bundesregierung ist sich völlig im klaren darüber, daß sie ihre Wahl wesentlich der Erwartung verdankt, die Arbeitslosigkeit wirksam zurückdrängen zu können.

Dieser Herausforderung stellen wir uns.

Jede Maßnahme, jedes Instrument kommt auf den Prüfstand, ob es vorhandene Arbeit sichert oder neue Arbeit schafft. Und wir wollen uns jederzeit, nicht erst in vier Jahren daran messen lassen, in welchem Maße wir zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit beitragen.

Die Steuerreform, mit der wir in diesen Tagen beginnen, ist dazu ein erster Schritt. Wir werden nicht weitere 16 Jahre über die Notwendigkeit einer Steuerreform reden, das Für und Wider der Interessengruppen abwägen.

Wir machen die Steuerreform. Damit machen wir auch die Politik wieder glaubwürdiger.

Die Reform basiert auf der Einsicht in die ökonomischen Notwendigkeiten. Sie verbindet modernen Pragmatismus mit einem starken Sinn für soziale Fairness.

Im Mittelpunkt stehen die Entlastung der aktiv Beschäftigten und ihrer Familien, sowie der kleinen und mittleren Unternehmer. Deren Investitionskraft wollen wir stärken.

Beides zusammen wird helfen, Arbeitslosigkeit abzubauen, neue Arbeitsplätze zu schaffen und bestehende zu sichern.

Unsere Steuerreform erschließt Entlastungen von insgesamt 57 Milliarden Mark. Nach der Gegenfinanzierung bleiben Bürgern und Unternehmen 15 Milliarden Mark als Nettoentlastung.

Die Einkommenssteuersätze werden nachhaltig gesenkt, das Kindergeld wird erhöht. Über die Legislaturperiode betrachtet, wird das einer durchschnittlich verdienenden Familie mit zwei Kindern eine Nettoentlastung von 2700 Mark im Jahr bringen.

Schlupflöcher werden wir stopfen, ungerechtfertigte Vergünstigungen abbauen. Wir verteilen die Lasten gerechter.

Wir werden auch die Unternehmensbesteuerung grundlegend reformieren. Unternehmenseinkünfte sollen mit höchstens 35 Prozent besteuert werden. Dafür schaffen wir jetzt die gesetzlichen Voraussetzungen. Wir entlasten damit den Mittelstand, dem eine Schlüsselrolle bei der Schaffung von Arbeitsplätzen zukommt.

Auch sonst haben wir die Anliegen des Mittelstandes berücksichtigt: Der Verlustvortrag bleibt erhalten, ein einjähriger Verlustrücktrag bleibt ebenfalls noch für Verluste, die 1999 und 2000 entstehen und nicht mehr als zwei Millionen Mark betragen.

Die Wiederanlage von Gewinnen aus der Veräußerung von Grund und Boden und Gebäuden wird wie bisher nach § 6b Einkommensteuergesetz begünstigt.

Die Sonder- und Ansparabschreibungen für Existenzgründer können unverändert in Anspruch genommen werden; für kleine und mittlere Betriebe bleiben sie bis zum Jahr 2000 erhalten.

Die Tarifermäßigung für Veräußerungsgewinne wird durch rechnerische Verteilung des Gewinns nur umgestaltet, nicht gestrichen. Damit werden Verlustzuweisungsmodelle eingedämmt – für die Betriebsnachfolge wird das keine Verschlechterung bedeuten.

Wir werden das Steuerrecht transparenter und effizienter machen. Überflüssige Steuersubventionen sollen abgeschafft und wertvolle Steuergelder nicht länger an unsinnige Steuersparmodelle verschwendet werden.

Ich will einen Satz sagen zu der im Koalitionsvertrag angekündigten "umfassenden Verbreiterung der Bemessungsgrundlage“. Interessierte Kreise haben ja so getan, als wollten wir mit unserer Steuerreform den Unternehmern buchstäblich die Butter vom Brot nehmen.

Dazu sagen wir, daß in den vergangenen Jahren nur einige wenige von Steuerentlastungen profitiert haben – die große Mehrheit hat unter Steuerbelastungen gelitten. Jede vernünftige Steuerreform muß diesen Trend erst einmal stoppen.

Inzwischen melden sich auch Ökonomen und weitsichtige Unternehmer zu Wort, die diese Steuerreform als große Chance begreifen. Sie sehen die Perspektive, die wir mit unserer schrittweisen Entlastung aufzeigen.

Sie sehen die Trendwende, die wir eingeleitet haben: Entlastung und Vereinfachung statt – wie bisher – immer höhere Sätze und immer weniger Transparenz.

Und sie nehmen bereitwillig unsere Einladung an, in einer gemeinsamen Kommission über die Strukturreform des Steuerrechts zu beraten.

Eines allerdings will ich denen noch sagen, die uns in den letzten Wochen mit den schrillsten Vorwürfen überzogen haben:

Niedrige, einfache Steuersätze zu wollen wie in den USA – und gleichzeitig an einer hohen Zahl von Ausnahmetatbeständen festzuhalten wie bisher in Deutschland:

Das geht nicht.

So haben wir nicht gewettet.

3.

Wir werden die Nutzung der wirtschaftlichen Ressourcen endlich marktwirtschaftlicher Vernunft unterwerfen. Deshalb steigen wir sofort in eine ökologische Steuer- und Abgabenreform ein.

Wir vollziehen damit eine überfällige Kehrtwende: Natur und Energie als endliche und mithin knappe Güter werden über den Preis verteuert – um Arbeit, die reichlich vorhanden ist, billiger zu machen.

Ich sage es gern noch einmal: Es geht uns nicht um die Erschließung einer weiteren Einnahmequelle für die Staatskasse.

Mit der Energiebesteuerung folgen wir dem Beispiel unserer Nachbarn in Dänemark, den Niederlanden und Österreich. Wir lösen die Probleme der modernen Gesellschaft mit den Mitteln der modernen Gesellschaft.

Die Einnahmen aus der Energiesteuer verwenden wir zur Senkung der gesetzlichen Lohnnebenkosten. Und mit den Anreiz-Effekten der Energiesteuer fördern wir die Schaffung neuer Arbeitsplätze in nachhaltigen Zukunftstechnologien.

Damit führen wir – im Rahmen dessen, was europäisch machbar und sozial vertretbar ist – Marktwirtschaft in die Ressourcennutzung ein. Und wir setzen dabei auf die Beschäftigungseffekte einer zukunftsorientierten Produktion.

Das ist für uns moderne Steuer- und Wirtschaftspolitik. Wir streiten nicht um die Schein- Alternative: Angebots- oder Nachfrage-Orientierung. Der Streit führt zu nichts. Angebots- und Nachfragepolitik stehen nicht im Widerspruch zueinander.

Wir brauchen eine Nettoentlastung der Haushalte zur Belebung der Binnenkonjunktur, damit die Menschen auch kaufen können, was die Wirtschaft herstellt.

Und durch Marktöffnung und Entbürokratisierung, durch die Förderung von Innovation und Zukunftsindustrien verbessern wir die Angebotsbedingungen für neue Produkte, neue Märkte und neue Verfahren.

Wir müssen lernen, die Dinge zu verknüpfen und im Zusammenhang zu sehen: Wir stehen nicht für eine rechte oder linke Wirtschaftspolitik. Sondern für eine moderne Politik der Sozialen Marktwirtschaft.

Diese Bundesregierung macht endlich wieder Wirtschaftspolitik.

Wir eröffnen den Menschen die Perspektive der Selbständigkeit. Wer eine Existenz gründen will, eine gute Idee vermarkten, dem werden wir nach Kräften helfen. Unsere Banken sind immer noch zu zögerlich mit der Bereitstellung von Geld für Unternehmensgründungen. Sie nennen es "Risikokapital“.

Für uns ist das "Chancen-Kapital“, das Unternehmensgründern helfen soll.

Neuesten Umfragen zufolge geben heute mehr als die Hälfte derer, die demnächst die Schule oder Universität abschließen werden, als Ziel die berufliche Selbständigkeit an. Das wäre vor gar nicht so langer Zeit noch undenkbar gewesen.

Aber die neue Gründerzeit hat längst begonnen. Wir haben ihre Zeichen begriffen. Und wir werden Zeichen setzen.

Das werden wir vor allem für den Mittelstand tun. Moderne Mittelstandspolitik, das ist für uns:

Wenn wir in der Altersversorgung mehr private Vorsorge wollen, dann müssen wir die Nettoeinkommen eben auch so entlasten, daß die Menschen sich diese Vorsorge leisten können.

Wenn wir die Leistungsbereitschaft der Menschen fördern wollen, dann müssen wir dafür sorgen, daß sich Leistung auszahlt. Daß die Leistungsbereiten – ob Ingenieure, Krankenschwestern oder Facharbeiter – auch etwas haben von ihrer Leistung.

Das meinen wir, wenn wir von einer neuen Politik sprechen. Einer Politik, die nicht in Kästchen denkt, sondern die Probleme im Zusammenhang begreift.

Und deshalb sage ich: Unsere Steuerreform ist ein guter Anfang. Aber damit ist das Ziel eines überschaubaren und leistungsgerechten Steuersystems noch nicht erreicht. Dieses Ziel werden wir Schritt für Schritt verwirklichen.

In den zurückliegenden Jahren ist ja viel über die Vor- und Nachteile des sogenannten Standort Deutschland diskutiert worden. Der Begriff ist verräterisch: "Standort“, das ist auch "Stillstand-Ort“.

Wir machen dieses Land wieder zu einem Bewegungs-Ort.

4.

Wir werden mit der Energiewirtschaft und den Umweltverbänden neue Wege der Energieversorgung beschreiten.

Die Nutzung der Kernenergie ist gesellschaftlich nicht akzeptiert. Sie ist mithin auch volkswirtschaftlich nicht vernünftig. Wir werden sie geregelt auslaufen lassen.

Für die Bundesregierung steht dabei nicht ein Ausstieg im Mittelpunkt. Es geht vielmehr um den Einstieg in eine zukunftsfähige Energieversorgung. Der Anteil der Kernenergie wird schrittweise reduziert und schließlich ersetzt. Das ist ein gewaltiges Investitionsprogramm, das auch neue Arbeitsplätze schaffen wird.

Dabei setzen wir vor allem auf die Innovations- und Entwicklungspotentiale bei den erneuerbaren Energien. Und wir setzen auf eine konsequente Nutzung der Einsparmöglicheiten – bei der Stromerzeugung, bei elektrischen Geräten, bei den Gebäuden und im Straßenverkehr. Mit der Energiewirtschaft werden wir auskömmliche Lösungen zu einer Zukunft ohne Atomkraftwerke vereinbaren.

Die Koalitionspartner sind sich einig darin, daß die Beendigung der Kernenergienutzung im Konsens erfolgen soll – ohne daß es zu Regreßansprüchen kommt. Aus den Gesprächen der vergangenen Jahre wissen wir, daß wir zu einer einvernehmlichen Lösung kommen können.

Das Problem der Entsorgung radioaktiver Abfälle bleibt uns und unseren Nachkommen allerdings noch auf Jahrtausende erhalten.

Das bisherige Entsorgungskonzept ist inhaltlich gescheitert. Wir werden statt dessen einen nationalen Entsorgungsplan erarbeiten. Entsorgung wird auf die direkte Endlagerung beschränkt.

Atommülltransporte quer durch die Republik, die nur durch massiven Polizeischutz zu sichern sind, passen nicht zu einer auf Konsens und Zukunftsfähigkeit ausgerichteten Demokratie. Hier gilt es jedoch zu bedenken, daß vorherige Regierungen völkerrechtlich bindende Verträge über die Rücknahme von Atomabfällen geschlossen haben. Auch das müssen wir mit unseren Partnern in England und Frankreich einvernehmlich regeln.

Wir wollen solche Transporte nur noch dann zulassen, wenn am Kraftwerk keine genehmigten Zwischenlagerkapazitäten exisitieren.

In einem neuen Energiemix werden wir Steinkohle und Braunkohle brauchen. Dabei drängen wir auf die Verwendung modernster Technik mit hohen Wirkungsgraden und eine bessere Nutzung von Fernwärme und Kraft-Wärmekopplung.

Den Kohlekompromiß vom März 1997 werden wir umsetzen und in Brüssel absichern. Bei der sozialverträglichen Neustrukturierung des deutschen Kohlebergbaus brauchen wir rechtzeitig eine Orientierung für die Zeit nach dem Jahr 2005. Es geht darum, Planungssicherheit für Unternehmen und Beschäftigte zu schaffen.

Die Klimaforscher und vorbildlichen Unternehmer, die vor ein paar Tagen mit dem "Bundesumweltpreis“ ausgezeichnet worden sind, haben der Politik ins Stammbuch geschrieben:

Gerade beim Klimaschutz dürfen die Verantwortlichen nicht auf Erkenntnisse über weitere Schädigungen unserer Umwelt warten. Sie müssen auch aktive Vorsorge treffen.

Dieser Verantwortung stellen wir uns. Zusammen mit Wissenschaftlern, Umweltschützern und Unternehmern.

5.

Der Staat und die verschiedenen Wirtschaftszweige müssen ihre Zusammenarbeit verbessern und die Synergie-Effekte untereinander besser nutzen.

Wo die Bundesregierung das ihre dazu tun kann, wird sie es tun: Wir werden die Verwaltung schlanker und effizienter machen und hemmende Bürokratie rasch beseitigen.

Beispielsweise werden wir die Vielzahl verschiedener Umweltbestimmungen in einem Umweltgesetzbuch zusammenfassen. Dabei werden wir überflüssige Vorschriften streichen und damit die Regelungsdichte vermindern.

Eine grundlegende Justizreform werden wir zügig in Angriff nehmen. Unsere Zivil- und Strafjustiz ist heute noch aufgebaut wie vor 100 Jahren. Sie muß entschlackt und modernisiert werden. Die Bürger sollen schneller zu ihrem Recht kommen, die Gerichte sollen entlastet werden. Auch um die Vereinfachung von Gesetzestexten werden wir uns zielstrebig kümmern.

Die Rechte der Opfer von Verbrechen müssen stärker beachtet werden. Dies gilt ganz besonders für die Schwächsten in unserer Gesellschaft: mißbrauchte und mißhandelte Kinder.

Wo das möglich ist, werden wir den Täter-Opfer-Ausgleich stärken und die gemeinnützige Arbeit als moderne Sanktionsform ausbauen. Es ist im Interesse der Gesellschaft, daß vor allem Straftäter, die bislang zu kurzen Freiheitsstrafen verurteilt wurden, nicht zusätzliche Kosten verursachen. Soweit die Gemeinschaft nicht vor ihnen geschützt werden muß, sollen sie sich für die Gemeinschaft nützlich machen.

Große Aufmerksamkeit richten wir auf die Förderung der Verfahren zur Schlichtung. Es muß Schluß gemacht werden mit der verhängnisvollen Entwicklung, immer mehr zivile, soziale, wirtschaftliche und sogar politische Streitfälle auf die Gerichte abzuwälzen.

Die Möglichkeiten, Streitfälle außergerichtlich zu regeln, werden wir stärken und bürgernah gestalten. Wir verbinden damit den dringenden Appell an Bürger und Interessengruppen, diese Möglichkeiten auszuschöpfen, bevor sie die Justiz bemühen. Ich sage es ganz deutlich: Diese Bundesregierung will keinen Bevormundungsstaat, sondern einen Staat, der die Menschen ermutigt.

Aber: den Staat schlanker und effizienter zu machen, darf nicht heißen, daß man ihn dort schwächt, wo vor allem die Schwächeren auf ihn angewiesen sind. Wir wollen einen Staat, der die Bürgerrechte schützt und erweitert. Wir beharren auf dem Schutz der Schwächeren durch das Recht und den Staat.

Ich will keine Gesellschaft, in der sich einige wenige Schutz kaufen können, und die Mehrheit in Angst vor Verbrechen lebt.

Härte gegen das Verbrechen, aber auch Härte gegen seine Ursachen: Das ist meine, das ist unsere Vorstellung von einem Staat, der seine Schutzaufgabe erfüllt.

Wir werden die Kriminalität in all ihren Erscheinungsformen entschlossen bekämpfen. Die Polizei kann sich darauf verlassen, daß wir sie bei dieser Aufgabe unterstützen.

Aber eine gute Politik der inneren Sicherheit darf nicht auf Polizei und Strafrecht beschränkt bleiben. Wo verantwortliche Sozial- und Innenpolitik Hand in Hand gehen, da läßt sich mit einer Maßnahme oft zweifacher Nutzen erzielen: Wir tragen bei zur Rückeroberung des öffentlichen Raumes durch die Bürger. Und wir schaffen Beschäftigung, die sich sogar betriebswirtschaftlich rechnet.

Ich denke an ein plastisches Beispiel. In Dortmund wurden Arbeitslose als Sicherheitspersonal im Öffentlichen Nahverkehr ausgebildet. Daraufhin sind die Schäden durch Vandalismus und Schwarzfahren auf ein Zehntel ihrer vorherigen Höhe reduziert worden. Und die Benutzerzahl der entsprechend beschützten S-Bahnlinie in den Abend- und Nachtstunden hat sich verdoppelt.

Dieses Beispiel zeigt: Wir brauchen einen Staat, der an der Seite der Bürger steht. Der ihnen hilft, ihr Leben selbstverantwortlich zu gestalten.

6.

Ein eigenverantwortliches Leben – das setzt aber doch zuallererst voraus, für sich selbst sorgen zu können. Und wie sollen unsere jungen Menschen unsere Gesellschaft, unsere Zukunft gestalten, wenn wir ihnen nicht einmal die Möglichkeit geben, für sich selbst zu sorgen?

Deshalb wird die Bundesregierung ein Sofortprogramm auflegen, um 100 000 Jugendliche so schnell wie möglich in Ausbildung und Beschäftigung zu bringen. Ein besonderer Schwerpunkt wird dabei in Ostdeutschland gesetzt. Das ist ein erster Schritt.

Ziel einer aktiven Arbeitsmarktpolitik muß es sein, den Menschen eine Brücke in den ersten Arbeitsmarkt zu bauen.

Wir alle wissen, daß eine gute Ausbildung die beste Voraussetzung ist für eine gesicherte berufliche Zukunft.

Unser duales System der Berufsausbildung ist noch immer vorbildlich in Europa. Aber die schleichende Verstaatlichung der Ausbildung muß aufhören. Wirtschaft und öffentliche Verwaltung stehen in der Pflicht, die Lehrstellenzahl zu erhöhen, um allen Jugendlichen einen qualifizierten Ausbildungsplatz zu bieten.

Ich setze darauf, daß dazu keinerlei Zwangsmaßnahmen nötig sein werden.

Aber ich sage unseren Jugendlichen auch, daß ihr moralisches Recht auf Arbeit und Ausbildung auch die Pflicht einschließt, Angebote zur Berufsausbildung anzunehmen.

Im europäischen Vergleich brauchen junge Menschen bei uns zu lange, bevor sie berufliche Verantwortung übernehmen können. Uns geht es nicht um eine Verkürzung der Ausbildung, sondern um eine bessere Verteilung der Ausbildung auf die Lebenszeit.

Ausbildung, Ausbildungsordnungen und Ausbildungsinhalte werden wir flexibler gestalten. Die Verbesserung und Modernisierung beruflicher Bildung und Qualifikation sollte ständiges Gesprächsthema in einem Bündnis für Arbeit sein.

Wir wollen uns fit machen für die europäische Wissensgesellschaft. Darunter soll man sich ja nicht eine Gesellschaft aus lauter Superhirnen und Weißkitteln vorstellen. Wissensgesellschaft, das heißt für mich: Qualifikationsgesellschaft.

Deshalb wird die Bundesregierung die Aufgabe einer Bildungs- und Qualifizierungsoffensive rasch anpacken. Wir wollen bestmögliche Bildung für alle, mehr Chancengleichheit, die Förderung unterschiedlicher Begabungen, mehr Effizienz und mehr Wettbewerb.

Diese Regierung hat nichts gegen die Herausbildung von Eliten. Unsere Gesellschaft braucht Eliten. Allerdings kommt es darauf an, was man unter "Elite“ versteht.

Geprägt von eigener Erfahrung, sage ich: Zur Elite gehört man nicht durch die Herkunft der Eltern. Zur Elite wird man durch Leistung.

Eliten erwachsen aus gleichen Chancen im Zugang zu den Bildungseinrichtungen. Und aus dem, was der oder die Einzelne in eigener Verantwortung daraus macht.

Der Geldbeutel der Eltern jedenfalls darf es nicht sein, der über die Lebenschancen in unserer Gesellschaft bestimmt.

Deshalb werden wir bereits 1999 mit der Reform der Ausbildungsförderung beginnen. Wir werden dabei alle ausbildungsbezogenen staatlichen Leistungen zusammenfassen.

Die Hochschulen wollen wir stärken. Sie müssen Zentren der Ideenfindung und der Problemlösung sein. Sie sollen auch zu Zukunftswerkstätten werden.

Wir müssen den Abwanderungstrend unserer Grundlagenforscher stoppen und gleichzeitig die anwendungsorientierte Forschung nachhaltig fördern.

Wir brauchen auch eine bessere Bildungsplanung. Denn wir können es uns nicht länger leisten, daß ein bedenklich großer Teil unseres wissenschaftlichen Nachwuchses vorbei an den Erfordernissen des Arbeitsmarktes qualifiziert wird.

Auch an Universitäten und Fachhochschulen muß es Wettstreit geben. Konkurrenz belebt das Geschäft. Die Hochschulen müssen viel stärker als bisher auch zu Existenzgründungen ermuntern.

Forschung und Lehre sollen durch Budgetierung und mehr Autonomie entbürokratisiert und wettbewerbsfähig gemacht werden. Das Dienstrecht des Hochschulpersonals werden wir umfassend modernisieren, um auch hier mehr Anreize für Leistung und Innovation zu schaffen.

Machen wir uns nichts vor: Der Transfer von Wissenschaft zu Wirtschaft liegt im argen. Die Transferzeiten, also die Umsetzung wissenschaftlicher Erkenntnisse in die Produktionswirklichkeit, dauern bei uns immer noch viel zu lange.

Bei der Innovationsgeschwindigkeit hinken wir hinter den USA, aber auch im europäischen Vergleich hinterher. Die USA verdienen jedes Jahr mehr als 30 Milliarden Mark mit dem Export von Verfahren, Lizenzen und Patenten ins Ausland. Unsere Wirtschaft hingegen muß heute mehr Ingenieurleistungen importieren, als sie exportiert.

Forschung, Lehre und Wirtschaft haben sich viel zu weit voneinander entfernt.

Die Hochschulen stehen vor Umwälzungen, die denen der 70er Jahre vergleichbar sind. Dieser Herausforderung ist sich die Bundesregierung bewußt.

Wir werden die Investitionen in Forschung und Bildung in den nächsten fünf Jahren verdoppeln. Wir werden auch auf europäischer Ebene die Anstrengungen bei der Entwicklung neuer Technologien verstärken. Zusammen mit unseren Partnern wollen wir transeuropäische Netze und eine moderne wissenschaftliche Infrastruktur schaffen.

Es ist schon richtig: Kreativität, künstlerische Phantasie, handwerkliches Können, die geniale Idee, der Mut zur bahnbrechenden Neuerung… all das kann nicht vom Staat herbei-organisiert werden.

Es ist das Ergebnis eines Prozesses von zahllosen kleinen Verbesserungen, an denen Tausende von kreativen, phantasievollen, kundigen und mutigen Menschen tagtäglich arbeiten.

Auf die jungen Menschen kommt es dabei ganz besonders an. Sie haben die Chance, Erfahrungen zu machen, die die Älteren unter uns nie machen konnten.

Wir wollen, wir müssen und wir werden dafür sorgen, daß sie nicht die Erfahrung machen, ausgeschlossen zu sein, noch bevor sie einsteigen konnten in diesen Prozeß.

7.

Aber machen wir uns nichts vor: Die Bewältigung des Jahrhundertproblems Arbeitslosigkeit kann nur gelingen, wenn alle gesellschaftlich Handelnden dabei mitmachen.

Die eine, einzelne Maßnahme zur Lösung des Problems gibt es nicht. Steuerpolitik, Abgabenreduzierung, Zukunftsinvestitionen und Tarifpolitik müssen einander sinnvoll ergänzen. Erst im Zusammenwirken aller volkswirtschaftlichen Akteure kann dauerhaft mehr Beschäftigung entstehen.

Die deutschen Unternehmer stehen dabei ebenso in der Verantwortung wie die Sozialverbände und die Gewerkschaften.

Sie alle lade ich zu einem Bündnis für Arbeit ein. Ich bin froh, bestätigen zu können: Das erste Treffen wird bereits Anfang Dezember stattfinden.

Dieses Bündnis wird als ständiges Instrument zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit eingerichtet.

Ich weiß inzwischen, daß die Beteiligten meiner Aufforderung folgen und ihre Verantwortung wahrnehmen wollen.

Ich erwarte, daß die Gesprächspartner sich vom Denken in angestammten Besitzständen und von überkommenen Vorstellungen lösen.

Ich setze darauf, daß wir zu einer vorurteilsfreien Beurteilung der Lage kommen und daß unsere Diskussionen vom fairen Ausgleich zwischen Geben und Nehmen geprägt sind.

Bündnisse für Arbeit wirken bereits überall mit Erfolg: in unseren Nachbarstaaten, aber auch in ungezählten Betrieben. Hier in Deutschland haben sozialverantwortliche Unternehmer und tüchtige, ökonomisch denkende Betriebsräte unsere Mitbestimmung zu einem modernen, weltweit vorbildlichen Modell entwickelt.

Das Bündnis für Arbeit ist der richtige Ort, uns den drängenden Fragen zu stellen: Welche Spielräume kann die Abgabenpolitik der Tarifpolitik schaffen? Was bedeutet es, die Sozialleistungen stärker auf die Bedürftigen zu konzentrieren? Welche Spielräume schaffen wir für Investitionen? Welche Möglichkeiten bieten Instrumente wie ein Investivlohn? Welche Chancen bietet uns die Flexibilisierung der Arbeitszeiten?

Ich erwarte auch, daß wir die einmalige Gelegenheit nutzen, die uns die neuen politischen Konstellationen in Europa bieten. Der Kampf gegen Arbeitslosigkeit kann nun endlich, mit dieser Bundesregierung, auch als europäische Frage behandelt werden.

Mit der Steuerreform, der Entlastung bei den Lohnnebenkosten und dem Sofortprogramm gegen die Jugendarbeitslosigkeit bringt die Bundesregierung gute Vorleistungen in das Bündnis für Arbeit ein. Ich erwarte, daß die anderen wirtschaftlich Handelnden diesem Beispiel folgen.

Die Menschen haben ein Recht darauf, daß wir uns dieser Verantwortung stellen und die Chancen entschlossen ergreifen, die uns ein Bündnis für Arbeit in einem sozialen Europa eröffnet.

Niemand erwartet Patentlösungen von uns, aber wir alle stehen in der Pflicht, unser Bestes zu geben: Zusammenarbeit, Zukunftswillen und Zuversicht.

8.

Gelingen kann ein solches Bündnis nur, wenn wir uns vorbehaltlos der Wirklichkeit stellen. Das mindeste, was die Bürgerinnen und Bürger von uns verlangen können, ist Aufrichtigkeit.

Wir dürfen auch vor unbequemen Wahrheiten nicht halt machen. Oft genug ist die gesellschaftliche Wirklichkeit verdrängt worden, zugedeckt mit Lebenslügen und voreiligen Versprechungen. Diese Bundesregierung sagt den Menschen weder: "Alles ist schlecht“, noch sagt sie ihnen: "Alles wird gut.“

Aber sie sagt zum Beispiel, daß es in diesem Land Menschen gibt, die unter den Bedingungen nackter Ausbeutung arbeiten. Daß solche Beschäftigungen illegal sind, daß sich oft genug auch die Beschäftigten illegal hier aufhalten, ändert nichts an diesen menschenunwürdigen Zuständen.

Sie sagt auch, daß es in diesem Land Arbeit gibt, gut bezahlte Arbeit, die an den Sozialsystemen vorbei als "Schwarzarbeit“ angeboten – und nachgefragt – wird. Niemand sollte diese Schwarzarbeit verharmlosen oder aufhören, sie von Rechts wegen zu bekämpfen. Sie ist und bleibt Betrug an der Solidargemeinschaft.

Aber Schwarzarbeit wird erst verschwinden, wenn sich die reguläre, versteuerte und sozialversicherte Arbeit wieder lohnt. Wenn die Menschen für ihre Arbeit auch wieder mehr Geld ins Portemonnaie bekommen.

Deshalb sollte und wird unser Leitsatz auch hier lauten:

Hart gegen den Rechtsbruch. Aber nicht minder hart gegen die Ursachen.

Wie für die innere Sicherheit, so gilt auch für die soziale Sicherheit: Wir wollen alles tun, damit sich alle Bürger sicher fühlen können.

Aber wir haben Grund zu der Annahme, daß es die Systeme der sozialen Sicherung selbst sind, die durch ihre hohen Kosten immer mehr Menschen in die Flucht aus diesen Sozialsystemen treiben, in illegale, sozial nicht abgesicherte Arbeit oder in Scheinselbständigkeit.

Wenn das so ist, heißt das, daß eine abstrakte soziale Sicherheit in immer mehr Einzelfällen konkrete soziale Unsicherheit produziert.

Und daß die Art, wie wir soziale Sicherheit organisieren, tatsächlich Arbeitsplätze vernichtet oder gefährdet.

Deshalb müssen die Systeme und die Kosten der sozialen Sicherung insgesamt auf den Prüfstand.

Wir werden die Augen vor solchen Wahrheiten nicht verschließen. Und wir ziehen Konsequenzen:

In diesen Zielen wissen wir die große Mehrheit der Bevölkerung hinter uns.

Doch die Initiativen der Bundesregierung werden kaum ausreichen, den Kostendruck entscheidend zu lindern. Bei einem gerechten Umbau des Sozialstaates sind alle Beteiligten gefragt: die Versicherten wie auch die Verbände und die Versicherungsträger, die Unternehmer und die Gewerkschaften.

Dabei werden wir uns von einem Grundsatz leiten lassen:

Die Stärke des Sozialstaats bemißt sich nicht an den Milliarden, die er ausgibt. Sie muß sich beweisen an der Qualität seiner Leistungen.

9.

Damit keine Mißverständnisse aufkommen: Unsere Gesellschaft erwirtschaftet genug, um sich den Sozialstaat leisten zu können. Was wir uns nicht leisten können, sind Ungerechtigkeit und Untätigkeit. Wir brauchen die Menschen in Deutschland nicht auf "Blut, Schweiß und Tränen“ einzustimmen. Sie haben gezeigt, daß sie bereit sind zu teilen und zu geben.

Wie sonst, wenn nicht durch den Elan und die Solidarität der Menschen im Osten und im Westen, hätten die – bei allen Defiziten – doch beachtlichen Leistungen beim Aufbau der Wirtschaft in den neuen Ländern erbracht werden können.

Ich sage es ganz deutlich: Wir werden diese Solidarität auch weiterhin brauchen. Wer die dafür nötigen Leistungen zurückfährt, gefährdet das Erreichte. Und wir sind noch immer weit entfernt von gleichwertigen Lebensbedingungen in Ost und West.

Das heißt konkret: Der Solidarpakt von 1993 wird auch weiterhin das finanzielle Rückgrat des wirtschaftlichen Aufbaus bleiben.

Wir werden die Maßnahmen der aktiven Arbeitsmarktpolitik in den neuen Ländern, die vor der Wahl kurzfristig hochgefahren wurden und jetzt wieder auslaufen, auf bisherigem Niveau verstetigen.

Über Bildungs- und Qualifizierungsangebote wollen wir möglichst vielen den Weg zurück in den ersten Arbeitsmarkt ebnen. Dennoch wird aktive Beschäftigungspolitik auf relativ hohem Niveau im Osten Deutschlands noch für eine ganze Weile unverzichtbar bleiben.

Auch die, bislang bis Ende 1998 befristeten, Regelungen zum Investitionsvorrang für Ostdeutschland werden wir verlängern.

Diese Bundesregierung weckt keine Illusionen. Sie sagt, daß uns noch eine lange und schwierige Wegstrecke des wirtschaftlichen Aufbaus in den neuen Bundesländern bevorsteht.

Aber sie zollt Lebensleistung und Biografien der Menschen im Osten Achtung und Respekt.

Die Anstrengungen werden sich lohnen, denn wir haben die Chance, überall in Ostdeutschland Regionen mit ökonomischem und ökologischem Vorbildcharakter zu schaffen. Wirklich neue Wege zu gehen, statt Abziehbilder der alten Bundesrepublik herzustellen.

Die Menschen in den neuen Ländern haben Deutschland auch kulturell stark bereichert. Viele im Westen können und sollten von ihrer Zivilcourage, ihrer Kreativität und ihrem Erfindungsreichtum lernen.

Wir wissen, daß wir eine Nation sind mit einer gemeinsamen Kultur, Sprache und Geschichte. Allerdings auch eine Nation, die 40 Jahre Spaltung in getrennte Staaten hat erdulden müssen.

Wir kennen die Mängel in den Regelungen über die Rehabilitierung und Entschädigung der Opfer von DDR-Unrecht. Hier werden wir Härten beseitigen.

Gegen die Spaltung setzen wir den Willen zu mehr Normalität im Umgang miteinander. Besserwisserei und Larmoyanz, die Geringschätzung des anderen, seiner Vorlieben und Gewohnheiten, haben in einer modernen Demokratie nichts zu suchen.

Was wir allerdings verbessern wollen – und müssen -, das ist die Zielgenauigkeit der Aufbau- und Fördermaßnahmen.

Die Bundesregierung wird ein Förderkonzept entwickeln, das sich an drei Zielen ausrichtet:

Vor allem die jungen und noch nicht so finanzstarken Kleinbetriebe in den neuen Ländern leiden existentiell unter einer zunehmend verkommenden Zahlungsmoral. Wir werden dafür sorgen, daß zahlungsunwillige Schuldner begreifen, daß schlechte Zahlungsmoral sich auch finanziell nicht lohnt.

Wir wollen die Anstrengungen zur Sanierung und Gestaltung der Städte verstärken und darüber auch wieder mehr Menschen in Beschäftigung bringen.

Ich habe als Bundeskanzler erklärt, den "Aufbau Ost“ zur "Chefsache“ zu machen. Die Kompetenzen dafür werden gebündelt. Mir steht ein Staatsminister im Bundeskanzleramt zur Seite, der vor allem für eine Koordination mit den Landesregierungen der ostdeutschen Länder sorgen wird.

Das Bundeskabinett wird alle zwei Monate in einem der neuen Länder tagen, um mit den dortigen Landesregierungen die Lage zu erörtern und konkrete Projekte auf den Weg zu bringen.

Gerade in den neuen Bundesländern haben die Bürgerinnen und Bürger ihre speziellen Erfahrungen gemacht mit Dichtung und Wahrheit in der Politik. Sie haben einen Anspruch darauf, daß wir die Probleme beim Namen nennen, Lösungen entwickeln – und dann auch zügig anpacken.

10.

Realitätssinn und Reformwillen sind schließlich keine Optionen, die wir nach Belieben umsetzen oder ausschlagen könnten. Kurz vor der Jahrtausendwende ist die Welt in bahnbrechenden Veränderungen begriffen. Die Digitalisierung des Wissens und der Produktion, die Globalisierung der Waren- und Finanzmärkte zwingt uns zu Anpassungen und zum Umdenken, zum Abschied von lieb gewordenen Traditionen und Gewohnheiten. Das macht vielen Menschen angst. Aber Angst haben müssen wir nicht vor der Veränderung.

Angst müssen wir nur davor haben, im Stau selbst gesetzter Blockaden stecken zu bleiben.

Die Wirklichkeit unseres Erwerbslebens hat sich drastisch verändert. Der schöne und lange Jahre Sicherheit verheißende Ausdruck, jemand habe nach der beruflichen Qualifikation "ausgelernt“, hat seine Bedeutung verloren – das Weiter- und Dazulernen sind heute unabdingbare Anforderungen für jeden.

Aber sie sind auch eine Herausforderung an die Neugier und die Leistungsbereitschaft eines jeden. An diese veränderte Realität muß sich auch unser Sozialsystem anpassen.

So werden wir bei der Rentenreform selbstverständlich die Zunahme der sogenannten "unsteten Erwerbsverläufe“ angemessen berücksichtigen. Insbesondere Frauen dürfen nicht dafür bestraft werden, daß sie ihr Leben flexibel gestalten: daß Phasen der Kindererziehung, der Erwerbsarbeit und des Lernens einander abwechseln.

Wer das Lernen gering schätzt und die Möglichkeiten des Wissens nicht nutzt, läuft in eine Falle.

Wenn wir die ökologische Modernisierung wollen, dann heißt das auch, daß wir in verantwortbarem Rahmen die enormen Möglichkeiten nutzen und entwickeln wollen, die uns die Bio-, Medizin- und Gentechnik bieten.

Und wenn wir den Weg in eine Gesellschaft gehen wollen, die industriell stark, technisch innovativ, sozial gerecht und service-orientiert ist, dann können wir es uns nicht leisten, gerade die personenbezogenen oder die im Haushalt erbrachten Dienstleistungen als minderwertig zu diskriminieren.

Wir müssen uns trennen von der Vorstellung, daß nur in der unmittelbaren Produktion erbrachte, körperliche "Maloche“ oder der Dienst im Büroalltag wirkliche Arbeit ist.

Unser Augenmerk gilt allen, die gesellschaftlichen Wohlstand und gesellschaftliches Wohlergehen schaffen: den produktiv Beschäftigten ebenso wie den vielen, die das Wagnis der Existenzgründung auf sich nehmen. Und genau so sehr denen, die sich um die Belange der Menschen verdient machen.

Haushaltshilfe und Altenbetreuung, Einpack- oder Einpark-Service sind Dienstleistung an der Allgemeinheit, derer sich niemand schämen muß. Es werden immer mehr, die diese Dienstleistungen in Anspruch nehmen und angemessen bezahlen wollen.

Auch deshalb werden wir die sogenannten 620-Mark-Jobs nicht abschaffen. Aber wir werden sie angemessen in die Sozialversicherungspflicht einbeziehen. Die Grenze werden wir auf 300 Mark festlegen.

Da wir gleichzeitig die Pauschalbesteuerung aufheben, werden diese Tätigkeiten auch nicht unzumutbar verteuert.

Man sieht daran: Die Bundesregierung erkennt ausdrücklich die Notwendigkeit und Berechtigung solcher Beschäftigungsverhältnisse an – für die Arbeitgeber wie für die Arbeitnehmer und die Verbraucher.

Aber wir wollen, gemeinsam mit Arbeitgebern und Gewerkschaften, den Mißbrauch bekämpfen.

11.

Mehr Flexibilität im Arbeitsleben darf nicht auf Kosten sozialer Sicherheit gehen. Vor allem darf sie nicht zu Lasten der Frauen gehen – denen die Gesellschaft schon immer mit größter Selbstverständlichkeit höchste Flexibilität abverlangt.

Wir müssen die Voraussetzungen schaffen, daß Frauen, die es wollen, am Erwerbsleben teilnehmen können. Dabei haben wir nicht nur gegen überkommene Strukturen in der Gesellschaft zu kämpfen.

Wir müssen auch ein Schul- und Betreuungsystem schaffen, das die Lebenswirklichkeit moderner Familien und von Alleinerziehenden berücksichtigt.

Die Bundesregierung wird schon Anfang 1999 ein Aktionsprogramm "Frau und Beruf“ initiieren.

Wir werden ein wirksames Gleichstellungsgesetz vorlegen, auf Chancengleichheit bei der Ausbildung in zukunftsorientierten Berufen achten, Existenzgründerinnen unterstützen und die Bedingungen für flexiblere Arbeitszeiten verbessern.

Erziehungsgeld und Erziehungsurlaub werden wir zu einem Elterngeld und einem flexiblen Elternurlaub weiterentwickeln. Die Schaffung von mehr und besseren Angeboten zur Kinderbetreuung werden wir unterstützen.

Ein solches Aktionsprogramm bleibt aber Tropfen auf den heißen Stein, solange wir die objektive Benachteiligung von Frauen nicht aufheben – etwa in der Rentenversicherung.

Auch darüber ist viele Jahre geredet worden. Aber es ist nichts geschehen. Und was geschehen ist, hat die Lage der Menschen eher verschlechtert.

Auch dort sind wir deshalb gefordert:

Zu modernisieren und dabei soziale Gerechtigkeit wiederherzustellen und zu sichern.

12.

Die Bundesregierung wird zunächst die von ihrer Vorgängerin getroffenen Maßnahmen zur Verschlechterung der Situation der Renterinnen und Rentner aussetzen. Wir sagen "Maßnahmen“ und nicht: "Reform“. Denn die liegt noch vor uns.

Wir wollen den Begriff der "Reform“ wieder in sein Recht setzen.

Reform – das Wort war einmal klar definiert: Als Programm oder Projekt, das die Lebensverhältnisse der Menschen verbessert.

So war das damals, bei der Einführung des Frauenwahlrechts vor fast auf den Tag genau 80 Jahren: eine Reform, die August Bebel und die Sozialdemokraten erkämpft haben.

Und so war das in den 70er Jahren, als Sozialdemokraten und ihre Bündnispartner unter Willy Brandt und Helmut Schmidt tatsächlich "mehr Demokratie wagten“ und mehr Chancengleichheit herstellten.

Heute stehen wir erneut vor der Notwendigkeit von Reformen, die das Leben der Menschen verbessern sollen. Es geht nicht zuletzt darum, die gewaltig entfalteten Produktivkräfte, den immensen Reichtum an Waren und Dienstleistungen, den wir erwirtschaften, wieder in einen sozialen, sinnstiftenden Zusammenhang zu integrieren.

Das muß das große gesellschaftliche Projekt der Neuen Mitte sein: Die ökologische und solidarische Erneuerung unserer Gesellschaft und Ökonomie zu einer modernen, sozialen Marktwirtschaft.

Deshalb wollen wir bei der Alterssicherung eine echte Solidarität der Generationen, nicht nur eine Solidarität der Berufsgruppen. Wir wollen einen mit Leben erfüllten Generationenvertrag, keinen Vertrag zu Lasten der Arbeit.

In diesem Sinne werden wir dem Bundestag Vorschläge zur Reform der Alterssicherung vorlegen, die auf Solidarität und gesellschaftliche Realität abzielen.

Dabei geben wir eine dreifache Garantie ab:

  1. Wir werden den heute in Rente lebenden Menschen ihre Rente sichern und ihnen jedenfalls nicht ihre ohnehin oft geringen Einkünfte kürzen.
  2. Denjenigen, die heute in die gesetzliche Rentenversicherung einzahlen, sagen wir zu, daß sie damit wirksame und leistungsgerechte Rentenansprüche erwerben.
  3. Denjenigen, die jetzt ins Berufsleben eintreten, sichern wir den Umbau der Alterssicherung zu einem transparenten, zukunftsfähigen Versicherungspakt zu.

Diesen Pakt werden wir auf vier Säulen stellen:

  1. die gesetzliche Rentenversicherung;
  2. die betriebliche Altersvorsorge;
  3. private Vorsorge, deren Organisation vom Staat, etwa in steuerlicher Hinsicht, ermutigt wird;
  4. die Beteiligung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer am Produktivkapital und Gewinn der Unternehmen.

Für den Nutzen der Reformen, die wir im Grundsatz vereinbart haben, gibt es auf der ganzen Welt gute Beispiele. Von denen können wir lernen.

Dafür müssen alle Systeme der Alterssicherung auf den Prüfstand.

Bei der gesetzlichen Rentenversicherung müssen wir die finanzielle Grundlage verbreitern und versicherungsfremde Leistungen staatlich finanzieren.

Bei den Lebensversicherungen wollen wir mehr Wettbewerb und Transparenz.

Die zukunftsfähige Erneuerung der betrieblichen Altersvorsorge muß im Bündnis für Arbeit fest vereinbart werden.

Die Beteiligung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer am Produktivvermögen werden wir unterstützen. Durch Nettoentlastung der Lohn- und Einkommensteuerzahler schaffen wir Spielräume für die Tarifpartner.

Eine derartige Reform wird ihren Namen verdienen – anders als die Rentenkürzung und die weiteren sozialen Einschnitte, die wir noch in diesem Jahr aussetzen, um Raum für zukunftsfähige Lösungen zu schaffen.

Die Verschlechterungen beim Kündigungsschutz und bei der Lohnfortzahlung werden bereits zum 1. Januar 1999 aufgehoben.

Im Gesundheitswesen werden wir die Belastung der Kranken, vor allem der chronisch Kranken und der älteren Patienten zurückführen. Die Zuzahlungen der Versicherten bei Medikamenten werden, ebenfalls zum 1. Januar, gesenkt. Das sogenannte Krankenhaus-Notopfer wird ab sofort ausgesetzt.

Auch im Gesundheitswesen reichen die heute zur Verfügung stehenden Finanzmittel für eine qualitativ hochwertige Versorgung aus.

Nicht die Rationierung in der gesetzlichen Krankenversicherung ist der richtige Weg – sondern die Rationalisierung in der Versorgung.

Die Tradition der sozialen Sicherheit zu wahren, gilt manchen heute schon als revolutionär. Dafür die traditionellen Mittel aufzuwenden, wäre womöglich reaktionär. In diesem Widerspruch verfangen wir uns nicht: Wir stehen für Realität und Reform.

13.

Die Realität lehrt uns zum Beispiel, daß in Deutschland in den vergangenen Jahrzehnten eine unumkehrbare Zuwanderung stattgefunden hat. Wir haben die Menschen eingeladen, die zu uns kamen. Und wir sagen heute, daß diese unter uns lebenden Mitbürger keine Fremden sind. Zu Fremden machen sich vielmehr diejenigen, die den Fremdenhaß propagieren.

Dem setzen wir eine entschiedene Politik der Integration entgegen.

Den Zuwanderern, die bei uns arbeiten, Steuern zahlen und sich an die Gesetze halten, ist viel zu lange gesagt worden, sie seien bloß "Gäste“ bei uns. Dabei sind sie real längst Mitbürger in Deutschland.

Diese Bundesregierung wird ein modernes Staatsangehörigkeitsrecht entwickeln. Es wird die Voraussetzungen schaffen, daß diejenigen, die auf Dauer bei uns leben, und ihre Kinder, die hier bei uns geboren sind, das volle Bügerrecht erhalten können.

Niemand, der Deutscher werden will, soll dafür seine ausländischen Wurzeln aufgeben oder verleugnen müssen. Deshalb werden wir auch die doppelte Staatsbürgerschaft ermöglichen.

Integration erfordert auch und gerade die aktive Mitwirkung derer, die sich integrieren sollen. Aber wir werden denen, die dauerhaft hier leben, arbeiten und ihre Steuern zahlen, die Hand reichen, damit sie sich in unsere Demokratie einbringen können. So nehmen wir die Wirklichkeit in Europa positiv zur Kenntnis.

Unser Nationalbewußtsein basiert nicht auf den Traditionen eines wilhelminischen "Abstammungsrechts“, sondern auf der Selbstgewißheit unserer Demokratie.

Wir sind stolz auf dieses Land, auf seine Landschaften und seine Kultur, auf die Kreativität und den Leistungswillen seiner Menschen. Wir sind stolz auf die Älteren, die dieses Land nach dem Krieg aufgebaut und ihm seinen Platz in einem friedlichen Europa geschaffen haben. Wir sind stolz auf die Menschen im Osten unseres Landes, die das Zwangssystem der SED-Diktatur abgeschüttelt und die Mauer zum Einsturz gebracht haben.

Es ist das Selbstbewußtsein einer erwachsenen Nation, die sich niemandem über- oder unterlegen fühlen muß. Die sich der Geschichte und ihrer Verantwortung stellt, aber dabei nach vorne blickt. Die weiß, daß die Demokratie nie für die Ewigkeit erworben ist, sondern daß Freiheit, wie es schon in Goethes "Faust“ heißt, "täglich erobert“ werden muß.

Auch unsere Nachbarn in Europa wissen, daß sie uns um so besser trauen können, je mehr wir Deutschen selber unserer Kraft vertrauen. Es waren in der Vergangenheit immer die gefährlichen Schieflagen im nationalen Selbstbewußtsein, die zu Extremismus und Unfrieden geführt haben.

In diesen Tagen ist es 80 Jahre her, daß der Erste Weltkrieg zu Ende gegangen ist. In Frankreich und Deutschland ist damit das Gedenken an Leid und unsagbaren Schmerz verbunden.

Beide Völker sind in dem Bewußtsein geeint: "Nie wieder!“

Für uns Deutsche ist der gestrige Tag, der 9. November, geschichtsbeladen und ambivalent wie kein anderer. Kein anderes Datum symbolisiert Stolz und Schmerz, Freude und Schande in der Geschichte unserer Nation so sehr wie der 9. November.

Es ist der Tag, da die erste deutsche Republik entstand.

Es ist der Tag, an dem für Millionen von Ostdeutschen die Berliner Mauer passierbar wurde.

Aber es ist auch der Tag der Reichspogromnacht, als 1938 Deutsche in verbrecherischem Rassenwahn im ganzen Land die Synagogen anzündeten, die Häuser und Geschäfte jüdischer Mitbürger zerstörten.

Vieles, was die Väter und Mütter unserer Verfassung konzipiert haben, geschah vor allem in Erinnerung an diese nationalsozialistische Schreckensherrschaft. Die gemeinsame Geschichte verpflichtet auch uns.

Aber inzwischen ist unsere Demokratie kein zartes Pflänzchen mehr, sondern ein starker Baum.

Die Deutschen haben mit Hilfe ihrer Freunde und Verbündeten die staatliche Einheit in Frieden und Selbstbestimmung vollenden können. Wir bekennen uns uneingeschränkt zu unserer Verankerung im westlichen Bündnis und in der Europäischen Union.

Wir sind heute Demokraten und Europäer – nicht, weil wir es müssen, sondern weil wir es wollen.

Und als Demokraten und Europäer wollen wir die Instrumente der Demokratie weiterentwickeln. Wir werden sie an den Erfordernissen einer modernen Politik ausrichten, die auf Partnerschaft und Dialog gegründet ist.

Die demokratischen Beteiligungsrechte der Bürgerinnen und Bürger werden wir stärken.

Wir werden mit den Umweltverbänden über ein Verbandsklagerecht reden – das nicht noch mehr politische Entscheidungen auf die Justiz abwälzt, sondern die Beteiligung betroffener und sachkundiger Bürger schon im Vorfeld stärkt.

Wir werden da, wo es geht, Gesetze mit einem Überprüfungsvorbehalt versehen und sie nach einem vernünftigen Zeitraum der Erprobung erneut dem Parlament vorlegen, um sie zu korrigieren oder zu bestätigen.

Wir halten es mit der Maxime des großen Philosophen Ernst Bloch: "Alles Gescheite mag schon siebenmal gedacht worden sein. Aber wenn es wieder gedacht wurde, in anderer Zeit und Lage, war es nicht mehr dasselbe. Nicht nur dein Denken, sondern vor allem das zu Bedenkende hat sich unterdes geändert.“

Daran orientieren wir uns, wenn wir sagen: Wir wollen uns den Realitäten stellen und mehr Demokratie praktizieren.

14.

Es ist eine lebendige und stabile Demokratie, die wir beim Umzug der Verfassungsorgane nach Berlin mitnehmen.

Die Baumaßnahmen werden zügig zu Ende geführt, und die Bundesregierung wird helfen, die Voraussetzungen zu schaffen, die Berlin braucht, um seiner Aufgabe als Hauptstadt gerecht zu werden. Insbesondere die städtebauliche Neuordnung der Berliner Mitte werden wir unterstützen.

Aber es geht ja um mehr als einen Umzug. Es geht auch hier um einen Aufbruch.

Wir gehen nicht nach Berlin, weil wir in Bonn gescheitert wären – ganz im Gegenteil:

Das vierzigjährige Gelingen der Bonner Demokratie, die Politik der Verständigung und guten Nachbarschaft, die Leuchtkraft eines Lebens in Freiheit haben dazu beigetragen, die deutsche Teilung zu überwinden und das zu ermöglichen, was heute gemeinhin "Berliner Republik“ genannt wird.

Jürgen Habermas und viele andere erhoffen sich von dieser "Berliner Republik“ ein "ziviles Land, das sich kosmopolitisch öffnet und behutsam-kooperativ in den Kreis der anderen Nationen einfügt.“

Aber es hat in der öffentlichen Diskussion auch Einwände gegen diesen Begriff gegeben. Manchen klingt "Berlin“ immer noch zu preußisch-autoritär, zu zentralistisch. Dem setzen wir unsere ganz und gar unaggressive Vision einer "Republik der Neuen Mitte“ entgegen.

Diese Neue Mitte grenzt niemanden aus. Sie steht für Solidarität und Innovation, für Unternehmungslust und Bürgersinn, für ökologische Verantwortung und eine politische Führung, die sich als modernes Chancen-Management begreift.

Symbolisch nimmt diese Neue Mitte Gestalt an in Berlin – mitten in Deutschland und mitten in Europa.

Aber auch hier bleibt die Vergangenheit lebendig. In jüngster Zeit werden große deutsche Unternehmen mit dieser Vergangenheit in besonderem Maße konfrontiert.

Deshalb habe ich noch vor der Aufnahme meiner Amtsgeschäfte betroffene Industrieunternehmen zusammengerufen, um über einen gemeinsamen Fonds zur Entschädigung berechtigter Ansprüche von Zwangsarbeitern zu sprechen. Ich habe den Eindruck, daß die Unternehmen zu einer fairen Lösung bereit sind.

Wo es allerdings nicht um den Ausgleich erlittenen Unrechts geht, werden wir unseren Unternehmen – und damit auch ihren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern – im In- und Ausland Schutz gewähren.

Über das geplante Holocaust-Mahnmal in Berlin wird nicht per Exekutivbeschluß entschieden, sondern – unter Berücksichtigung der breiten öffentlichen Debatte – hier im Bundestag. Wir sind sicher, daß wir dabei eine würdige Lösung finden werden, die in ein Gesamtkonzept der Gedenkstättenarbeit in Deutschland eingebettet werden wird.

Aber in diesem Geschichtsbewußtsein sagen wir auch, daß Berlin noch für ganz andere Traditionen steht als für die Erinnerung an totalitäre Schreckensherrschaft.

Berlin steht eben auch für demokratische Selbstbehauptung und Freiheitswillen, wie er vor allem von sozialdemokratischen Stadtoberhäuptern wie Ernst Reuter und Willy Brandt verkörpert wurde. Für ein weltoffenes Klima, das die Stadt zum Anziehungspunkt der Jugend und der kulturellen Avantgarde aus ganz Europa gemacht hat.

Die kulturellen Brücken nach New York, Warschau, Moskau und Paris sind längst wieder geschlagen. Für die jüngeren Deutschen und Europäer ist Berlin vor allem eine heitere, aufregende Stadt – die sie von Klassenreisen, Fußballspielen oder der Love Parade kennen.

Auch und gerade an diese Traditionen werden wir anknüpfen, wenn wir Berlin zur Hauptstadt einer "Republik der Neuen Mitte“ machen wollen. Die Bundesregierung bekennt sich ausdrücklich zur kulturellen Förderung Berlins. Diese wird mit der Unterstützung kultureller Projekte und Einrichtungen in den neuen Ländern einhergehen.

Zur Bündelung der kulturpolitischen Kompetenzen des Bundes schaffen wir das Amt eines Staatsministers für kulturelle Aufgaben. Er wird Impulsgeber und Ansprechpartner für die Kulturpolitik des Bundes sein und sich auf internationaler, vor allem auf europäischer Ebene als Interessenvertreter der deutschen Kultur verstehen.

Auch dadurch wird die Bundesregierung Kulturpolitik wieder zu einer großen Aufgabe europäischer Innenpolitik machen.

15.

Die Republik der Neuen Mitte, das ist auch eine Republik des Diskurses. Er findet nicht hinter den verschlossenen Türen der Gremienvorstände statt. Die Neue Mitte sucht den Konsens über das beste Ergebnis und nicht den Kompromiß über den kleinsten gemeinsamen Nenner.

Die "neuen Medien“ sind für sie nicht ein paar mehr oder ein paar weniger Kanäle im Privatfernsehen, sondern der technisch unbegrenzte Zugang zum Wissen und zum weltweiten Informationsaustausch. Wir werden uns dafür einsetzen, gemeinsam mit den Ländern und Partnern aus der Industrie an den Schulen kostenlosen oder zumindest kostengünstigen Internet-Zugang zu ermöglichen.

Im Zeitalter von Internet und Online-Kommunikation muß aber auch das Wort von der "demokratischen Öffentlichkeit“ einen neuen Klang bekommen. Die neuen Wege der Informationsvermittlung sind eine hervorragende Chance, die Gesellschaft zum Sprechen zu bringen.

Aber sie bergen auch Gefahren. Einer verantwortlichen Medienpolitik kommt deshalb zentrale Bedeutung zu. Jeder soll Zugang zu den neuen Medien haben. Jeder soll ihren Nutzen und ihre Grenzen kennen.

Deshalb meinen wir es wörtlich, wenn wir dazu auffordern, unsere Kinder den Umgang mit Computern zu lehren: nicht nur die Technik, sondern mehr noch die Kultur der Kommunikation.

Aus Bonn nehmen wir eine gelebte, lebendige Tradition demokratischer Transparenz mit nach Berlin. Diese Transparenz wird hier, in diesem Haus des Deutschen Bundestages, sichtbar.

Den Reichstag, der nun bald deutscher Bundestag sein wird, überwölbt eine gläserne Kuppel. Das ist mehr als ein hübsches architektonisches Detail. Es sollte ein Symbol sein für die neue Offenheit und für die demokratische Renovierung dieses geschichtsbeladenen Gebäudes. Es kann ein Symbol werden für die moderne Kommunikation einer staats-bürgerlichen Öffentlichkeit.

Diese Öffentlichkeit beschränkt sich nicht auf die Politik. Die Zusammenarbeit mit den Kirchen und Religionsgemeinschaften als wichtigen Kräften des kulturellen, politischen und sozialen Lebens werden wir fördern und fortsetzen. Wir begrüßen den Dialog der Religionsgemeinschaften untereinander und ihre Bereitschaft, zu den brennenden sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Gestaltungsfragen mit Anregung und Kritik beizutragen.

Das Engagement so vieler Bürgerinnen und Bürger in Vereinen und Verbänden, im Sport, in Bürgerinitiativen und Selbsthilfegruppen ist eine der Keimzellen unseres sozialen Zusammenlebens und eigenverantwortlicher Gestaltung unserer Existenz.

Von "Koalition“ ist bei uns meist nur die Rede, wenn es um Parteien geht. Wir streben eine große gesellschaftliche Koalition an. Eine Koalition aller Kräfte, die den Wandel gestalten wollen. Wir bieten nicht nur ein Bündnis für Arbeit an, sondern ein Bündnis für die Zukunft.

16.

Berlin, das ist aber auch die Stadt, die quälende Jahrzehnte lang durch den Ost-West-Konflikt geteilt war. So glücklich wir Deutschen über dessen Überwindung sind, so bewußt sind wir uns, daß das Ende des Kalten Krieges noch lange nicht den Weltfrieden gebracht hat.

Der weltpolitische Umbruch hat in vielen Regionen neue Instabilitäten und gewaltsame Konflikte ausgelöst, auch vor unserer Haustür in Europa. Flüchtlingselend, Ressourcenknappheit und Umweltzerstörung in den Ländern des Südens sind ein gefährlicher Nährboden für neue Konflikte.

Angesichts solcher Risiken, aber vor allem angesichts der Chancen internationaler Zusammenarbeit erwartet die Welt von uns mehr als je zuvor, daß wir unseren Verpflichtungen im Rahmen unserer Bündnisse gerecht werden. Wir bleiben in Europa und in der Welt verläßliche Partner.

Der Freundschaft mit den Vereinigten Staaten von Amerika verdanken wir viel. Nicht weniger als den Frieden und unsere Freiheit.

Ich will es gar nicht verhehlen: Etliche, die heute in diesem Deutschen Bundestag sitzen – und auch manche, die jetzt Mitglieder der Regierung sind – waren nicht immer mit allem einverstanden, was unsere amerikanischen Partner, vor allem in der Hochrüstungsphase des Kalten Krieges getan und vorgeschlagen haben. Sie standen damit übrigens nicht allein in der westlichen Welt.

Aber es ist dieselbe Generation, die auch von kaum einem Ereignis der Nachkriegsgeschichte so geprägt worden ist wie von John F. Kennedys Berlin-Besuch und seinem Bekenntnis zur Freiheit Westberlins.

Schriftsteller haben diese Generation als "Kinder der amerikanischen Zone“ bezeichnet. Sie ist mit amerikanischer Kultur und amerikanischen Produkten aufgewachsen. Aus der kritischen Distanz der "Kinder“ wurde die Partnerschaft von Erwachsenen. Die Freundschaft mit Amerika wurde dieser Generation nicht aufgezwungen – sie wurde ihr angeboten, von amerikanischer Demokratie und Kultur. Es ist eine Freundschaft, die auf gegenseitiges Verständnis und immer bessere gegenseitige Kenntnis gebaut ist.

Eine Freundschaft, die sich bewährt hat und die vor keiner Bewährungsprobe steht. Wir garantieren sie nicht nur aus Kontinuität und Bündnistreue heraus. Sondern wir garantieren sie aus jenem Vertrauen, das nur aus partnerschaftlichem Miteinander-Reden und Miteinander-Fühlen entstehen konnte.

Wir stehen zu unseren Verpflichtungen im Rahmen der Atlantischen Allianz.

Die Instrumente der Gemeinsamen Europäischen Außen- und Sicherheitspolitik wollen wir ausbauen und nutzen, um Europa in der internationalen Politik endlich handlungsfähig zu machen. Darauf warten auch unsere Freunde in den Vereinigten Staaten mit Ungeduld.

Deutsche Außenpolitik ist und bleibt Friedenspolitik. Dabei bekennen wir uns ausdrücklich zu der Bereitschaft, an friedenssichernden und -erhaltenden Maßnahmen und Missionen mitzuwirken. Das gilt besonders auch für die Lage in Südosteuropa.

Wir wissen sehr genau, daß es nicht genügt, zur Durchsetzung der Menschenrechte etwa im Kosovo ein militärisches Drohpotential zu mobilisieren und, sollte dies unvermeidlich werden, es auch einzusetzen. Viel wichtiger als ein eventueller Militärschlag ist die Aufgabe, die Einhaltung geschlossener Abkommen zu überwachen und die Friedenssicherung vor Ort zu gewährleisten. Auch bei dieser Aufgabe werden sich unsere Partner auf uns verlassen können.

In Europa kommt dabei der OSZE als der einzigen gesamteuropäischen Sicherheitsorganisation überragende Bedeutung zu. Bei der Befriedung des Kosovo hat sie sich bereits eine Aufgabe neuer Qualität gesetzt. Die Bundesregierung unterstützt diese Mission nach allen Kräften.

Wir liefern damit auch eine hochmoderne Definition vom Wirken der Bundeswehr als einer Armee, die dem Frieden dient. Unsere Soldaten setzen heute ihr militärisches Know-how in immer mehr Bereichen zivil ein. Das reicht von der Eindämmung von Naturkatastrophen bis hin zu aktiver Demokratisierungshilfe.

Ausdrücklich danken wir den jungen Deutschen, die in Bosnien-Herzegowina und im Kosovo militärisch und zivil den Frieden wahren helfen. Sie wissen, welche Hypothek sie tragen; wie genau ihr Auftritt in der Welt, aber auch hier in Deutschland beobachtet wird. Und sie lösen ihre Aufgabe mit bewundernswerter Disziplin und Professionalität.

Selbstverständlich wird die Bundeswehr weiterhin zur Landes- und Bündnisverteidigung befähigt. Eine Wehrstrukturkommission wird bis Mitte der Legislaturperiode Vorschläge unterbreiten über Auftrag, Umfang, Ausrüstung und Ausbildung der Streitkräfte.

Dabei betonen wir allerdings in aller Deutlichkeit, daß das Vorhalten militärischer Potentiale der Krisenprävention dienen soll, wie auch ihr Einsatz die ultima ratio der Friedenspolitik bleiben muß. Wir werden unsere Bemühungen zur weltweiten Abrüstung und Rüstungskontrolle noch verstärken. Die Bundesregierung hält an dem Ziel der vollständigen Abschaffung der Massenvernichtungswaffen fest.

Wir wissen, daß es der Welt nicht gut gehen kann, wenn es wenigen immer besser und vielen immer schlechter geht. Die Überwindung der Kluft zwischen armen und reichen Weltregionen bleibt die größte internationale Herausforderung an der Schwelle zum 21. Jahrhundert.

Der Anteil der Entwicklungshilfe am Bruttosozialprodukt ist in den vergangenen 16 Jahren um beinahe die Hälfte gesunken, auf 0,28 Prozent. Diesen Abwärtstrend werden wir stoppen und dabei auf Effizienz und Kohärenz der Maßnahmen zur Bewältigung globaler Zukunftsaufgaben achten.

Dem Wirtschaftsgipfel 1999 in Köln werden wir eine Initiative zur weiteren Erleichterung der Schuldenlast der ärmsten Entwicklungsländer unterbreiten. Gemeinsam mit unseren Partnern in der Europäischen Union werden wir die regionale Zusammenarbeit mit den Ländern in Asien, Afrika und Lateinamerika ausbauen.

Den von verheerenden Naturgewalten heimgesuchten Staaten Zentralamerikas werden wir helfen. Nicht nur mit unmittelbarer humanitärer Hilfe, sondern auch mit Mitteln für den Wiederaufbau ihrer zerstörten Infrastrukturen. Deshalb werden wir uns in den zuständigen internationalen Gremien für einen möglichst umfassenden Schuldenerlaß einsetzen.

Den Vereinten Nationen werden wir eigenständige Einheiten für friedenserhaltende Maßnahmen anbieten. Dabei setzt sich die Bundesregierung aktiv dafür ein, das Gewaltmonopol der Vereinten Nationen zu bewahren und die Rolle ihres Generalsekretärs zu stärken. Die Möglichkeit, ständiges Mitglied im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen zu werden, werden wir wahrnehmen, sofern ein gemeinsamer europäischer Sitz nicht erreichbar ist.

Wir maßen uns nicht an, international die Rolle einer Führungsmacht zu spielen oder in Krisensituationen ohne Abstimmung mit unseren Partnern politische Initiativen zu ergreifen.

Uns ist weltweit an guter Zusammenarbeit gelegen, auch unsere Außenwirtschaftsbeziehungen sollen dem Frieden und der Demokratisierung dienen.

Als dritte Säule unserer Außenpolitik werden wir die Auswärtige Kulturpolitik stärken und ausbauen. Das ist gerade unter den Bedingungen der Globalisierung unverzichtbar.

Wir wissen es aus eigener Erfahrung: Frieden braucht wirtschaftliche Entwicklung, und die wirtschaftliche Entwicklung braucht den Frieden.

Nur dort, wo die Menschen spüren, daß Frieden und Demokratie sich lohnen, daß friedliche Entwicklung ihre Lage spürbar verbessert, können Krisen dauerhaft gelöst werden.

Eine solche Aufgabe stellt sich uns, gemeinsam mit unseren europäischen Partnern, etwa im Nahen Osten. Im Friedensprozeß zwischen Israel, den Palästinensern und den arabischen Nachbarstaaten können und wollen wir nicht die Rolle des Paten im Friedensprozeß spielen.

Dieser Part kommt den Vereinigten Staaten von Amerika und den internationalen Organisationen zu.

Aber wir Europäer können durch gezielte Wirtschaftshilfe, durch Öffnung der Märkte und Beteiligung an Infrastrukturmaßnahmen dazu beitragen, den Friedensprozeß unumkehrbar zu machen. Damit können wir unserer historischen Verantwortung gerecht werden – für Israel und für den Frieden.

17.

Die Einbindung Deutschlands in die Europäische Union ist von zentraler Bedeutung für die deutsche Politik. Die Bundesregierung wird deshalb insbesondere die deutsche Ratspräsidentschaft im ersten Halbjahr 1999 nutzen, um den europäischen Integrationsprozeß voranzutreiben.

Nur durch die Weiterentwicklung zu einer politischen Union sowie zu einer Sozial- und Umweltunion wird es gelingen, unser gemeinsames Europa bürgernah zu gestalten.

Durch den Regierungswechsel in Deutschland und die neuen politischen Realitäten in Europa ergibt sich endlich die Chance einer europäischen Sozial- und Beschäftigungspolitik. Der Kampf gegen die Arbeitslosigkeit kann endlich als europäische Frage behandelt werden. Er ist nicht länger Fußnote zu Beschlüssen des Ministerrats, sondern steht ganz oben auf der europäischen Tagesordnung.

Unser Ziel ist ein europäischer Beschäftigungspakt. In ihn sollen ausdrücklich verbindliche Ziele zum Abbau der Jugend- und Langzeitarbeitslosigkeit sowie zur Überwindung der Diskriminierung von Frauen auf dem Arbeitsmarkt aufgenommen werden. Zur Schaffung von zukunftsfähigen Arbeitsplätzen werden wir uns auch in der Europäischen Union für eine Politik der ökologischen Modernisierung einsetzen.

Die europäische Währungsunion ist eine unumkehrbare Tatsache. Der Euro wird uns die völlige Vergleichbarkeit der Preise und Leistungen bringen.

Damit ist die Zeit nationaler Alleingänge endgültig vorbei. Das gilt zum Beispiel auch für die Weiterentwicklung der ökologischen Steuerreform. Sie kann nur im europäischen Rahmen gelingen.

Die gemeinsame Währung muß ein Erfolg werden. Das heißt, sie muß stabil sein und bleiben.

Die Stabilitätsorientierung der künftigen europäischen Geldpolitik stellen wir nicht in Frage.

Aber die auch vom Bundesbankpräsidenten als "wünschenswert“ bezeichnete Diskussion um die Zinspolitik wollen wir führen. Die Unabhängigkeit der Bundesbank und der Europäischen Zentralbank wird selbstverständlich respektiert und gewahrt.

Sie ergibt sich aus dem Bundesbankgesetz und aus Artikel 107 des Maastrichter Vertrages. Dort wurde sie verankert, weil sie sachlich geboten und der Stabilität dienlich ist.

Dabei entspricht es guter Tradition demokratisch verfaßter Gesellschaften, daß die Europäische Zentralbank ihre geldpolitischen Entscheidungen regelmäßig im Europäischen Parlament darlegen wird.

Der Bundesfinanzminister hat als einer der ersten auf die Notwendigkeit hingewiesen, zu wirksamen internationalen Vereinbarungen zu kommen, um die Turbulenzen auf den Weltfinanzmärkten zu glätten. Diese Notwendigkeit wird heute bei der Bundesbank, bei unseren europäischen und nordamerikanischen Partnern bis hin zur Weltbank und zur US-Notenbank genauso gesehen. Auch und gerade wegen der internationalen Finanzkrisen müssen wir darauf hinwirken, daß Europa mit einer Stimme spricht.

Es wird deshalb ein erster Schwerpunkt der Ratspräsidentschaft sein, die Deutschland am 1.1.1999 übernimmt, die Verhandlungen zur "Agenda 2000“ bereits bei einem Sondertreffen des Europäischen Rats im Frühjahr 1999 abzuschließen. Es geht dabei um Aufgaben, Ausgaben und Finanzierung der Europäischen Union.

Im Rahmen der Neuregelung der EU-Finanzen wollen wir dabei auch zu einer höheren Beitragsgerechtigkeit kommen und die deutsche Nettobelastung auf ein faires Maß verringern.

Bei der Agrarpolitik werden wir uns auf europäischer Ebene für grundlegende Veränderungen einsetzen. Wo die Angleichung der Preise an das Weltmarktniveau die deutschen Bauern benachteiligt, müssen wir in Europa ein System direkter Einkommensbeihilfen durchsetzen, das auch national ergänzt werden kann. Auch die EU muß sparsam wirtschaften, ihre Mittel effizient und zielgerecht einsetzen und den Subventionsmißbrauch bekämpfen. Und auch in Europa müssen wir uns auf die strukturschwächsten und förderungsbedürftigsten Regionen konzentrieren. Dabei dürfen die neuen deutschen Bundesländer gegenüber vergleichbaren Regionen Europas nicht diskriminiert werden.

Wir werden dafür sorgen, daß Deutschland in der EU nicht länger als Bremser bei der Sozialpolitik auftritt. Wir werden aktiver Schrittmacher bei der Reform der EU sein.

Wir wollen nicht, daß der Euro Deutsch spricht. Wir wollen, daß Mark, Franc und Schilling Europäisch fühlen.

18.

Die Erwartungen unserer Nachbarn und Partner an diese Bundesregierung sind enorm. Wir werden diese Erwartungen nicht enttäuschen.

Die regelmäßigen Konsultationen mit Frankreich und Großbritannien sind für uns keine bloße Formsache.

Die deutsch-französische Freundschaft ist das Fundament unserer Europapolitik. Diese Freundschaft wollen wir auf eine noch breitere gesellschaftliche und vor allem kulturelle Grundlage stellen.

Unseren Nachbarn im Osten versichern wir, daß wir die Chance der EU-Osterweiterung entschlossen nutzen werden. Europa wird und darf nicht am ehemaligen Eisernen Vorhang oder an der deutschen Ostgrenze enden. Die Deutschen werden nicht vergessen, welch unschätzbaren Beitrag die Völker in Ungarn und Polen zur Überwindung der deutschen Teilung geleistet haben. Wir wollen sie partnerschaftlich in die EU integrieren. Die Beachtung angemessener Übergangsfristen, zum Beispiel bei der Arbeitnehmerfreizügigkeit, dient nicht der Abwehr oder Verzögerung, sondern dem vollständigen Gelingen der Integration.

Die Bundesregierung ist sich ihrer besonderen historischen Verantwortung gegenüber Polen bewußt. Sie wird ihr gerecht werden mit dem Angebot einer immer engeren Partnerschaft sowie der Verstärkung der Zusammenarbeit zwischen Deutschland, Frankreich und Polen.

Die Bundesregierung wird zügig daran arbeiten, auf Grundlage der deutsch-tschechischen Erklärung noch bestehende Probleme im Verhältnis zur Tschechischen Republik abzubauen.

19.

Die gemeinsame Währung ist ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur europäischen Integration. Aber sie gibt nur einen Rahmen vor. Den müssen wir mit Leben füllen. Wir brauchen eine zügige und glaubwürdige Demokratisierung der europäischen Institutionen.

Dabei steht für die Bundesregierung fest, daß unser Europa die nationalen Identitäten nicht ersetzen oder aufheben soll. Dennoch, oder gerade deshalb scheint eine föderale Ordnung in Europa die beste Gewähr für Frieden, Solidarität und Fortschritt.

Bei uns in Deutschland hat sich das föderale System bewährt. Bund und Länder bleiben auf die Kooperation angewiesen. Kooperation bedeutet dabei nicht die Aufgabe der eigenen Interessen. Die Bundesregierung wird sich beteiligen an der gemeinsamen Formulierung einer zeitgemäßen Aufgabenverteilung im Verhältnis zwischen Bund und Ländern. Nur im sachgerechten Interessenausgleich werden beide Seiten ihrer gesamtstaatlichen und europäischen Verantwortung gerecht.

Am Ende dieses Jahrtausends wird Deutschland zwei internationale Großereignisse ausrichten. Im Jahre 1999 wird Weimar europäische Kulturhauptstadt sein, im Jahr darauf findet die Expo 2000 in Hannover statt.

Beide Veranstaltungen werden die Bundesrepublik Deutschland ins internationale Rampenlicht stellen.

Weimar wird die erste europäische Kulturhauptstadt in den neuen Bundesländern sein und versuchen, eine Brücke zu schlagen zwischen kulturellem Erbe und dem historischen Auftrag aus unserer Geschichte; die Expo 2000 wird für unseren Aufbruch in die Welt des 21. Jahrhunderts stehen.

Die Bundesregierung ist sich der Bedeutung dieser Ereignisse bewußt und sie wird ihnen zum internationalen Erfolg verhelfen.

Sie verläßt sich auch dabei auf die Leistungsbereitschaft, die Gastfreundschaft und die Neugier unserer Menschen.

Gegen die Konkurrenz der Wirtschafts-Standorte setzen wir das Konzept von Europa als Lebens-Ort und Lebens-Art.

20.

Wir stehen für das Zukunftsprojekt Deutschland in Europa. Dabei stehen wir in vorderster Reihe mit den sozialen Modernisierern unserer Nachbarländer. Diese Chance, gemeinsam ein modernes Europa der sozialen Marktwirtschaft und der ökologischen Verantwortung zu bauen, werden wir beherzt ergreifen.

Wir machen keine unhaltbaren Versprechungen. Aber wir können und wollen Mut machen; Mut zu einer neuen Zivilität und zu mehr Partnerschaft, aber auch Mut zum Optimismus, zur Neugier auf die Zukunft.

Ich erinnere an Willy Brandt, der vor diesem Parlament 1973 in der Regierungserklärung seines Reformbündnisses den "vitalen Bürgergeist“ zitiert hat, der in dem Bereich zu Hause sei, den auch er die "neue Mitte“ genannt hat.

Helmut Schmidt hat vor diesem Haus in seiner Regierungserklärung 1976, in vergleichbar schwieriger Wirtschaftslage, gesagt, die Bundesregierung setze bei ihren Bemühungen zuallererst "auf den Fleiß, die Intelligenz und das Verantwortungsbewußtsein der Deutschen“.

Daran knüpfe ich bewußt an. Und ich bin sicher:

Wir werden es schaffen. Weil wir Deutschlands Kraft vertrauen.  

Quelle: DIE WELT, November 1998 (Hervorhebungen: W. NÄSER 22.11.98)