Deutsch im 20. Jahrhundert * Dr. Wolfgang Näser * Mi 16-18, HS 110 Biegenstraße 14 * Beginn 10.4.2002
Rezzori, Gregor von (1914-1998): aus: Maghrebinische Geschichten (1958)
VORBEMERKUNG: Als Sohn eines k.u.k. Staatsbeamten wird der Autor am 13.5.1914 in Czernowitz /Bukowina geboren, arbeitet nach seinem Schulbesuch zunächst als Zeichner in Bukarest, lebt 1934 bis 1938 in Wien und übersiedelt dann nach Berlin, wo er zu schreiben beginnt. Nach Studien in Leoben (Montan-Universität) und Wien (Architektur, Medizin) wird er Redakteur und ab 1946 freier Mitarbeiter beim NWDR Hamburg. Seit 1960 lebt er in der Toskana und stirbt dort in seinem Haus am 23.4.1998. Rezzori wirkt in zahlreichen Filmen mit und zeichnet sich als Schriftsteller durch einen unvergleichlichen Humor aus, der uns besonders in den Maghrebinischen Geschichten begegnet, die als rororo-Buch in hunderttausenden von Exemplaren bei Rowohlt in Hamburg gedruckt wurden und entsprechend viele Leser erfreuten. Maghrebinien hat nichts mit dem eigentlichen Maghreb (Nordwestafrika) zu tun, sondern versteht sich hier als Phantasie-Nation in Südosteuropa. Deren Bewohner werden mit allen liebenswerten und absonderlichen Charakterzügen des Balkans geschildert, sozusagen im alles überlagernden Duft des Knoblauchs, des, wie Rezzori sagt, Lotos Maghrebiniens. Aus dem die Lachmuskeln heftig strapazierenden Büchlein habe ich mehrere kurze Passagen ausgewählt, die - falls Interesse besteht - hier als Zitate im Rahmen unserer Lehrveranstaltung gelesen und besprochen werden (und Lust auf weitere Lektüre machen) sollen. MR, im April 2002, W. Näser
1. Um die Grenzen Maghrebiniens im Herzen und in der Seele seiner
Bewohner abzustecken, erzählt man sich zahllose Geschichten, vor allem
eine:
Ein Jude, ein Zigeuner und ein Maghrebinier kamen einmal in eine Kirche.
Vor der Ikonostasis (das ist: die Bilderwand, die das Allerheiligste
vom Laienraum trennt) stand ein wundervolles Kreuz von lauterem Golde, über
und über mit taubeneigroßen Edelsteinen besetzt. Als die drei
die Kirche wiederum verlassen hatten und eine Weile schweigsam nebeneinander
hergegangen waren, sagte der Jude: "Gojim nachetz! (Das will heißen:
O hinfällige Sorgen der Christen!) Etwas ein weniger ein teures Kreuz
möcht es nebbich auch tun für die prosten Bauern. Gott soll
schützen! Wenn man nicht wär ein gottesfürchtiger Mensch,
man hätt es können stehlen." Darauf lächelte der Zigeuner
und sagte leise: "Hat ihm schon." Der Maghrebinier aber ging stumm beiseite
und dachte bei sich: "Du - hast ihm gehabt."
2. Das Gepränge [der Hochzeit des Wojwoden Przibislaw Karakriminalowitsch] war ungeheuerlich. Allein an Knoblauch, so überliefert der Letopisetz Mamadrakului, wurden vierzehntausend Wagenladungen verzehrt, so daß schließlich, anläßlich der circensischen Spiele, welche zur Zerstreuung der Gäste abgehalten wurden, die Löwen sich weigerten, sich die Köpfe der Dompteure in den Rachen legen zu lassen, weil jene so heftig danach stanken. Bedenkt man, daß auf den Kurdjuk (das ist: der Steiß des Fettschwanzhammels) höchstens sechs bis sieben Knoblauchzehen kommen, so wird man sich eine Vorstellung vom Ausmaß der Feierlichkeiten machen. Damals geschah es, daß Godschamitu Pungaschij, der Hüne, in der Trunkenheit die vollzählige Belegschaft der Frauenzelte des Dworniks Michael Kantakukuruz (Vater des vorerwähnten Mischa) inklusive der Eunuchen schändete - ein Vorfall, der Anlaß zur Entstehung der sogenannten maghrebinischen Vendetta gab, wonach jeweils die männlichen Glieder der darin verwickelten Parteien durch wechselseitige Notzüchtung der weiblichen ihre Rache übten.
3. "Nun wird ja", sagte mein Onkel Kantakukuruz, "behauptet, daß man den Charakter der Frauen an ihren Knien erkennen könnte, und man erzählt sich von einem Manne, der davon im Hamam beim Tawli-Spiel erfahren hatte (das ist: ein Brettspiel, dem man im Westen den irreführenden Namen 'Puff' gegeben hat): daß nämlich gutmütige Frauen runde Knie, boshafte dagegen spitze hätten". Jener Mann, so heißt es, ging nach Hause, zog die Decke von seiner Frau, die bereits im Bette lag, und betrachtete sie nachdenklich. "Gut bist du nicht", sagte er endlich, "schlecht bist du auch nicht. Aber schmutzig bist du!"
4. In der Hauptstadt Maghrebiniens, Metropolsk, befindet sich
an der Kreuzung der beiden wichtigsten Verkehrsadern, der Schossea
Pungaschijlor (das ist: die Straße der Beutelschneider) und der
Kalea Hotzijlor (das ist: die Gasse der Diebe), das weit über
die Grenzen des Landes hinaus bekannte und berühmte Restaurant Tschina
(das ist: das Abendmahl). Es liegt zwischen dem Nationaltheater zur einen
und dem Palast der Karakriminalowitsch zur andern Seite. Es ist jenes für
die Güte seiner Speisen und die Erlesenheit seiner Weine so berühmte
Gasthaus, in dem sich einmal ein wenig einfallsreicher Ausländer den
geschmacklosen Scherz erlaubte, die Türe aufzureißen und in den
vollbesetzten Saal zu rufen: "Rettet euch! Alles ist herausgekommen!"
Innerhalb weniger Augenblicke war damals das Restaurant ein Schauplatz der
Verwüstung, umgestürzter Tische, verschütteten Kaviars,
zersplitterter und vergossener Weinkaraffen und Olivenschalen und vertretener
Melonen. Nur mit Mühe gelang es auch, den zitternden Wirt, einen gewissen
Schorodok, unter den Trümmern hervorzuholen und ihn zu
überzeugen, daß es sich um (wenn auch einen schlechten) Spaß
gehandelt habe.
5. Mein Onkel, ein großer Herr, ein Bojar aus dem Geschlecht
der Kantakukuruz, ehemals Gospodar und Adelsmarschall unserer Provinz
und Vorsitzender der Kommission zur Überprüfung der Lage der Bauern,
zerdrückte eine Träne in seinem Auge. Sie fiel auf einen Ring,
den er an seinem Finger trug, einen schlichten Goldreif, und glänzte
darauf wie ein Karfunkel.
"Kyra Kyralina", so seufzte mein Onkel Kantakukuruz, "ich habe sie sehr geliebt.
Sie war dabei gar nicht mehr die Allerjüngste, aber von reifer
Schönheit, vor Süße berstend wie ein Granatapfel -: rote
Haare, grüne Augen und eine weiße Haut - Perlenzähne... Einmal
freilich, als sie zu heftig tanzte, hatte sie sich mit dem Tamburin einen
der Backenzähne eingeschlagen - hier diesen, der siebte Mesial,
und ich hatte ihn ihr durch unseren Zahnarzt - du entsinnst dich: den gewissen
Seligmann - durch ihn hatte ich ihr die Lücke mit Gold füllen lassen.
Daraus", so sagte mein Onkel und seufzte schwer, "ist dieser Ring. Ich trage
ihn als Souvenir..."
Wird ergänzt. Auswahl / HTML / Layout (c) W. Näser, MR, 18.4.2002