Anmerkung: Zur Problematik der phonetischen Transkription oder: Gibt es Exploratoren-Dialekte?
Jeder, der einmal das "Vergnügen" hatte, sich eingehend mit der phonetischen Transkription dialektaler Äußerungen zu befassen, weiß, auf welch schwieriges Unterfangen er sich dabei einläßt - vor allem dann, wenn wirklich alle möglichen Allophone zu dokumentieren sind, wenn eine maximal umfassende Lautschrift zum Einsatz kommt und wenn diffizile perzeptorische und distinktive Probleme involviert sind.
Phonetische Transkription verlangt als Voraussetzungen:
Es ist nicht immer einfach, alle diese Voraussetzungen kritisch zu beurteilen. Teamarbeit im Sinne von [5] kann zum einen bedeuten, daß man seine Deutung zurückstellt oder daß die übrigen Mitglieder des Teams die von mir erarbeitete Lösung - obzwar unerwartet - akzeptieren (nicht immer ist das, was die Mehrheit fordert, richtig).
INDIVIDUELLE UND ALLGEMEINE
PROBLEME
Auch wenn ein Team dahintersteht, arbeitet jeder Transkribent immer auf der
Basis ganz persönlicher Erfahrung - sei es infolge längerer
transkriptorischer Tätigkeit, aufnahme- bzw. tontechnischer
Beschäftigung mit Musik und Sprache oder anderer Voraussetzungen. Manche
Transkribenten entwickeln eigenständige Strategien zur Lösung
kniffliger Probleme, so z.B. das Rückwärtshören
bestimmter Segmente, die als Diphthong in Frage kommen (könnten).
Oder sie versuchen, das nachzusprechen, was sie hören, und dabei auf
Positionierung und Arbeit des eigenen Artikulationsapparates zu achten. Besonders
schwierig gestaltet sich auch das Auseinanderhalten von Fortis /
Lenis und behauchter sowie unbehauchter
Konsonantenanlaute. Auch ist es nicht einfach, z.B. im Falle des
zentralhessischen [ki->in] 'Kind(er)' zu entscheiden, wie das seltsame
/i/ zu transkribieren sei, etwa entsprechend schreibsprachlich /ir/ oder
als gleitender Übergang zweier /i/-Allophone. - Vernachlässigt
wurde bislang als physiologisch-rezeptionsästhetisches Problem die
persönliche Entscheidung, über Kopfhörer oder
Lautsprecher (Studio-Monitor) abzuhören: eine durchaus im Hinblick
auf gewisse akustische Mikro-Prozesse nicht unkritische Wahl. Als letztes
sei auf performative Divergenzen hingewiesen, die daraus resultieren, daß
nicht immer dann abgehört wird, wenn sich das physiologische System
im ausgeruhtesten Zustand befindet.
DIALEKTALE PERFORMANZ
Auch wäre grundsätzlich zu fragen, ob ein Transkribent den Dialekt,
den er erhebt und dokumentiert, aktiv beherrschen, d.h. ihn sprechen
können sollte. In Fällen, wo der Dialekt aus einem ziemlich 'fremden'
Raum stammt (also z.B. Niederfränkisch als Gegenstand für
einen Bayern), wäre das unerläßlich, während in anderen
Fällen ein klassifikatorisch, systemar und komparatistisch qualifizierter
Linguist und Philologe keine Schwierigkeiten haben sollte - vor allem dann,
wenn in strittigen Fragen Objektivität (und damit
Unvoreingenommenheit) gefordert wäre.
INTER- UND INTRAPERSONELLE
DIVERGENZEN
Erstaunliche Ergebnisse können dann zutagetreten, wenn eine Person im
Abstand mehrerer Jahre dieselbe Sprachäußerung transkribiert und/oder
wenn sich die zuletzt erarbeitete Transkription in erheblichem Widerspruch
befindet zu der von einem anderen Transkribenten im früheren Team
präsentierten Lösung. Dabei muß die zuletzt erarbeitete
Lösung nicht zwingend die richtigere sein, kann sich doch das Hör-
und Unterscheidungsvermögen nach Jahren auch verschlechtern;
auch können sich bis dato gewisse Auffassungen bzw. Lehrmeinungen
geändert haben. Insofern haben Untersuchungen, die sich mit solchen
Phänomenen befassen, nur bedingte Aussagekraft.
ADÄQUATHEITSKRITERIUM UND
OBJEKTIVITÄT
Transkribenten, die - aus welchen Gründen auch immer - abweichende und
scheinbar ungewöhnliche Lösungen präsentieren, werden bisweilen
mit dem Verdikt belegt, falsche persönliche Erfahrungswerte oder gar
mangelnde Qualifikation einzubringen; ich verweise hierzu auf den von Antonio
ALMEIDA und Angelika BRAUN in der ZDL 53 (1986),
S. 158-172 publizierten Aufsatz "'Richtig' und 'Falsch' in phonetischer
Transkription. Vorschläge zum Vergleich von Transkriptionen mit Beispielen
aus deutschen Dialekten" (vgl. auch deren wichtigen Beitrag "Probleme der
phonetischen Transkription" in: BESCH, Werner u.a. (Hgg.):
Dialektologie. Ein Handbuch zur deutschen und allgeneinen Dialektforschung.
Berlin/N.Y. 1982, 597-615).
Das in dieser weitgehend statistisch basierten Analyse gnadenlose Abqualifizieren des Transkribenten "W.N." läßt Fragen offen: die nach allgemein menschlichen und organisch-physiologischen Gegebenheiten ebenso wie jene, ob innerhalb eines Untersuchungsfeldes von lediglich 3 Personen und einer sehr begrenzten, in puncto Authentizität und "Tatzeit" nicht nachprüfbaren Beispielmenge solche Ergebnisse, Urteile und Schlußfolgerungen objektiv berechtigt sind. Es bleibt das zentrale Problem, ob und inwieweit sich individuelle Forscher auf der Basis ihres individuellen, idiolektalen Erfahrungshorizontes ein rezeptionsästhetisches Alleinvertretungsrecht anmaßen können und dürfen - oder, wie Braun und Almeida einräumen:
"Transkribieren ist per definitionem eine subjektgebundene Tätigkeit. Es wäre somit verfehlt, die Forderung objektiver Richtigkeit an sie herantragen zu wollen, da sich keine objektiven Kriterien für die Fehlerhaftigkeit oder Korrektheit phonetischer Transkriptionen formulieren lassen." (ebd. S. 170)
Die schon aufgrund der enormen Datenmenge (die meisten Sprach-Tondokumente sind wegen Personalmangels noch untranskribiert) und hinsichtlich der geforderten Kontinuität und Objektivität mehr als überfällige, seit Jahrzehnten herbeigesehnte automatische Transkription wird in Kürze real sein. An der Wende zum dritten Jahrtausend wird bereits nachgedacht über PC-Systeme mit 1-Gigahertz-Prozessoren und auch die bislang entwickelten rein digitalen Prozessoren und Filter bieten beste Voraussetzungen für eine auch die phonetische Transkription einbeziehende Echtzeitverarbeitung flüssiger Sprechsprache - was noch fehlt, ist entsprechende Software, die auch unabhängig von internen Lexika arbeitet oder zumindest schnelle automatische Lernprozesse ermöglicht. Vielleicht helfen dann rein meßtechnisch basierte Beurteilungskriterien, einen objektiven Standard zu entwickeln, der langzeitig und daher konstant einer automatischen Transkription zugrundeliegen könnte.
(c) Dr. W. Näser, 8. Dezember 1999