Anmerkung: Zur Problematik der phonetischen Transkription oder: Gibt es Exploratoren-Dialekte?

Jeder, der einmal das "Vergnügen" hatte, sich eingehend mit der phonetischen Transkription dialektaler Äußerungen zu befassen, weiß, auf welch schwieriges Unterfangen er sich dabei einläßt - vor allem dann, wenn wirklich alle möglichen Allophone zu dokumentieren sind, wenn eine maximal umfassende Lautschrift zum Einsatz kommt und wenn diffizile perzeptorische und distinktive Probleme involviert sind.

Phonetische Transkription verlangt als Voraussetzungen:

  1. physiologisch intaktes (und möglichst volles) Hörvermögen,
  2. Fähigkeit zu äußerster Konzentration,
  3. gehörmäßige und phonetisch-transkriptorische Schulung,
  4. arbeitsmäßige Kontinuität,
  5. Bereitschaft zur Teamarbeit.

Es ist nicht immer einfach, alle diese Voraussetzungen kritisch zu beurteilen. Teamarbeit im Sinne von [5] kann zum einen bedeuten, daß man seine Deutung zurückstellt oder daß die übrigen Mitglieder des Teams die von mir erarbeitete Lösung - obzwar unerwartet - akzeptieren (nicht immer ist das, was die Mehrheit fordert, richtig).

INDIVIDUELLE UND ALLGEMEINE PROBLEME
Auch wenn ein Team dahintersteht, arbeitet jeder Transkribent immer auf der Basis ganz persönlicher Erfahrung - sei es infolge längerer transkriptorischer Tätigkeit, aufnahme- bzw. tontechnischer Beschäftigung mit Musik und Sprache oder anderer Voraussetzungen. Manche Transkribenten entwickeln eigenständige Strategien zur Lösung kniffliger Probleme, so z.B. das Rückwärtshören bestimmter Segmente, die als Diphthong in Frage kommen (könnten). Oder sie versuchen, das nachzusprechen, was sie hören, und dabei auf Positionierung und Arbeit des eigenen Artikulationsapparates zu achten. Besonders schwierig gestaltet sich auch das Auseinanderhalten von Fortis / Lenis und behauchter sowie unbehauchter Konsonantenanlaute. Auch ist es nicht einfach, z.B. im Falle des zentralhessischen [ki->in] 'Kind(er)' zu entscheiden, wie das seltsame /i/ zu transkribieren sei, etwa entsprechend schreibsprachlich /ir/ oder als gleitender Übergang zweier /i/-Allophone. - Vernachlässigt wurde bislang als physiologisch-rezeptionsästhetisches Problem die persönliche Entscheidung, über Kopfhörer oder Lautsprecher (Studio-Monitor) abzuhören: eine durchaus im Hinblick auf gewisse akustische Mikro-Prozesse nicht unkritische Wahl. Als letztes sei auf performative Divergenzen hingewiesen, die daraus resultieren, daß nicht immer dann abgehört wird, wenn sich das physiologische System im ausgeruhtesten Zustand befindet.

DIALEKTALE PERFORMANZ
Auch wäre grundsätzlich zu fragen, ob ein Transkribent den Dialekt, den er erhebt und dokumentiert, aktiv beherrschen, d.h. ihn sprechen können sollte. In Fällen, wo der Dialekt aus einem ziemlich 'fremden' Raum stammt (also z.B. Niederfränkisch als Gegenstand für einen Bayern), wäre das unerläßlich, während in anderen Fällen ein klassifikatorisch, systemar und komparatistisch qualifizierter Linguist und Philologe keine Schwierigkeiten haben sollte - vor allem dann, wenn in strittigen Fragen Objektivität (und damit Unvoreingenommenheit) gefordert wäre.

INTER- UND INTRAPERSONELLE DIVERGENZEN
Erstaunliche Ergebnisse können dann zutagetreten, wenn eine Person im Abstand mehrerer Jahre dieselbe Sprachäußerung transkribiert und/oder wenn sich die zuletzt erarbeitete Transkription in erheblichem Widerspruch befindet zu der von einem anderen Transkribenten im früheren Team präsentierten Lösung. Dabei muß die zuletzt erarbeitete Lösung nicht zwingend die richtigere sein, kann sich doch das Hör- und Unterscheidungsvermögen nach Jahren auch verschlechtern; auch können sich bis dato gewisse Auffassungen bzw. Lehrmeinungen geändert haben. Insofern haben Untersuchungen, die sich mit solchen Phänomenen befassen, nur bedingte Aussagekraft.

ADÄQUATHEITSKRITERIUM UND OBJEKTIVITÄT
Transkribenten, die - aus welchen Gründen auch immer - abweichende und scheinbar ungewöhnliche Lösungen präsentieren, werden bisweilen mit dem Verdikt belegt, falsche persönliche Erfahrungswerte oder gar mangelnde Qualifikation einzubringen; ich verweise hierzu auf den von Antonio ALMEIDA und Angelika BRAUN in der ZDL 53 (1986), S. 158-172 publizierten Aufsatz "'Richtig' und 'Falsch' in phonetischer Transkription. Vorschläge zum Vergleich von Transkriptionen mit Beispielen aus deutschen Dialekten" (vgl. auch deren wichtigen Beitrag "Probleme der phonetischen Transkription" in: BESCH, Werner u.a. (Hgg.): Dialektologie. Ein Handbuch zur deutschen und allgeneinen Dialektforschung. Berlin/N.Y. 1982, 597-615).

Das in dieser weitgehend statistisch basierten Analyse gnadenlose Abqualifizieren des Transkribenten "W.N." läßt Fragen offen: die nach allgemein menschlichen und organisch-physiologischen Gegebenheiten ebenso wie jene, ob innerhalb eines Untersuchungsfeldes von lediglich 3 Personen und einer sehr begrenzten, in puncto Authentizität und "Tatzeit" nicht nachprüfbaren Beispielmenge solche Ergebnisse, Urteile und Schlußfolgerungen objektiv berechtigt sind. Es bleibt das zentrale Problem, ob und inwieweit sich individuelle Forscher auf der Basis ihres individuellen, idiolektalen Erfahrungshorizontes ein rezeptionsästhetisches Alleinvertretungsrecht anmaßen können und dürfen - oder, wie Braun und Almeida einräumen:

"Transkribieren ist per definitionem eine subjektgebundene Tätigkeit. Es wäre somit verfehlt, die Forderung objektiver Richtigkeit an sie herantragen zu wollen, da sich keine objektiven Kriterien für die Fehlerhaftigkeit oder Korrektheit phonetischer Transkriptionen formulieren lassen." (ebd. S. 170)

Die schon aufgrund der enormen Datenmenge (die meisten Sprach-Tondokumente sind wegen Personalmangels noch untranskribiert) und hinsichtlich der geforderten Kontinuität und Objektivität mehr als überfällige, seit Jahrzehnten herbeigesehnte automatische Transkription wird in Kürze real sein. An der Wende zum dritten Jahrtausend wird bereits nachgedacht über PC-Systeme mit 1-Gigahertz-Prozessoren und auch die bislang entwickelten rein digitalen Prozessoren und Filter bieten beste Voraussetzungen für eine auch die phonetische Transkription einbeziehende Echtzeitverarbeitung flüssiger Sprechsprache - was noch fehlt, ist entsprechende Software, die auch unabhängig von internen Lexika arbeitet oder zumindest schnelle automatische Lernprozesse ermöglicht. Vielleicht helfen dann rein meßtechnisch basierte Beurteilungskriterien, einen objektiven Standard zu entwickeln, der langzeitig und daher konstant einer automatischen Transkription zugrundeliegen könnte.

(c) Dr. W. Näser, 8. Dezember 1999