Wörter und Wendungen, SS 1997, Dr. Wolfgang Näser, Di 16-18 h, HS 207 Biegenstr. 14

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Das Rotkäppchen

von Peicheng Chu

Sonntag morgen stand Rotkäppchen sehr früh auf. Fröhlich flüsterte sie vor sich hin: "Heute ist ein Wetter zum Eierlegen, da ist bei mir der Bär los." Sie trug das rote Cape, das sie am liebsten anhatte, lief rasch zu ihrem geliebten roten Sportwagen, der unter Brüdern gut und gerne seine 3000 Mark wert war, dann brauste sie mit dem Sportwagen in den Wald hinein. Heute hatte sie die Verabredung mit ihrem erst vorgestern kennengelernten Freund, dem hübschen Jäger.

Jetzt ging der Mutter aber der Hut hoch, denn heute sollte Rotkäppchen der Oma das Mittagessen schicken. "Muß Liebe schön sein", dachte die Mutter, die wegen Omas Mittagessen besorgt war. "Merk dir das!" murrte die Mutter darüber, "Du bist doch nicht der Nabel der Welt", und sie entschied: "Ich kann selbst das Essen zu Oma bringen." "Aber", nun zögerte sie, "von dem Weg habe ich keinen blassen Dunst. Ach, das macht nichts, ich kann immer irgendjemanden fragen."

Wie zu erwarten, verlief sich die Mutter im Wald. Da traf sie einen hungrigen Wolf. Als sie den Wolf nach dem Weg fragte, sagte er ihr: "Ich kann Ihnen jetzt nicht helfen, ich bin auf dem Sprung." Aber, nachdem der Wolf wußte, daß die schwache und hilflose Oma allein im Bett lag, dachte er: "Diese Frau muß zu dumm zum Milchholen sein." und wies der Mutter den falschen Weg. Dann rannte er mit aus dem Maul fließendem Speichel zu Oma.

Jetzt war es schon 13 Uhr. Die Oma hatte noch kein Essen bekommen. Sie murmelte vor sich hin: "Verflixt in die Kiste, ich habe heute einen Kopf wie ein Omnibus und muß im Bett liegenbleiben. Jetzt ist es schon 13 Uhr, warum bringt das verfluchte Rotkäppchen mir kein Essen? Der muß ich mal auf's Dach steigen." Vor Hunger wurde die Oma ungeduldig. Sie sprang aus dem Bett, ging im Zimmer umher und murmelte immer: "Verfluchtes Rotkäppchen!" - Plötzlich sah sie durch das Fenster den Wolf mit zwei weit vorstehenden Eckzähnen geschlichen kommen. "Der will mir hier ein Bein stellen, ich muß höllisch aufpassen", dachte die Oma und überlegte, wie sie die Kuh vom Eis kriegen konnte. Dann sagte sie leide: "Bange machen gilt nicht. Du bist noch arg grün hinter den Ohren." Jetzt faßte die Oma einen Entschluß: "Mit dem muß ich mal Schlitten fahren", und da kam ihr gerade der Gedanke: "Ich kann nicht auf das Essen warten, bis ich schwarz werde. Lieber den Wolf essen als vor Hunger sterben! Außerdem kann ich mir einen Mantel aus der Wolfhaut machen lassen." Sofort holte sie das Jagdgewehr und zielte auf den Wolf. Aller guten Dinge sind drei, deshalb schoß die Oma dem Wolf drei Kugeln in den Kopf und nahm nach zwanzig Minuten eine üppige Mahlzeit ein.

Zu gleicher Zeit traf die Mutter im Wald Rotkäppchen und den Jäger. Sie erzählte den beiden, daß der Wolf ihr den falschen Weg gewiesen hatte. Als der Jäger das hörte, sagte er: "Ach nein! Der Wolf hat schon lange keine weiße Weste mehr. Um ein Haar hätte ich ihn gefangen, doch er ist mir entwischt." "Du hast es dir eingebrockt, jetzt mußt du die Suppe auslöffeln", schimpfte die Mutter Rotkäppchen und sagte schluchzend: "Was sollen wir jetzt tun? Die arme Oma..." "Du hast wirklich sehr nah am Wasser gebaut. Mit deinem ewigen Gejammer gehst du mir wirklich auf den Geist", erwiderte Rotkäppchen zornig. "Das ist das Ende der Fahnenstange. Husch, husch, die Waldfee! Wenn wir jetzt zu Oma fahren, ist Polen noch nicht verloren!" Alle drei sprangen eilig in den Sportwagen und fuhren hin.

Als sie in Omas Zimmer hineingingen, stocherte sich die Oma im Bett die Zähne und sagte ruhig: "Nehmt euer Bett und geht heim!" Die Mutter atmete erleichtert auf: "Ich werd' verrückt!" Der Jäger wunderte sich: "Das hat die Welt noch nicht gesehen! Ich war ihm schon auf den Fersen..." Die Oma unterbrach lächelnd seine Worte: "Doof bleibt doof, da helfen keine Pillen. Rotkäppchen, von nun an mußt du jeden Monat einen lebenden Wolf zu mir locken. Dann kannst du dich sonntags immer mit dem Jäger verabreden." Der Jäger stieß unabsichtlich einen Laut aus: "Mensch Meier! Und wer küßt mich...?" - "Quatsch keine Opern! Im Wald gibt es immer Wölfe", lachte Rotkäppchen und gab ihm einen Kuß.

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