Folgenden Leserbrief an die FAZ übernehme ich hiermit in meine
Link-Sammlung und empfehle ihn allen, denen noch etwas an der Erhaltung unserer
Sprache liegt, zur gründlichen Lektüre.
MR, den 20.7.2000. W. Näser
Frankfurter Allgemeine Zeitung
Chefredaktion / Herausgeber
Hellerhofstr. 2-4
60327 Frankfurt am Main
19. Juli 2000
Betreff: "Kreuzworträtsel; hier: Gedanken dazu ...
Sehr geehrte Damen und Herren,
heute morgen hielt mir ein Herr das beiliegende Blatt "nur die klügsten Köpfe fliegen nach New York" hin. Ihre Zeitung wird von klugen Köpfen gemacht, und in aller Regel steckt auch ein kluger Kopf hinter Ihrer aufgeschlagenen Zeitung. Sie erlauben, daß ich das Blatt zurückschicke - mit den Gratisscheinen ... Sie sehen, ich nehme Ihr - sonst so anspruchsvolles Blatt nicht einmal umsonst. Der Grund? Die neue sog. "Rechtschreibung". Seitdem die Zeitungen umgestellt haben, verzichte ich auf Presseerzeugnisse jeglicher Art. Mit "Altschreibbelletristik" bin ich versorgt, und Neues aus der Welt erfahre ich aus dem Äther. Das Radio ist "meine" Informationsquelle. Zugegeben: Gedrucktes wäre mir lieber, aber ich kann nicht!
Die abgrundtiefe Häßlichkeit der sprachwidrigen "ss"- resp. "sss"-Schreibungen in Nominalkomposita ist ekelerregend und läßt jeden Lesegenuß ersterben. Doch nicht nur das. Die Trennungen der Adjektive (= Eigenschaftswörter) ist unfaßbar! Daß dadurch gravierende Sinnentstellungen zustande kommen, müßten Sie bemerkt haben. Partizip-Präsenz-Konstruktionen sind so grotesk, daß selbst Nichtgermanisten (zu denen ich gehöre) den Kopf schütteln.
Absurd auch, das auslautende "h" aus zwei Wörtern zu nehmen, und die "Stammprinzip"-Schreibung: lächerlich! "Er springt "behände" ..." Beileibe nicht! Hier ist die Ableitung von "Hand" verblaßt. Ein Mensch, der von schneller Entschlußkraft ist, ist ebenfalls "behände". Wo bleibt die semantische Logik?
Sie können nichts dafür, ich weiß, und wenn ich klage, so geschieht das nicht aus Unmut Ihnen gegenüber, sondern gegen die Kultusminister, ihren Erfüllungsgehilfen und den Mandatsträgern, die alles versucht haben, Volksbegehren zu verhindern.
Doch jetzt zum Kern: Bei der Lektüre stellt sich Unwohlsein ein ..., und mit dem Unwohlsein bleiben z.B. Imaginationen aus. Die Phantasie (z.B. bei Lesen des Feuilletons) wird "irritiert" - und der Lesegenuß ist dahin!
So wage ich die Behauptung aufzustellen, daß die Grapheme des gedruckten Wortes nicht bedeutungslos und beliebig austauschbar sind, sondern daß diese einen festen Bezug zum Inhalt haben. Die Schreibungen, wie sie über lange Zeiträume hinweg üblich waren, sind Teil unserer kulturellen Identität.
Gerade in Zeiten, in denen vieles lässig, beliebig und schlampig wird, ist es wichtig, dem Menschen das zu lassen, was er liebt ... Ich persönlich sehe langfristig Gefahr, daß aufgrund des kultusministeriellen Frevels an der Sprache die Wahlmüdigkeit zunimmt; Flucht in Protestwahlen wäre auch denkbar.
Im übrigen: Viele Deutschlehrer sind erkrankt - wegen der Reform! Die Rechtschreibreform ist verfassungswidrig. Die Bayerischen Verwaltungsblätter (Nr. 9/1999 vom 1.5.99) haben einen Aufsatz des Verfassungsrechtlers Dr. Wolfgang Roth gedruckt - eine bemerkenswerte Recherche! Aus der geht hervor, daß Änderungen in einem solchen Umfang verfassungswidrig sind! Falls Sie Interesse daran haben, schicke ich Ihnen den Aufsatz zu. Ich würde mich freuen, wenn Sie den Mut faßten, sich von der sog. Reformschreibung zu verabschieden.
Mit freundlichen Grüßen,
Karin Kahlert