Textsorte Besinnungsaufsatz, Beispiel 4:

Welche äußeren und inneren Umstände fördern, welche behindern mich bei der Arbeit für die Schule?
(geschrieben am 4.5.1959)

VORBEMERKUNG. Innerhalb meines retrospektiven Mini-Projekts ist dieser Aufsatz mein bisher ältestes Beispiel: er entstand vor fast 48 Jahren in Leo MÜLLERs Deutschunterricht der U II b an der Arolser Christian-Rauch-Schule. Dieser (nur mit "3" bewertete) Aufsatz (ich hatte mich auf den speziellen Stil unseres neuen Lehrers noch nicht eingestellt) ist insofern interessant, als er - aus der Sicht eines erst 15-jährigen und aus recht einfachen Verhältnissen stammenden Schülers - wichtige Probleme des Schulalltags und damit der angewandten Pädagogik in einer Zeit berührt, als die Bundesrepublik Deutschland gerade mal knapp zehn Jahre alt war und noch ganz im Zeichen des "Wirtschaftswunders" stand. Rückschauend auf diese fast ein halbes Jahrhundert zurückliegende Zeit könnte man Vergleiche anstellen zum schulischen Leben in unserer heutigen "digitalisierten" Welt und dahingehend, ob und wie sich die Vorstellungen und Wünsche unserer modernen Zehntklässler von denen der "Großvätergeneration" unterscheiden.  W. Näser, Marburg, 24.1.2007


Gliederung:
A. Das große Problem der Erzieher
B. I. Unruhe im Haus und in der Schule
    II. Schlechte Lüftung oder Beleuchtung in der Schule oder zu Hause
   III. Schlechte Mitarbeit und Stören seitens der Klassenkameraden
   IV. Schlechte psychische Verfassung
    V. Gesundheitliche Umstände
   VI. Kein Wille zur Arbeit
  VII. Errungenschaften der neueren Zeit
 VIII. Körperliche Erschöpfung
C. Wie kann man der Jugend helfen, die Arbeit für die Schule leichter zu erledigen?

A. In der modernen Zeit quält alle Pädagogen, Erzieher und Eltern ein großes Problem: die Schüler der heutigen Zeit scheinen schlechter zu sein als die Schüler der früheren Zeit. Manche Eltern sagen: "Die heutigen Schüler müssen nicht viel für die Schule arbeiten. Wir mußten viel mehr für die Schule auswendig lernen, unser Gedächtnis wurde viel mehr geübt." Andere wiederum sagen: "Die Schüler werden durch die Errungenschaften der modernen Zeit, z.B. Radio, Kino, Fernsehen usw. abgelenkt." Welche Umstände fördern oder behindern mich als Schüler denn bei meiner Arbeit für die Schule?

B. I. Wenn ich meine Hausaufgaben erledige, kommt es manchmal vor, daß ich die Nachbarn über oder neben mir deutlich höre, zum Beispiel, wie eine Nachbarin im ersten Stock auf einer alten Nähmaschine näht, oder ein Nachbar in einer Nebenwohnung hat das Rundfunkgerät eingeschaltet und dabei nicht bedacht, daß noch andere Menschen im Hause wohnen und er nicht allein ist. Ich höre, wie die Autos am Hause vorbeifahren, wie ein Lastwagen vor der Laderampe eines Nachbarhauses hält und wie Obst verladen wird. Es rauscht in der Wasserleitung, denn eine Nachbarin wäscht in der Waschküche. Draußen klopft ein Nachbar einen Teppich, und es wird Holz gehackt. Natürlich behindern mich derartige Einflüsse bei der Arbeit. Die Nachbarin kann sich nicht um meiner willen eine neue Nähmaschine kaufen, aber der Nachbar kann sein Rundfunkgerät auf Zimmerlautstärke einstellen.
Es ist ebenso nötig, daß man in der Schule bei Ruhe arbeitet. Ich weiß doch zu gut, daß manchmal die Türen zugeknallt werden, daß es durch die ganze Schule schallt.

II. Wenn ich in manchen Wohnungen einen Blick auf die Beleuchtung werfe, bekomme ich einen Schreck. Eine 40-Watt-Birne soll ein großes Zimmer beleuchten und wird erst eingeschaltet, wenn es schon zur Hälfte dunkel ist. Das erleichtert einem Schüler keineswegs die Arbeit, ebenso wie schlechte Luft. Schüler sein ist ein Beruf, und genau so, wie gut gelüftete, helle, freundliche Betriebsanlagen einem Arbeiter das Arbeiten zur Freude werden lassen, so sollen auch helle, freundliche, gut durchlüftete und beleuchtete Schulen dem Schüler das Lernen zu einem Vergnügen machen.

III. Ich schreibe gerade eine deutsche Klassenarbeit, einen Aufsatz. Ein Schulkamerad neben mir hat noch nicht ein passendes Thema ausgewählt und fragt mich andauernd. In einer Erdkundestunde wird der geologische Aufbau Deutschlands durchgenommen. Ein Schulkamerad neben mir will mir erzählen, was er am letzten Sonntag gemacht hat. Andere Schüler lesen Bücher in der Stunde oder stören den Unterricht durch Pfeifen und andere Geräusche.
Diese Beispiele zeigen, daß ich durch schlechte Mitarbeit und Stören seitens meiner Klassenkameraden nicht aufpassen kann. Ich kann mich einfach nicht auf das konzentrieren, was durchgenommen wird.

IV. Es kommt an manchen Tagen vor, daß ich einfach keine Lust habe, die Hausaufgaben zu erledigen. An diesem Tage habe ich zu nichts Lust und fühle mich nicht gut. Nehmen wir einmal an, ich habe einen schweren Unfall miterlebt oder einer meiner liebsten Verwandten ist gestorben. Ich bin dann seelisch so erschüttert, daß an eine konzentrierte Schularbeit nicht mehr zu denken ist. Es wird auch erwachsenen Menschen so gehen, daß sie an manchen Tagen keine Lust haben, etwas zu tun. Dies zeigt uns, daß ein Schüler in einer schlechten seelischen Verfassung nicht arbeiten kann.

V. Es ist mir schon oft passiert, daß ich eine mathematische Arbeit durch Kopf- oder Bauchschmerzen völlig "verbaut" habe. Wenn ich die Arbeit zurückbekommen hatte, habe ich mich über manchen lächerlichen Fehler gewundert. Es ist sinnlos, mit schlechter körperlicher Verfassung Schularbeiten zu erledigen.

VI. Es ist natürlich sträflicher Leichtsinn, wenn ein Schüler keinen Willen zur Arbeit hat. Ich kenne einige Schulkameraden, die "in den Tag hinein" leben und ganz sachlich sagen: "Ich habe einfach keine Lust zur Arbeit."
Non scholae, sed vitae discimus. Wenn man diesen Satz zu einem Leitspruch für das ganze Leben macht, wird einem Schüler das Lernen zur Freude.

VII. Nehmen wir an, ich nehme die Rundfunkzeitschrift, mein Blick fällt auf die Ankündigung eines sehr interessanten nachmittäglichen Fernsehfilms, den ich gerne sehen möchte. Ich schalte den Fernsehapparat ein, packe meine Aktentasche aus und mache die Schularbeiten. Ich schaue abwechselnd auf den Bildschirm, abwechselnd auf mein Heft und esse vielleicht noch dabei. Natürlich kann man mit solcher "Vielseitigkeit" keine Schularbeiten erledigen.
Ich darf niemals ins Kino gehen, denn ich weiß, daß meine Schularbeiten dabei zu kurz kommen. Auch kommt es vor, daß ich während meiner Arbeit an einen Film denke, den ich irgendwann gesehen habe, oder an einen Düsenjäger, der soeben über unser Haus fliegt. (Ich habe z.B. am letzten Sonntag eine Fahrt miterlebt, mehrere Großstädte gesehen, und das hat so viele Eindrücke in mir hinterlassen, daß ich sie gar nicht so schnell in meinem Gehirn verarbeiten kann. Wie viele Erfindungen gibt es heute? Wer begreift die Unendlichkeit des Weltalls? Es ist verständlich, daß ich auch bei meinen Arbeiten an die technischen Wunder des Jahrhunderts denke und mich manchmal nicht konzentrieren kann.) Dies kann immer einmal vorkommen, man kann sich nicht immer konzentrieren, aber es zeigt, daß ich als Schüler der modernen Zeit vielen Einflüssen ausgesetzt bin.

VIII. Ich mußte den ganzen Nachmittag Holz hacken und Besorgungen für meine Eltern erledigen, ich bin völlig müde. Es ist nicht ratsam, nach schwerer körperlicher Arbeit sofort mit Schularbeiten zu beginnen, sondern am besten vor der schweren Arbeit. Bei vielen Schülern ist schwere körperliche Arbeit der Hauptgrund für das Mißlingen der Hausaufgaben.

C. So sehen wir, es gibt mannigfache Gefahren, die einen Schüler bei der Schularbeit bedrohen, es gibt auch viele Umstände, die ihn fördern. Wie können Eltern und Erzieher der Jugend helfen, die Arbeit für die Schule mit Freude zu verrichten? Sie müssen versuchen, die gefährlichen Umstände weitgehend auszuschalten. Förderlich ist eine bessere Einteilung des Tageslaufes. Statt der dauernden Aufrüstung sollten schulische Mißstände behoben werden, die Schulraumnot zum Beispiel; durch kleine Belohnungen sollte die Arbeit der Schüler anerkannt werden, man sollte nicht an Strom für ausreichendes Licht sparen. Eltern und Erzieher müssen der Jugend mit Rat und Tat zur Seite stehen; wenn dies geschähe, urteilte man besser über den Schüler der modernen Zeit.


Leo Müller begründete sein "Im ganzen 3" so: "Die Gliederung ist nicht übersichtlich. Dabei wurde man doch schon durch das Thema auf eine straffe, übersichtliche Disposition hingewiesen. - Die einzelnen Abschnitte der Ausführung müssen durch Überleitungen miteinander verknüpft sein." So oktroyierte er uns einen Stil auf, den wir uns nach dieser Phase nur schwer abgewöhnen konnten.

Text und HTML: (c) W. Näser 1/2k7