Deutsch im 20. Jahrhundert * Dr. Wolfgang Näser * Mi 16-18, HS 110 Biegenstraße 14 * Beginn 10.4.2002

Schwandt, Erich: [Die unbekannte Schallplatte]
Aus: Schallplatten-Bastelbuch. Leipzig o.J. (1938 ?), hier: S. 11-15

VORBEMERKUNG. Die 30er Jahre sind das Jahrzehnt der Erfindungen. Alle wichtigen Innovationen des 20. Jahrhunderts werden in diesen Jahren erschlossen oder angelegt; auch die Schallplattentechnik erfährt ganz wesentliche Verbesserungen. Der Verfasser, dessen kleines Buch heute so gut wie unbekannt ist, gibt sich viel Mühe, klar und verständlich über faszinierende Möglichkeiten dieses damals schon sehr populären und verbreiteten Mediums zu informieren. W.N.

Die Welt der "bekannten Schallplatte", also der Musik- und Sprechplatten, ist jedem vertraut; und es ist für uns, die wir in das Wesen der Schallplatte tiefer eindringen wollen, deshalb viel lohnender, wenn wir uns mit der "unbekannten Schallplatte" befassen. Hier sind zunächst die Aufnahmen zu vermerken, die für die Zwecke der Wissenschaft und für den Unterricht angefertigt werden. Die Schallforschung war dabei diejenige wissenschaftliche Disziplin, die sich der Schallplatte in erster Linie und in größtem Umfang bedient hat; die Fernmeldetechniker z.B. benutzen Platten, auf denen das elektrische bzw. elektroakustische Verhalten von Fernsprechleitungen verschiedener Eigenschaften (verschiedener "Dämpfung" sagt der Techniker) festgehalten ist. Daneben gibt es sogen. Weltfernsprechplatten, mit denen dargestellt wird, wie ein Übersee-Gespräch gar nicht zustande kommen kann, wenn die Sprache zu ihrem elektrischen Weg z.B. von Berlin nach Sydney eine zu lange Zeit braucht, wenn die Verbindung eine zu große "Laufzeit" aufweist. Allgemeiner bekannt sind die Heultonplatten und die Frequenzplatten, auf denen die in der Elektroakustik gebräuchlichen Frequenzen (z.B. von 50 bis 10.000 Hetzz; 1 Hertz = 1 Schwingung je Sekunde) festgehalten sind; sie ersetzen einen Schwebungssummer und sind damit für viele Messungen an Tonabnehmern, Verstärkern und Lautsprechern von hohem Wert. Weniger bekannt sind die Forschungsplatten, die im toten Raum und im Nachhallraum aufgenommen wurden, um die akustischen Raumverhältnisse genau zu erkunden, wie auch die technischen Prüfplatten, mit denen heute Kabelwerke, Empfänger- und Verstärkerfabriken sowie Entwicklungslaboratorien, kurz alle jene Stellen, die irgendwie mit Akustik oder Elektroakustik zu tun haben, wichtige Untersuchungen und Prüfungen vornehmen. Von ganz großer Bedeutung sind z.B. auch die Schallplatten, die man benötigt, um Tonfilmkinos, Konzertsäle usw. akustisch auszumessen und sie so zu gestalten, daß sie die günstigste "Hörsamkeit" besitzen; bei sinnvoller Anwendung geeigneter Meßplatten wird diese schwierige und zeitraubende Arbeit sehr erleichtert.

Auch in der Medizin macht man in steigendem Maße von der Schallplatte Gebrauch, so z.B. für die Aufnahme und Analyse von Herztönen, die nach bedeutender Verstärkung aufgezeichnet werden - eine Aufgabe übrigens, die auch der Schallplatten-Bastler, der über eine Selbstaufnahme-Einrichtung verfügt, gut lösen kann; er ist dann nach 50 Jahren in der Lage, hören zu lassen, wie regelmäßig und ungestört sein jugendfrisches Herz schlug. Von hohem Interesse sind ferner die Versuche der Mediziner, rhythmische Schwingungen, die man von Schallplatten abtastet, auf Muskelpartien einwirken zu lassen, um diese zu bestimmter Tätigkeit zu zwingen; hier eröffnen sich große Gebiete der Forschung und Anwendung, die heute noch gar nicht zu übersehen sind.

In der Sprachpflege macht man ebenfalls in zunehmendem Maße von der Schallplatte Gebrauch, so z.B. um unerwünschte Dialektbildungen unter Lehrern, die ja für die Spracherziehung in erster Linie maßgebend sind, auszumerzen. Großes Interesse findet z.B. der Einsatz der Schallplatte in sächsischen Lehrerkreisen, um die hier bedeutungsvolle Erziehung zur Hochsprache zu unterstützen.

Das historische Archiv, zu dessen Aufbau die Schallplatte berufen ist, hat ohne Zweifel von aller Schallplattenarbeit überhaupt den größten Wert. Man stelle sich einmal vor, wie es wäre, wenn wir Goethe auf der Schallplatte hätten, wenn wir seine unsterblichen Dichtungen aus seinem Munde hören könnten! Literaturhistoriker schreiben heute dicke Bände über die richtige Auffassung gedankentiefer Dichtungen, deren Sinn wir heute nicht mehr bis zum Letzten zu deuten vermögen; das wäre müßig, wenn wir aus des Dichters Mund die Dichtung zum Leben erstehen hören würden. Das größte Schallplattenarchiv besitzt heute der Deutsche Rundfunk, der diese Arbeit frühzeitig pflegte und ganz systematisch aufbaute; schon heute wünscht die ganze Welt, an diesen Schätzen teilhaben zu können. Deutsche Rundfunkmänner und deutsche Techniker haben in diesem Archiv eine Fülle wertvollster Zeitdokumente zusammengetragen, die so unmittelbar, so lebensnah sind, daß nach uns kommende Generationen ein so wirklichkeitsgetreues Bild unserer Zeit erhalten, wie wir es von unseren Vorfahren niemals haben können. Allein 80.000 Schallfolien (das sind biegsame Schallplatten) hat der Deutsche Rundfunk im Jahr 1937 geschnitten, während sich die Wachsaufnahmen bis Anfang 1938 auf etwa 400.000 bezifferten. 120.000 verschiedene Schallplatten wies das Schallarchiv des Deutschen Rundfunks Anfang 1938 auf; davon waren 80.000 Schallfolien, während 40.000 die Form von Schwarzplatten hatten, für die also auch die Matrizen vorhanden sind, aus denen man die Platten pressen kann.

In diesem Zusammenhang verdient die "Spiel mit"-Plattenreihe Erwähnung, jenes einzigartige Unternehmen, bei dem man z.B. in einem Quartett, dessen Darbietungen man auf Platten nahm, ein Instrument fehlen ließ; dieses Instrument aber spielt nun der Besitzer der Platte. Die Schallplatte ist ihm so zu jeder Zeit eine vollendete "Begleitung", wie er sie sonst nur ganz selten oder überhaupt nicht haben kann, denn die Schallplatten-"Begleiter" sind natürlich erste Musiker. Diese mit etwa 150 Aufnahmen heute über die ganze Erde verbreitete Schallplattenserie entstand, weil ihrem Urheber, einem berühmten Meistergeigenbauer, viele kostbare Geigen zurückgegeben wurden, deren Besitzer keine Spielpartner fanden. Mit Hilfe der neuen Plattenreihe aber kann sich jeder Musikfreund berühmte Musiker in sein Heim verpflichten.

Legion ist die Zahl der Werbeschallplatten, die die deutsche Industrie - meist in beachtlicher Leistung - herausgebracht hat und ständig herausbringt. Wenige Minuten nur stehen auf einer Werbeplatte für die Werbung zur Verfügung; textliche und musikalische Bearbeitung verflangen deshalb sicheres Können. Kein Wunder, daß wir in mancher dieser Werbeschallplatten Leistungen finden, wie sie einer guten Kleinkunstbühne zur Ehre gereichen würden. Und mehr noch: wenn irgend möglich, wird die Werbeschallplatte auch mit den akustischen Eindrücken "beschallt", die für den Gegenstand, für den sie werben soll, irgendwie eigentümlich sind. Welches Vertrauen man heute zu dem hohen Können der deutschen Elektroakustiker hat, zeigt am besten die Schallplatte, mit der eine Fabrik für Konzertflügel für ihr Erzeugnis wirbt; der Hersteller dieses königlichen Instruments hat also zur Schallplatte das Zutrauen, daß sie den Klang seines Flügels so naturwahr wiedergibt, daß in denen, die die Platte hören, der Wunsch entsteht, den Flügel zu besitzen. Technisch außerordentlich interessant ist ferner die Werbeschallplatte für eine Benzinfirma, mit der diese zeigt, wie ein Automobilmotor am Berg bei Verwendung normalen Benzins "klopft" und "klingelt", wie er aber trotz größter Steigung sauber und ruhig durchzieht, wenn statt dessen ein Benzin-Benzolgemisch getankt wurde.

Die "unbekannte Schallplatte" ist für den Schallplatten-Bastler häufig viel interessanter, als die bekannte, nämlich dann, wenn er sich mit der Selbstaufnahme befaßt, denn sie gibt ihm oft viel mehr Anregungen. Es wird ebensowenig der Ehrgeiz des Schallplatten-Bastlers sein, die Industrie-Schallplatte nachzuahmen, wie es der des Filmamateurs ist, die Spiel- oder Kulturfilme der Filmindustrie zu kopieren. Beide wollen Neuland beackern, sie wollen Eigenes schaffen, sie wollen vor allem schallplatten- und filmgerecht arbeiten, also Aufnahmen machen, bei denen die künstlerischen Möglichkeiten und die technische Leistungsfähigkeit dieser Aufnahmeverfahren so weit wie möglich ausgenutzt werden. Aus dieser Ideen-Verwandtschaft ergibt es sich, daß so viele Filmamateure die Schallplatten-Selbstaufnahme betreiben; hinzu kommt natürlich, daß der Filmamateur, der bislang "stumm" drehte, nach einer Möglichkeit der Vertonung seiner Filme sucht und hier in der Selbstaufnahme-Schallplatte den billigsten - wenn auch nicht den idealen - Helfer sieht.

Wird ergänzt * HTML: Dr. W. Näser, MR 14.2.2002