Dr. Wolfgang Näser: Wörter und Wendungen in der deutschen
Zeitungssprache * SS 2000
Di 16-18, Hörsaal 207, Auditoriengebäude
Biegenstraße 14 (2. Stock)
Text 2: Well done, guys (von Hermann
PLOPPA;
Marburger Magazin
Express 14/2000, 9; im Gegensatz zum Original sind hier
alle Sätze numeriert)
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[Intro] Der Klassiker des modernen intelligenten Jazz, Dave
Brubeck, erfreute in der Marburger Stadthalle nicht nur ergraute
Eminenzen durch seine gepflegten Klänge.
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Ein Goodbye-Trip mit nichts als
Déja-vu-Effekten?
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[Haupttext] Da kommt eine Legende des Modern Jazz auf die
Bühne der Marburger Stadthalle.
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Mit dem vorsichtig-überlegten Schritt des Achtzigjährigen - jeder
Fehl-Tritt kann Knochenbrüche zeitigen - strebt der schlanke,
appetitliche, von der Sonne Kaliforniens gebräunte Senior
seinem Pianoforte entgegen.
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Und auch seine Mitmusiker, ein bis zwei Generationen jünger,
entern ihre Arbeitsplätze.
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Dave Brubeck eröffnet mit einem Klassiker von W.C. Handy:
dem Saint Louis Blues, diesmal mit Tango-Intro.
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Wird Brubeck uns seine stilistische Regression vorführen?
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Swing und New-Orleans-Jazz waren schließlich das Material, das Brubeck
vorfand, als er seine Karriere begann.
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Als die Swing-Orchester abgewirtschaftet hatten, fand Dave Brubeck
mit seiner Mischung aus Jazz-Improvisation und
konservatoriumsgeschulter Harmonie-Tüftelei in den
High-School-Kids des weißen Mittelstandes eine neue
Kundschaft.
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Das ist lange her.
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Irgendwann in den Fünfzigern.
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Mit Erleichterung erkennen wir, dass im Marburger Publikum nicht nur
Grauschöpfe sitzen.
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Erleichterung auch darüber, dass der alte Herr mit dem wachen
dickrandigen Eulenbrillenblick nicht daran denkt, die
Mumien seiner Vorväter vor uns auszupacken.
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"Ich bin gerade dabei, eine neue Platte zu produzieren, und diese Konzerte
sind ein Test, ob die Stücke funktionieren oder nicht."
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Also kein "Blue Rondo à la Turk"?
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Wir sind gerne Vorkoster, denn z.B. "Waltzing" gemahnt mitnichten
an Wien, wie der Alte listig insinuiert.
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Dafür bratzt Kontrabassist Alec Dankworth kraftvolle Akkorde,
die Lipizzanergäule zum Ausschlagen bringen würden.
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In "Chasing" jagt der disziplinierte Brite durch die thematischen Eckpfeiler
mal klassizistisch, mal funky, so dass wir mitwippen.
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Schlagzeuger Randy Jones ist auch Brite.
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Der Mann, dem man beim ersten Anschauen eher dreißig verdienstvolle
Jahre hinter einem Postschalter in Lüneburg zuordnen
möchte, drischt den Flegel wie ein Rocker.
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Wo Jazz-Drummer normalerweise die Sticks locker zwischen Daumen und
Zeigefinger führen, damit die Klöppel nur leicht aufprallen
und schon wieder reflektieren, hält Jones seinen
Fäustel gerade aufs Fell.
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Wie er den 5/4, 7, 11/8 oder werweißwassonstnochfürein[en] Takt
hält und dabei die Akzente locker phasenverschiebt, ist
großartig.
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Brubeck erfreut sich väterlich an den Orgasmen seiner
Schutzbefohlenen:
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"Wir waren auf Japan-Tournee.
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Da haben wir uns von den Melodien eines Koto-Spielers im Restaurant
inspirieren lassen.
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In dem Stück 'Koto', das wir jetzt präsentieren, spielt Bobby ein
Solo auf der Querflöte, da glaubt man gar nicht, dass so etwas
menschenmöglich ist."
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Wo bislang wohlige harmonietheoretische Verdauung herrschte,
wird es jetzt gefühlig-mystisch.
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Der beleibte Saxophonist Robert Militello greift zur zarten
Querflöte.
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Er spielt unverkennbar eine japanische Skala.
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Aus dem Motiv entstehen kunstvolle Ornamente.
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Wo die Japaner die Kunst der Pause setzen, ist hier Ausfüllung.
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Jetzt nur noch Militello.
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Zu dem Ton, erzeugt aus Lufthauch, gesellt der Kraftmann den
Ton seiner Stimme.
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Resonierender Hauchton geht aufwärts, Ton der Stimme nach ganz
bassig.
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Packende Tongruppierungen, Momente von unglaublicher Dichte.
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Der Meister selber bürstet in seinen Improvisationen
Akkorde quer zum melodischen Strich.
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Und immer wieder, viel stärker als Jazz (von Blue Notes ganz
zu schweigen) ist hier das Wohltemperierte Klavier des
Konzertmeisters aus Köthen zu hören.
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Bach wird geschachtelt.
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Dazu eine Prise Debussy oder Milhaud.
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Wahrscheinlich hören wir hier zum letzten Mal die Musik des
bürgerlich-demokratischen Zeitalters:
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vier gleichberechtigte Musiker definieren das Thema, über
das sie sprechen wollen.
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Dann bringt jeder sein Referat. Frei.
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Das ist das Schöne am Jazz: jeder Abend ist anders, und die
abgeklärten Herren überraschen sich jeden Abend gegenseitig
mit immer neuen musikalischen Argumenten zum vorgegebenen Thema.
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Und uns ist es eine Freude, ihnen dabei zuschauen zu dürfen.
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Schließlich bekommen wir doch noch unser Déjavu. "Take
Five" in opulenter, gleichwohl nicht geschwätziger
Ausführlichkeit.
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Und Komponist Paul Desmond schaut von Wolke Fünf und sagt: "Well
done, guys! See you later!"
HTML und Layout: W. Näser 17.4.2000
Verfahrensweise und
Aufgaben:
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Wir lesen diesen interessanten und sehr kreativ formulierten Text gemeinsam,
klären unbekannte Wörter (wichtige Lexeme sind
unterstrichen) und Wendungen (Phraseologismen) und versuchen,
Synonyme zu finden.
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Wir werden uns klar über den Inhalt. Worüber wird gesprochen,
was sind die wichtigsten Aussagen?
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Wir betrachten Ausdruck und Stil(mittel). Wie gestaltet der
erfahrene Journalist Hermann Ploppa seinen Text? Wie charakterisiert er die
verschiedenen Musiker, ihre Spielweise und die dargebotenen
Stücke?
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Wir versuchen, den Text mit eigenen Worten zusammenzufassen (abstract
writing).
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Wir versuchen einen Kommentar. Was halten wir von dem Text? Warum
- wenn ja - ist er für uns wichtig?
WN 17042000