Dr. Wolfgang Näser: Wörter und Wendungen in der deutschen
Zeitungssprache * SS 2000
Di 16-18, Hörsaal 207, Auditoriengebäude
Biegenstraße 14 (2. Stock)
Text 5: Wie schildern Tageszeitungen die
Explosion von Enschede?
Ausschnitte aus Artikeln
vom Dienstag, 16.5.2000
1. Westdeutsche Zeitung Politik 16.5.2000 (Auszug)
Enschede (dpa) - In Enschede gehen die Behörden inzwischen davon aus, dass die Zahl der Todesopfer der verheerenden Explosionskatastrophe weit höher liegt als bisher angenommen. Die Suche nach Verschütteten ist am Dienstag fieberhaft fortgesetzt worden. Bisher wurden 15 Leichen geborgen. Die Zahl der Verletzten habe sich auf 690 erhöht, sagte Bürgermeister Jan Mans am Dienstag. 39 Menschen lägen noch in Krankenhäusern, sechs davon auf der Intensivstation. [...]
Unterdessen gehen die Spekulationen um die Ursache für die Detonationen in der Feuerwerksfabrik S.E. Fireworks am Samstag weiter. Nach Aussagen von Experten verdichten sich die Anzeichen dafür, dass auf dem Firmengelände große Mengen Magnesium gelagert waren, um einen Großauftrag abzuarbeiten. Da die Feuerwehr kein Wissen von dem Magnesium hatte und Wasser zum Löschen des ursprünglichen Brandes einsetzte, sei es zu der Katastrophe gekommen.
2. Südkurier Politik 16.5.2000 10:55 (Auszug)
Den Haag (dpa) - Die verheerende Explosion von Enschede hätte eigentlich nicht geschehen können. «Alles war in Ordnung, und doch gab es eine Katastrophe», umschrieb am Montag die «Volkskrant» die vielen ungelösten Rätsel nach dem Debakel vom Samstag. [...]
Wo die Verantwortung beginnt, ließ sich am Montag noch nicht ausmachen. «Wir prüfen das noch», meinte etwa ein Regierungsbeamter in Den Haag auf die Frage, ob Feuerwerksbetriebe tatsächlich nicht auf der Liste von Betrieben geführt werden müssen, die ein besonderes Risiko für die Umgebung darstellen. Das «Algemeen Dagblad» hatte dies unter Berufung auf einen Sprechers des Umweltministeriums berichtet und sich dabei auf EU-Bestimmungen nach der Dioxin-Katastrophe im italienischen Seveso von 1976 berufen.
Die Stadtverwaltung hat betont, dass der Betrieb vorzüglich geführt wurde und dass alle Betriebsgenehmigungen vorlagen. Die vorgeschriebenen Prüfungen hätten stattgefunden, die letzte noch am vorigen Mittwoch durch Militärexperten, berichtete die Verwaltung. Man habe dabei auf alles geachtet - die Einrichtungen, die Sicherheitsvorkehrungen und die Gesamtstruktur des Betriebs, schilderte die «Volkskrant». Nur um die Wohnungen nebenan habe man sich nicht gekümmert. «Man hat nicht geguckt, wo der Betrieb liegt».
Da überraschte es wenig, dass viele Betroffene nach eigenen Angaben gar nicht wußten, neben welchem Pulverfass sie wohnten. Auch der Leiter der sozialdemokratischen Mehrheitsfraktion im Rat von Enschede räumte ein, dass die meisten Stadtratsmitglieder nichts wussten von einem explosionsgefährlichen Betrieb mitten in einem Wohngebiet.
Stattdessen hätten die Politiker über theoretische Fragen diskutiert, wie etwa die wenig populäre Zusammenlegung von Enschede und anderen Gemeinden zur künstlichen Twentestad. «Die Entscheidung über Betriebsgenehmigungen aber delegierte man an Gemeindebeamte», kommentierte die Presse nach der Katastrophe. (Von Edgar Denter, dpa)
3. BILD, 16.5.2000
Inferno von Enschede: Unheimlicher Verdacht * Von FRANK SCHNEIDER
"We hebben de hel gezien“ (Wir haben die Hölle gesehen). Die seitenbreite Schlagzeile der niederländischen Zeitung "Algemeen Dagblatt“.
Dieses Chaos, diese Zerstörung, all das Leid. Ein gespenstisches Foto aus Enschede. Es zeigt das ganze Ausmaß der Katastrophe. Die Stadt nach der verheerenden Explosion der Feuerwerksfabrik ein Bild wie aus dem Krieg.
Das Flammeninferno jetzt dieser unheimliche Verdacht: War es Brandstiftung? Steckt ein geistesgestörter Serientäter hinter der Katastrophe? Fest steht: Schon in den Tagen vor der Explosion gab es sieben ungeklärte Brandstiftungen in Enschede. Und: In der Nacht nach dem Inferno wieder ein Brand! Gelegt in einem Kindergarten.
Enschede, drei Tage nach dem Flammeninferno. In den Straßen rund um die explodierte Feuerwerksfabrik der Geruch des Todes. Wie viele zerschmetterte, verbrannte Menschen liegen noch unter den Trümmern? Erschöpfte Rettungstrupps kauern mit rußschwarzen Gesichtern neben den Häuserruinen. Gestandenen Feuerwehrmännern laufen Tränen übers Gesicht. Soeben haben sie zwei Kinderschuhe im Brandschutt gefunden. Aber wo ist das Kind? Noch immer weiß niemand, wie viele Tote unter den eingeäscherten Gebäuden noch gefunden werden.
Ohnmächtig müssen die Einsatzkräfte mitansehen, dass selbst ihre Suchhunde winselnd vor den Ruinen zurückweichen. 300 Meter im Umkreis von dem Brandherd ist es immer noch so glühend heiß, dass die Pfoten der Tiere versengt werden.
Bis gestern wurden 32 Tote gezählt, 15 offiziell identifiziert - fast 200 Menschen gelten als vermisst. 628 Verletzte, 400 Häuser in Schutt und Asche. 2000 Anwohner wurden mit einem Schlag obdachlos. 20 Jahre lang lebten sie ahnungslos neben der Bombe neben der Feuerwerksfabrik, die ihnen jetzt Leben, Existenz und Wohnung nahm.
Aber wie nur konnte es passieren? Immer konkreter wird der unheimliche Verdacht: War es ein Brandstifter? Ein mörderischer Verrückter? Ein gemeingefährlicher Geisteskranker?
Indizien dafür: In der Nacht zu gestern heulten erneut Feuerwehrsirenen durch die Grenzstadt. Wieder ein Brand vorsätzlich gelegt in einem Kindergarten. Wer ist so krank, nach diesem Inferno noch ein Feuer zu legen? Feuerwehrchef Aad Groos sagt: "Wir werden mögliche Brandstiftung genau prüfen, sobald wir auf das Fabrikgelände gelangen.“
Schon vor der Explosion gab es sieben ungeklärte Brandstiftungen in Enschede. Zuletzt ging am Freitag vor zehn Tagen ein Lager mit Gartenstühlen in Flammen auf, dann brannte ein Möbelgeschäft aus.
Inzwischen steht fest: Neben der SE Fireworks brannte zuerst nur ein Müll-Container. Aus ihm schlugen die Flammen, die das Inferno auslösten. Der Zaun um das unbewachte Gelände der Feuerwerksfabrik er war leicht zu überwinden...
4. Sächsische Zeitung, 16.5.2000 (Auszug)
Enschede: bis zu 400 Tote?
Die Suche nach Verschütteten ist heute Morgen fieberhaft fortgesetzt worden. Bisher wurden 15 Leichen geborgen. Die Zahl der Verletzten habe sich auf 690 erhöht, sagte Bürgermeister Jan Mans. 39 Menschen lägen noch in Krankenhäusern, sechs davon auf der Intensivstation.
Nachdem die Suche nach den Opfern bislang jeweils bei Einbruch der Dunkelheit unterbrochen worden war, wird von jetzt an auch nachts weiter gesucht. Unklar ist immer noch die Zahl der Vermissten. Da ständig neue Namen gemeldet und andere gestrichen würden, schwanke die Zahl zwischen 200 und 400. [...]
Unterdessen gehen die Spekulationen um die Ursache für die Detonationen in der Feuerwerksfabrik S.E. Fireworks weiter. Nach Aussagen von Experten verdichten sich die Anzeichen dafür, dass auf dem Firmengelände große Mengen Magnesium gelagert waren, um einen Großauftrag abzuarbeiten. Da die Feuerwehr kein Wissen von dem Magnesium hatte und Wasser zum Löschen des ursprünglichen Brandes einsetzte, sei es zu der Katastrophe gekommen.
Experten haben zudem mangelnde Sicherheitsvorkehrungen der Feuerwerksfabrik kritisiert. Die Firma habe weder über einen Bunker noch über anders gesicherte Räume verfügt, sagte der langjährige Chef-Feuerwerker des Berliner Landeskriminalamts, Martin Volk, im ZDF-Morgenmagazin. Er hatte den Betrieb den Angaben zufolge Ende vergangenen Jahres besucht.
Es sei unvorstellbar, wie auf dem Hof der Firma Feuerwerkskörper in normalen Containern mit teilweise offen stehenden Türen gelagert worden seien, sagte Volk. Der Pyro-Techniker Daniel Schwartz sagte, Sprengsätze seien falsch etikettiert worden. So hätten die Beschriftungen eine geringere Gefahr ausgewiesen.
Auch nach Berichten des niederländischen Fernsehen soll das Unternehmen S.E. Fireworks mit Genehmigung der Stadt gefährliche Stoffe nicht nur in stabilen Bunkern, sondern auch in See-Containern gelagert haben. Dies könnte die ungeheure Wucht der drei Explosionen erklären. Experten hatten wiederholt betont, dass bei sorgfältiger Lagerung zugelassener Stoffe in Bunkern keine so schwere Explosion möglich gewesen wäre. [...]
Verfahrensweise und Aufgaben:
Zusammenstellung, Layout, Aufgaben: (c) W. Näser, MR, 16.5.2000