Formen schriftlicher Kommunikation, Sommersemester 2002 * Dr.  Wolfgang Näser * HS 207 Biegenstr., 16-18 Uhr

Text 2 (Tagebuch): Der Schrei der Olivenbäume
Von Dr. Sumaya Farhat-Naser, Birzeit / Palästina (e-mail vom 28. Juli 2001)

"Die anhaltende Kontrolle durch Israel verhinderte das Entstehen einer eigenen Industrie. Die meisten Unternehmen sind kleine bis mittelständische Firmen sowie kleine familiäre Handwerksbetriebe, die 80 % ihrer Erzeugnisse nach Israel verkaufen. Die israelischen Siedler haben einige moderne Kleinbetriebe aufgebaut. Unzureichende Infrastruktur. Elektrizität muss überwiegend aus Israel bezogen werden; einige Städte wie Nablus und Dschenin besitzen kleine Kraftwerke und versorgen sich selbst. In der Trinkwasserversorgung unverändert von Israel abhängig. Zum Teil wird der Zugang zu den eigenen Trinkwasserquellen versperrt, während die Siedler und deren Betriebe sich aus den knappen Wasserquellen des Westjordanlandes bedienen. Die Palästinenser müssen sich mit etwa einem Viertel des israelischen Pro-Kopf-Konsums begnügen. Etwa 180 Dörfer im Westjordanland sind nicht an die öffentliche Trinkwasserversorgung angeschlossen. Die Bewohner müssen Wasser zu Schwarzmarktpreisen kaufen - oft von den jüdischen Siedlern. Obendrein sinkt der Grundwasserspiegel kontinuierlich. Viele Brunnen sind stark versalzen." Aus: SPIEGEL-ALMANACH (www.spiegel.de, 29.4.2002)

Ich habe die Zerstörung der Landschaft gesehen und ich kann die Schmerzen der verletzten und gequälten Olivenbäume fühlen. Mein Herz weint und trauert mit meinem Volk!

Seit mehreren Wochen werden die Bewohner der benachbarten 30 Dörfer daran gehindert, mit dem Auto nach Birzeit zu fahren. Sie schmuggeln sich durch die steinigen, dornigen Wege der Täler. Sie reden davon, dass das, was dort geschieht, an die schreckliche Deportationspolitik von 1948 und danach erinnert. Sie fürchten sich sehr und sprechen mit Angst von Anschlägen, von Feldern, die verbrannt werden und von Ausgangssperren, welche verhindern, dass Augenzeugen darüber berichten. Sie sagen, die ganze Gegend westlich von Bir Zeit sei völlig abgeriegelt und zur geschlossenen militärischen Zone erklärt worden. Niemand darf die HauptStraße nach Birzeit oder Ramallah benutzen. Die Leute müssen die Hügel hinunter durch die Täler und versuchen, einer anderen Straße oder einem schmalen Weg zu folgen, bis sie in der nächsten Sackgasse landen: einer zerstörten oder gesperrten Straße oder dem nächsten Kontrollpunkt, wo Soldaten sie am Weiterkommen hindern. Die Fahrt von Deir Ghassaneh oder Abud nach Birzeit dauert normalerweise 10 - 15 Minuten. Jetzt brauchen die Studenten 2 - 3 Stunden, um die Universität Birzeit zu erreichen, wenn sie überhaupt so weit kommen. Das Leben kranker Menschen wird aufs Spiel gesetzt, weil sie daran gehindert werden, die normalen Straßen zu benutzen, um medizinische Hilfe zu bekommen. Ich habe oft gesehen, wie Männer kranke und alte Menschen weit getragen haben, um die nächste Kreuzung zu erreichen, und sie wussten, dass sie sie bald wieder würden tragen müssen. Das ist Folter, entmenschlichend und ein klarer Verstoß gegen die Menschenrechte. Es ist sogar noch viel mehr: Es ist eine systematische Politik, das Leben so schwierig zu machen, dass die Menschen wegziehen. Es ist eine Art, die Menschen langsam aber sicher zu töten, vielleicht eine etwas "zivilisiertere" Art. Es ist ein Verbrechen.

Gestern besuchte mich eine Freundin in Birzeit und ich bat sie, in ihrem internationalen Auto mit mir zur geschlossenen militärischen Zone zu fahren. Nach einem Kilometer trafen wir auf den ersten Kontrollpunkt. Die Soldaten dort schienen sich mit so einem internationalen Auto und ausländischen Identitätskarten nicht auszukennen, aber wir konnten weiterfahren, und ich konnte es kaum glauben. Wir hielten irgendwo an, und ich zeigte meiner Freundin unser Land und unsere Olivenbäume. Dieses Jahr wurden wir wie alle anderen Bauern wegen der Sperrung daran gehindert, unser Land zu kultivieren. So entsteht der Eindruck, wir vernachlässigten unser Land, was es einfacher macht, es zu konfiszieren. Ein Auto fuhr vorbei und wir wurden kontrolliert, doch weil wir Frauen waren, ließ man uns in Ruhe. Es waren Nachrichtenoffiziere. Die Straße war absolut ruhig - da waren weder Autos noch Menschen - doch in der Ferne konnten wir Menschen sehen, die zu Fuß gingen und einige Autos, die sich bemühten, auf den steinigen, ungeteerten Straßen vorwärts zu kommen.

So fuhren wir weiter nach Um Safa Beit Rima, Deir Ghassaneh und Ajul. Man konnte nicht in die Dörfer hineinfahren, weil die Straßen völlig zerstört waren. Wir fuhren weiter nach Abud. Als wir an der Siedlung Halamish vorbeifuhren, hielten uns die Soldaten am Eingang an und kontrollierten uns. Bald darauf sahen wir zu beiden Seiten eines zwei Kilometer langen Straßenabschnittes tiefe Gräben im Land und völlige Verwüstung. Hunderte Olivenbäume waren entwurzelt und zerstört, das Land verbrannt worden, und etwa zwölf Tanks und viele Soldaten mit Militärbulldozern waren dabei, die Bäume zu zerstören und zu entwurzeln, das Land zu verwüsten und die Terrassen auszuebnen. Sie hatten mehrere Militärzelte und es sah aus, als bereiteten sie das Gelände für die Errichtung einer großen, neuen militärischen Basis oder einer neuen Siedlung vor. Einige Soldaten waren verärgert, uns hier zu sehen, andere waren erstaunt, und während einige uns aufforderten, anzuhalten, befahlen uns andere, das Gebiet sofort zu verlassen. Wir fuhren weg, aber unter Bewachung: ein Militärwagen fuhr vor, ein anderer hinter uns bis zur nächsten Kreuzung. Wir konnten auf dem Gelände nicht fotografieren oder einen Videofilm aufnehmen, doch es gelang uns, auf dem Rückweg einige Fotos zu machen.

Es war für mich eine Erfahrung tiefen Schmerzes; mir bricht das Herz. Das Gebiet um Birzeit ist meine Landschaft und meine Natur. Ich bin 53 Jahre alt; ich bin mit diesen Bäumen aufgewachsen. Ich bin Botanikerin. 21 Jahre lang habe ich meine Studenten der Birzeit Universität in diese wundervolle Gegend mit ihrer reichhaltigen Flora, Geschichte und Kultur geführt. An genau diesem Ort habe ich meine Studenten Liebe, Engagement und Identifizierung mit der Erde und der Natur gelehrt. Wir unternahmen viele wissenschaftliche Feldausflüge zusammen, spazierten zum Um-Safa-Wald, dem ältesten Wald Palästinas, der nur 7 km. von Birzeit entfernt steht. Wir haben dort Pflanzen bestimmt und klassifiziert, haben uns die vielen verschiedenen Geschichten über jede Pflanze erzählt, haben über ihren Nutzen gesprochen, aber auch die Witze und Mythen erzählt, von Spielen und Segnungen im Zusammenhang mit der Flora Palästinas gesprochen. Ich kenne die Namen und Geschichte all dieser Bäume und Sträucher. Als ich gestern dorthin ging, musste ich dem militärischen Befehl zuwiderhandeln, und ich weinte bitterlich, weil mein Volk und ich seit vielen Monaten nicht mehr zu unserem Land und unseren Bäumen hingehen dürfen.

Auf dem Weg zum Wald schlägt mein Herz immer schneller. Ein Panzer steht dort; er ist mit schweren Waffen ausgerüstet, um den Wald abzusperren. Ich habe meinen Bäumen zugewinkt, sie bei ihren Namen gerufen, habe ihnen mitgeteilt, wie es mich schmerzt, dass die alten Bäume zerstört sind und wie sehr ich sie geliebt habe. Mit Tränen in den Augen denke ich an die wunderschönen, gefurchten Baumstämme und die Äste, die jetzt traurig niederhängen. Ich lächle die Bäume an, die noch da sind, und ermutige sie zu überleben. Ich werde mit meinen Studenten und meinen Kindern zu ihnen zurückgehen.

Ich bin immer noch voll Schmerz, und ich schreibe, damit niemand es je wagen wird zu sagen: ich habe es nicht gewusst.

Quelle: (Text) Internet

abriegeln mit einem Riegel [ver]sperren: den Stall a.; riegeln Sie bitte die Tür ab!; b) einen Zugang blockieren, absperren: eine Unfallstelle a.; die Polizei hatte das Viertel hermetisch abgeriegelt.
Bulldozer m. -s, - [engl.]: schweres Raupenfahrzeug für Erdbewegungen.
Deportation f.; ­, -en: Zwangsverschickung, Verschleppung, teils von ganzen Volksgruppen
Engagement n. [], -s, -s persönlicher Einsatz aus [weltanschaulicher] Verbundenheit; Gefühl des Verpflichtetseins zu etw.; Bindung, Verpflichtung
Flora f., ­, ...ren [systematisch erfaßte] Pflanzenwelt eines bestimmten Gebietes: die F. Skandinaviens
Identitätskarte f. (a.d. Engl.) Personalausweis
konfiszieren: gerichtlich, von Staats wegen einziehen, beschlagnahmen: jmds. Vermögen, gestohlene Waren k.; die Bücher wurden von der Polizei konfisziert.
Kreuzung f., ­, -en: Stelle, an der sich zwei od. mehrere Verkehrswege kreuzen, überschneiden: eine beampelte K.; eine K. überqueren; die K. räumen
kultivieren «sw. V.; hat» [frz. cultiver < mlat. cultivare = (be)bauen, pflegen, zu lat. cultus, Kult]: 1. urbar machen: Moore, Brachland k.
Mythos m., (auch:) Mythus, [griech. mýthos = Fabel, Sage] Überlieferung, überlieferte Dichtung, Sage, Erzählung
Sackgasse f., Straße, die nur eine Zufahrt hat u. am Ende nicht mehr weiterführt: - die Verhandlungen sind in eine S. geraten (haben sich festgefahren).
Tanks m.pl. (ursprüngl. um 1917 als Tarnwort für:) Panzer
Verwüstung f., -en: das Verwüsten, Verwüstetsein: -en anrichten.


Zur Autorin: Prof. Dr. Sumaya Farhat-Naser wurde l948 in Birzeit in der Nähe von Jerusalem geboren. Die palästinensische Christin besuchte eine Internatsschule deutscher Diakonissen, studierte Biologie, Geographie und Erziehungswissenschaften in Hamburg und ist heute Professorin für Ökologie an der (bereits vielmals von den Israelis lahmgelegten) palästinensischen Universität von Birzeit. Den Schwerpunkt ihres Engagements in ihrem Heimatland bildet jedoch die Friedensarbeit im Nahen Osten. Seit den 80er Jahren gilt sie als Brückenbauerin zwischen Palästinensern und Israelis. Unermüdlich setzt sich Sumaya Farhat-Naser für den Friedensdialog an der Nahtstelle zwischen den Völkern und politischen Systemen, zwischen den Kulturen, Konfessionen und Religionen ein. 1995 erschien ihr aufsehenerregendes Buch "Thymian und Steine" (s. auch meine Fußnote), dessen Lektüre erstmals die Verhältnisse vom Blickwinkel der Palästinenser aus betrachtet und analysiert. 1994 gründete sie mit anderen Frauen das Jerusalem Center for Women und wurde dessen Mit-Direktorin; aufgrund der durch Scharons provokatorische Politik und den Angriffskrieg Israels (2002) entstandenen Lage kann sie diese Tätigkeit nicht mehr ausüben. Für ihr friedenspolitisches Engagement und ihren Kampf für Menschenrechte und Menschenwürde wurde Sumaya Farhat-Naser mit mehreren Preisen ausgezeichnet; u.a. dem Augsburger Friedenspreis (2000), dem Buchpreis des Deutschen Verbandes Evangelischer Büchereien (1997) und dem Bruno-Kreisky-Preis (1995). Die Trägerin des "Mount Zion Awards" - einer Auszeichnung in Jerusalem für die Verständigung zwischen Juden, Christen, Moslems und Drusen erhielt 1989 für ihr "öffentliches Eintreten für die politische Aussöhnung von Palästinensern und Juden in Gerechtigkeit und Freiheit" die Ehrendoktorwürde der theologischen Fakultät der Universität Münster, Westfalen.

Publikationen:

  1. Thymian und Steine, Lenos Verlag-Basel, 1995
  2. Verwurzelt im Land der Olivenbäume, eine Palästinenserin im Streit für den Frieden, April 2002, Lenos Verlag-Basel (hierzu auch Interview im ARD-Morgenmagazin, 14.4.2002)

Publizierte Referate und Artikel in Zeitschriften und Zeitungen:

  1. "Hundert Jahre Zionismus - Assoziationen einer Palästinenserin" (in: "Der Erste Zionistenkongreß von 1987, Ursachen, Bedeutung, Aktualität", Basel 1997)
  2. "Die einen feiern, wir anderen trauern" zu '50 Jahre Gründung des Staates Israel' (in: "Frankfurter Rundschau" und "Baseler Zeitung", April/Mai 1998)
  3. "Nationale und ethnische Grenzen in der Konstruktion von Gleichheit", publiziert von der Bundeszentrale für Politische Bildung (in "Demokratische Geschlechterverhältnisse im 21. Jahrhundert", Bonn, 1999)
  4. "Geborgen im Schatten der Olivenbäume" (in: "Erhard Eppler, Was braucht der Mensch", Campus Verlag Frankfurt am Main, Buchreihe Expo 2000, Band 11);

Wird ergänzt. Layout und Kompilation der Informationen: (c) Dr. W. Näser, Marburg, 16.4.2002 * Stand 15.11.2012
Das obige, aus der Wikipedia entnommene, gemeinfreie Foto zeigt die Autorin im Jahr 2008