Dr. Wolfgang Näser: UE "Deutsche Landes- und Kulturkunde" (für
Ausländer)
SS 2006
Das ist sie, "meine" Klasse - oder zumindest der größte Teil davon. Junge, liebe, sympathische, hoffnungsfrohe, aber auch kritische Menschen. Es schmerzt, Abschied zu nehmen, es schmerzt aber auch, daß nicht alle ihr Ziel erreicht haben. Wenn sich mehr als 35 anmelden, auch später noch, wenn man niemanden wegschicken will, wenn man nicht alle genügend kennenlernt, weil nur wenige in die Sprechstunde kommen - was bleibt da anderes übrig, als eine Klausur schreiben und darin Fragen beantworten zu lassen, die sich aus dem exemplarisch Gelernten ergeben, und in Nachprüfungen Zusatzfragen zu stellen.
Nun sind
die wenigen Doppelstunden vorbei - es hätten mehr sein müssen,
aber die Organisation ließ es nicht zu. Es hätten mehr zur
Sprechstunde kommen und über ihre ganz eigenen Pläne und Probleme
sprechen müssen, aber nur wenige kamen und es war ein unmäßig
heißer Sommer. Eigentlich war noch viel mehr zu behandeln, doch dafür
ist ein Semester zu kurz. Doch wir hatten auch unsere Sternstunden: die
glücklichen Gesichter sprechen Bände. Das Foto ist nicht gestellt,
ich habe kurz vor der finalen Schein-Ausgabe ganz spontan die Kamera
draufgehalten und es hat sich gelohnt. Es sind auch unsichtbare Bilder
entstanden, Eindrücke, die sich für immer im Herzen festsetzen.
Sie sind mit nichts aufzuwiegen. Selbst die Reichsten der Welt können
sich das nicht kaufen. Ja, man hat auch noch im fortgeschrittenen Alter viel
zu geben und man bleibt dabei jung.
Auch nach über 30 Jahren Lehre gilt "docendo discimus" - durch das Lehren lernen wir. Wir lernen immer - traurigerweise auch mit stetig wachsender Erkenntnis, wie wenig wir doch eigentlich wissen über diese (noch) schöne Welt, über ihre Menschen, ihre Nöte, Träume, Wünsche.
Landes- und Kulturkunde: das bedeutet, einen Teil dieser Welt zu Gast zu haben, dies als Geschenk zu empfinden und bei dem, was exemplarisch zu vermitteln ist, selbst viel zu lernen. Und, wie schon gesagt, es kann nur wenig vermittelt werden - zum einen aus zeitlichen Gründen, zum anderen, um diese sympathischen Menschen nicht zu überfordern.
Was ist deutsche Kultur? Ich
habe dem in acht Semestern Landeskunde immer wieder kritisch nachzugehen
versucht, jedes Semester andere, teils auf Aktuelles bezogene Schwerpunkte
gesetzt, bin auch virtuell über deutsche Landschaften geflogen in diesem
immer schnelleren Strom hinrasender, immer oberflächlicheren Zeit. Was
ist deutsche Gegenwartskultur? Der so engagierte Student, den ich
nachprüfen mußte und der dann überraschendes Engagement und
verblüffende Kenntnisse über Dresden an den Tag legte, hat diese
Frage zu Recht gestellt. Es ist gar nicht mehr einfach, solche Fragen zu
beantworten. Ja, Deutschland ist zum weltweiten Vorbild geworden durch seinen
Umweltschutz. Es hat seine Philosophen, seine großen Dichter, Maler,
Bildhauer, Architekten, Wissenschaftler, Ärzte, Erfinder. Und Berta
von Suttner. Und die Friedensbewegung. Und die kritischen Medien. Und die
vielen Millionen Menschen, die ehrenamtlich für das Gemeinwohl arbeiten
und nie einen Orden dafür bekommen. Deutschland hat sich der Welt
geöffnet, mehr denn je, ist interkulturell geworden, auf dem Marburger
Richtsberg kann man dies studieren, die Integration ist größtenteils
gelungen, die Ethnien vertragen sich, wir lernen voneinander, dieser Gewinn
ist unschätzbar hoch. Wir haben noch immer viel zu geben. Die Musik
eines Johann Sebastian Bach, eines Wolfgang Amadeus Mozart, eines Ludwig
van Beethoven oder eines Felix Mendelssohn Bartholdy wird noch in Jahrhunderten
weltweit gespielt und gesungen werden, wenn sich vieles fast bis zur
Unkenntlichkeit verändert hat, die Melodien werden weiterklingen, wenn
auch vielleicht mit ganz anderen, hochtechnischen Verfahren erzeugt. Von
alledem muß ich als Landes- und Kulturkundelehrer etwas vermitteln,
wenigstens ansatzweise.
Und Marburg,
das kleine Marburg, das von seiner Größe nicht einmal einer Vorstadt
von Sao Paulo entspräche, hat viele Kleinodien. Nehmen wir als Beispiele
die Junge Marburger Philharmonie (Teilfoto oben rechts), wo Jung und
Alt ernsthaft und auf höchstem Niveau miteinander musizieren, dann den
vom Dillenburger Wolfgang Schult zu professioneller Qualität geformten
UniChor mit seinen hoffnungsvollen, vom Gesang beseelten jungen Menschen
(Teilbild Mitte links) und die University English Theatre Group. Ja,
Sie lesen richtig. Deutsche Gegenwartskultur ist auch das, womit und wie
sich Deutsche im Kontakt mit ihren kulturellen und sprachlichen Nachbarn
auseinandersetzen. Wäre ich nicht gestern abend ins
Ernst-von-Hülsen-Haus gegangen und hätte mir "Noises Off"
angesehen, so wäre mir dieses Kleinod entgangen. Unermeßlich viel
Liebe, Zuwendung und harte Arbeit sind nötig, um ein derart anspruchsvolles
und intelligentes Stück auf die Bühne zu bringen. Mein letztes
Teilbild (rechts) möge einen Eindruck davon vermitteln. Hut ab, sage
ich, Chapeau, Bravo. Wir können stolz sein auf dieses Marburg. Und wenn
sich, in den sogenannten Semesterferien oder, offiziell gesagt, in der
Vorlesungsfreien Zeit, die Straßen wieder leeren und unser Städtchen
etwas verschlafen zu wirken droht, dann freuen wir uns auf die nächste
studentische Invasion im Winter, denn sie bringt neuen jugendfrischen Elan
und damit die Kreativität, die wir alle so dringend brauchen. Sind wir
alle Deutschland? Wenn so, dann sehr gern.
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Marburg, den 21. Juli 2006 * Stand: 26.7.2k6
Wolfgang Näser
Alle Fotos (c) WN