Dr. W. Näser: Proseminar "Einführung in die Linguistik des Deutschen I", SS 1991
Notizen zum Spracherwerb meiner Tochter Marion in den ersten zwei Lebensjahren (1977-79)
(Eigenbeobachtungen an Marion, * 22.10.1977, aufgezeichnet in Briefen und Notizen; * = linguist. Kommentare)

Etwa April 1978 {6 Monate)
Erste Phonationsversuche: "mmmmm", "ämmmmä" für das Ur-Wort 'Mama'.

16.8.1978 (10 Monate)
Neuerdings steht sie im Bettchen und in ihrem Laufstall, produziert Lautfolgen "Papa(a..)", "dada(da..)", "Mama(ma)", "mapa", "aba", "hapa", "daa" (mit steigender/fallender Tonhöhe), "rörörö", "raa".

25.9.1978 (11 Monate)
"mmmbá", "hatta", "happa", "adda" "nana", "hatten" und "nanda" [..]. Auch versucht sie neuerdings in singendem Tonfall "didididi" zu sagen.

* Bildung zweisilbig-reduplizierender "Urwörter" mit "level stress"; Unterscheidung Fortis/Lenis; Akzentuierungsversuche (mmmmbá); Vokalphoneme /a/ und /ö/; Kontamination 'Mapa' für 'Eltern allgemein'.

8.12.1978 (13,5 Monate)
Marion verwechselt öfter "Mama" und "Papa"; sie erfindet viele verschiedene Lautkombinationen, so seit etwa einer Woche "appel grappel / apfel grapfel" oder "aiaiaiai".

* Marion produziert nicht-reduplikative Zweisilbler und verwendet (spielerisch) erstmalig die sog. 2. Lautverschiebung pp -> pf; erster Diphthong: /ai/, übungshalber redupliziert

9.1.1979 (14,5 Monate)
M. kann seit etwa 3 Wochen selbständig laufen, interessiert sich für alles Greifbare, plappert ständig vor sich hin, produziert Wortschöpfungen wie "graap", "grögrögrö", "appeti", "aamaamaa", "gramm", "grapp", "ap", "öömöö", "rupp", "ropp", "dididi", "dat", "sasa" usw.

* onomatopoetische (lautmalerische) Wortschöpfung, teilweise reduplizierend, erster Dreisilbler (Appetit) im Versuchsstadium; erster Zweikonsonanten-Anlaut: /gr/ in mehreren Lautfolgen; erstmalig /z/

7.2.1979 (15,5 Monate)
Heute morgen sagte sie mehrmals und ganz deutlich "Appetit" [...]. Klar kann sie auch schon außer "Nama" und "Papa" die Wörter "Oma", "Opa", "nein", "neee", "ei" und "Uta" sagen. Manchmal sagt sie ganz plötzlich auch "rrraaab" oder "ab, ab ab" [...]. Kürzlich hatten wir eine ältere Dame zum Tee, und, nachdem diese uns über zwei Stunden lang langweiligen Familienkram erzählt [...] hatte, sagte Marion im Laufstall plötzlich "ab, ab" [...].

* erster Grundwortschatz; Bemühung um korrekte Phonation (keine "Kindersprache"!); Differenzierung zwischen Reduplikation und Wort-Wdh.: "ab, ab" ('geh weg') und "haam, haam" als Ellipsen ('ich möchte das haben').

Wortschatz
März-April 1979 (17-18 Monate)

ab, ab              (im Zusammenhang mit Weggehen, Weggetragen-Werden)
Appetit, Appetipp
Ei, Eia
èt                  'essen', unverschoben wie im Engl., Ndl.
Fis                 'Fisch', Lautstand wie im Ndl.
Geia                für gehörtes '(Pfui) Geier'
glatt               beim Hören von 'draußen ist es glatt'
Glick               'Glück', entrundet
Gluschen            'Schlüssel'
haam, hamen         'haben'
Hand
hart
Hemd
Hunga               'Hunger'
kack                onomatopoetisch für das Geräusch, mit dem sie in 
                    einen Kinder-Keks beißt
kalt
Kind
komm[e her]         im Satz 'komme her mein Sofa, se hängt'
Kopp, Kopf
Korb                'Laufstall'
Kickack             für das 'Ticktack' einer mechan. Uhr
kuckuck             'schau mal'
limm, dlimm         'schlimm'
Lippe
Mark, Mart          'Markt' (mart wie im Engl.)
Mama
mein                für 'dein'!
na? na?             (in fragendem Tonfall)
Nana                für kompaktes, festes Essen, spez. mit Bananen
nat                 'naß', unverschoben wie im Ndl., vgl. oben èt
nein
neme                'nimm mich' (?)
nit, nich           'nicht' (?)
Nuki, Nuckuck, Nuckuruck   'Schnuller' (drei Varianten!)
Oma, Opa, Oka       für = 'Oma, Opa, Uta' als erzählte Wortreihe
Papa, Papapei
Piep, Pieper
Popo                (nicht kontextuell)
raaab               (im Wald ausgesprochen mit Blick auf die Baumkronen)
Racker
Rakete, Rateta
Rei, reia           (als Nachahmung von 'Ringel, ringel, reie')
Ring
rrrummm, rrupp      {lautmalend)
Sofa
tapp                (für 'gehen')
Tee?                ('willst du noch Tee?')
tuut                (wenn telefoniert wird)
Uta                 (ihre Mutter)
wawawa              (spielerischer Rückfall in Initialphase)
weia, weia          für '(a)o weia'
wis                 'wisch'

Syntax:
"komme her mein Sofa, se hängt" [= 'ich habe schon ein Beinchen über den Rand gehängt, möchte aus dem Laufstall heraus und auf dein Sofa']; Marion beherrscht mit 17-18 Mon. etwa 80 Lexeme. Lautmalerei zunehmend; Reduplikationen ("wawawawa") nur noch selten, Phantasien wie "mmbà" nicht mehr. /kn/ noch nicht produzierbar. /t/ manchmal > /k/; /au/ noch nicht erworben; "mein" und "dein" noch verwechselt. Haben > haam(en); /sch/ nur intervokal. (s.o.); Mama und Papa flehend als "Amm-iii" und "App-aaa" (level stress).

Frühling bis Sommer 1979:
Phonetisch-lexikalische Assoziation: M. verbindet Lautmalerei mit gleichklingenden Lexemen: "Rörörörö -- Röhri will se haam"; "Ring! [zeigt auf meinen Ehering] -- Ringelringelreie"; komplette Liederverse werden vor dem Einschlafen korrekt memoriert.

24.9.1979 (23 Monate):
Marion singt Lieder, z.B. "Hänsel und Gretel verliefen sich im Wald", "Backe, backe Kuchen". Sprachliche Gegenwart wird von Vergangenheit unterschieden, z.B. "wir fahren Auto / sind Auto gefahren". Marion produziert Kurzsätze: "lieber nich" (=nein); "Funk machen", "Mikrofon halten", "Möchte Nanen essen"; "Gluschen haste, Portenee haste"; schwierige Wörter (Sprachatlas, Ferienkurs, Exkursion, Apotheke, Dentinox, Penicillin, Mikrophon) werden ad hoc fehlerfrei nachgesprochen. Erkennt im Fernsehen bzw. in Illustrierten bestimmte Lebewesen oder Gegenstände {Hund, Katze, Frau, Mann, Kind. Auto; [Captain] Kirk [körk]). Mit etwa 2 Jahren erkennt sie in einer Zeitschrift den, wie sie korrekt wiedergibt, "Ayatollah Khomeini" [ko'me:ni] und variiert dann folgendermaßen: "Ayatollah Nuckuruck Khomeini"; für 'Wasser' realisiert sie spielerisch nacheinander drei Varianten: "Wasser - Wassis - Wässerchen".

Texterstellung: 1979 / Sommer 1991; Einlesen, Bearb. + HTML: (c) W. NÄSER 13.8.1999