Dr. Wolfgang Näser: Wörter und Wendungen in aktuellen deutschen Zeitungstexten * SS 1998

Text 6

Die Welt blickt gebannt auf ihre Doppel-Null
Noch 19 Monate bis zum Jahr 2000 - für manche ein rechnerisches Schreckensszenario

In 19 Monaten beginnt das Jahr 2000, und längst laufen weltweit die Vorbereitungen, um das neue Jahrtausend mit rauschenden Festen zu begrüßen. Dabei droht in der Silvesternacht 1999 - rechnerisch gesehen - ein Schreckensszenario.

Von GERD BRÜGGEMANN
Washington - Auch die Herstellung und Verteilung von Elektrizität, die Flugsicherung oder das Kreditgewerbe sind längst von vernetzten Computern und deren Programmen abhängig - und genau an dieser Stelle steckt das Problem des Jahres 2000. Die großen Systeme, die zu Beginn des Computerzeitalters vor allem von Regierungen, Organisationen und Unternehmen aufgebaut wurden, sind vielfach noch heute in Gebrauch; neuere System arbeiten zudem oft mit der Software, die damals geschrieben wurde. Zu den einstigen Verfassern von Programmen gehörte auch Alan Greenspan, heute Chef des Federal Reserve Board (Fed), der US-Notenbank. Er erinnert sich: "Es ist uns damals nie in den Sinn gekommen, daß die Programme länger als ein paar Jahre benutzt werden könnten."

Die Programmierer irrten, und so stellten Experten vor einiger Zeit schon mit Entsetzen fest, daß viele Programme Kalender enthalten, in denen die Jahreszahl nur mit zwei Stellen angegeben ist, das Jahr 1970 also beispielsweise mit dem Kürzel "70". Das hat zur Folge, daß die Rechner das Jahr 2000, das als "00" erscheint, nicht richtig identifizieren und die Doppelnull für das Jahr 1900 halten. Folge: Der Computer hält die Angabe für einen Fehler, schaltet sich ab oder produziert unsinnige Ergebnisse. Überall auf der Welt wird deswegen daran gearbeitet, diesen Kardinalfehler zu korrigieren. Allein die 500 größten Unternehmen der USA wenden dafür mehr als elf Milliarden Dollar auf.

Die Frage, wie viele Systeme bis zum Jahr 2000 unkorrigiert bleiben werden, ist bisher unbeantwortet. Fed-Chairman Greenspan sprach vor dem Kongreß in Washington von einem "hohen Maß an Ungewißheit". Deswegen werden die möglichen Auswirkungen des Problems "Y2K", wie die Amerikaner es nennen, weiter diskutiert. Vor allem Wall Street handelt gegenwärtig düstere Szenarien, in denen die Möglichkeit einer weltweiten Rezession als Folge der fehlerhaften Computerprogrammierung für sehr wahrscheinlich gehalten wird. Führender Vertreter dieser Ansicht ist Edward Yardeni, Chefvolkswirt der Deutschen Morgan Grenfell, einer New Yorker Investmentbank, die eine Tochtergesellschaft der Deutschen Bank ist. Yardeni vergleicht die Situation mit dem Jahr 1973, als der arabische Ölboykott die Weltwirtschaft in eine Rezession gleiten ließ. So wie damals das Öl eine lebenswichtige Ressource war, so ist es heute der ununterbrochene Strom von Informationen.

Die Angst vor einem ökonomischen Stillstand beruht vor allem darauf, daß sich Ministerien und Regierungsbehörden dem Problem nur schwerfällig nähern. Der oberste amerikanische Steuerbeamte Charles Rossotti zum Beispiel meint: "Wenn wir das Jahrtausendproblem nicht lösen, haben wir eine Situation, die furchterregender ist als ein durchschnittlicher Katastrophenfilm." Und die Aussichten sind tatsächlich nicht sonderlich gut. Die Behörde muß in mehr als 60 Großcomputern 62 Millionen Zeilen Software prüfen. Aber auch die Flugsicherung kann nicht garantieren, daß ihre Computer im Jahr 2000 zuverlässig operieren werden. Die Sozialversicherung weiß nicht, ob die Zahlungen an Rentner pünktlich überwiesen werden können, und die Banken haben keine Gewißheit darüber, ob der Zahlungsverkehr national und international prompt abgewickelt werden kann.

Auf der anderen Seite gibt es Experten, die die Untergangsszenarien als übertrieben ansehen. Zwar räumen sie ein, es sei wenig wahrscheinlich, daß in den kommenden Monaten alle Systeme umgerüstet werden können; aber sie gehen doch davon aus, daß die meisten für die Volkswirtschaft wesentlichen Systeme funktionieren werden. Edward Kelley, Fed-Direktoriumsmitglied und Beauftragter für "Y2K", erklärt: "Es ist keineswegs ausgemacht, daß wir vor einem Desaster stehen." Eine "gewisse Plausibilität" will allerdings auch er den Schreckensszenarien nicht absprechen.

© DIE WELT, 25.5.1998

Aufgaben: vgl. Texte 1-5; zumindest die für den Text und seine Thematik wichtigen Wörter und Wendungen sollten genau nachgeschlagen und in einer entsprechenden Liste dokumentiert werden. Ferner lohnt sich auch in diesem Fall eine Diskussion über den Inhalt. Haben Sie sich schon mit dem Thema beschäftigt, was haben Sie dazu / darüber erfahren? Was meinen Sie dazu? Wird hier übertrieben?