Nato-Truppen im Kosovo wären der Weg in die Sackgasse"

Moskaus Oberbürgermeister Juri Luschkow: UN-Kontingent soll Flüchtlingsrückkehr absichern ­ Kritik an russischer Privatisierung und am Westen

Wird Moskau im Kosovo eingreifen? Warum wäre Rußland gerne Mitglied der Europäischen Union? Versinkt das Land im Chaos? Im WELT-Gespräch antwortet Moskaus Oberbürgermeister Juri Luschkow. Er ist einer der einflußreichsten Politiker Rußlands. Mit ihm sprachen Peter Schmalz und Manfred Quiring.

DIE WELT: Die Nato bombardiert Jugoslawien, ein „slawisches Bruderland" Rußlands. Was kann Rußland mehr tun, als mit Worten zu protestieren?

Juri Luschkow: Rußland hat seine Position zum Balkan klar dargelegt. Und dabei stimmt der offizielle Standpunkt, was in letzter Zeit nur selten vorgekommen ist, mit der Meinung der Mehrheit, ja sogar der absoluten Mehrheit der russischen Bürger überein: Zur Zeit wird eine Aggression gegen Jugoslawien verübt, und es wird das Statut der UNO verletzt. Die Nato hat beschlossen, sich das Recht zu nehmen, selbst zu bestimmen, wer in der Welt zu bestrafen ist.

DIE WELT: Aber es ist eine Aggression der Serben vorausgegangen . . .

Luschkow: Dieses Problem existiert tatsächlich, aber es ist ein inneres Problem dieses Landes, und es kann mit wesentlich effektiveren Mitteln als Bomben gelöst werden. Hätte die Vertreibung der Kosovo-Albaner gravierende Ausmaße angenommen, dann ­ so bin ich überzeugt ­ hätte Rußland selbst Maßnahmen ergriffen und sich auch an kollektiven Maßnahmen beteiligt, um eine weitere Eskalation zu verhindern. Denn derartige Handlungen veranlassen weder die Weltöffentlichkeit noch Rußland zur schweigenden Gleichgültigkeit oder gar zur Unterstützung. Doch als die Bombenangriffe auf Jugoslawien begannen, erhöhte sich die Zahl der von ihren Wohnorten im Kosovo Vertrieben auf das Zehnfache. Das aber heißt, daß die Bombenschläge gegen Jugoslawien den serbischen Extremisten in die Hände spielen. Daß die Nato diese Entwicklung nicht vorhergesehen hat, war ein großer Fehler. Der Versuch, eine Lösung mit militärischen Mitteln zu finden, führt in die Sackgasse. Absolut.

DIE WELT: Sehen Sie eine Möglichkeit, die Krise mit anderen Mitteln zu lösen?

Luschkow: Natürlich. Ich bin überzeugt, daß es erstens nötig ist, die Bombenangriffe zu beenden. Wenn Sie wollen, kann ich es rigoroser ausdrücken: Die Aggression muß beendet werden. Das ist die Hauptvoraussetzung dafür, daß ein Prozeß beginnen kann, der zum Ziel hat, den Status quo vor der Vertreibung der Albaner aus dem Kosovo wiederherzustellen. Übrigens gehen nicht nur Albaner, sondern auch Serben aus dem Kosovo weg. Zweitens: Nach dem Ende der Bombenangriffe müssen Albaner und Serben wieder in die Orte zurückkehren, in denen sie zuvor gelebt haben. Damit dies geschehen kann, muß man die jugoslawische Führung drängen, die Voraussetzungen dafür zu schaffen. Die Rückkehr muß humanitär, aber auch militärisch abgesichert werden. Für diese militärische Kontrolle ist die Nato unter keinen Umständen akzeptabel, sie muß einem UN-Kontingent übertragen werden.

DIE WELT: Haben Sie mit Ministerpräsident Stoiber eine Lösung gefunden, wie man diese friedenschaffende Mission realisieren kann? Wäre Rußland dazu bereit?

Luschkow: Natürlich muß unter anderem auch Rußland daran beteiligt sein. Doch ich möchte jetzt nicht über die Gespräche mit dem bayerischen Ministerpräsidenten reden, denn wir haben Vertraulichkeit vereinbart. Aber ich kann sagen, daß die Gespräche sehr offen und sehr nützlich waren. Wirklich sehr nützlich. Ich glaube, sie werden in unserem Bemühen fortgesetzt, die Ausbreitung des Konfliktes zu stoppen. Dies alles natürlich im Rahmen unserer Vollmachten und Möglichkeiten.

DIE WELT: Hoffen Sie auf eine schnelle friedliche Lösung? Sehen Sie Gefahr für den Weltfrieden?

Luschkow: Ich kann mit aller Entschiedenheit sagen, daß eine friedliche Regelung des Kosovo-Konfliktes möglich ist. Absolut möglich. Aber es gibt eine große Gefahr, die darin besteht, daß die Bombardements fortgesetzt werden. Jeder neue Bombenangriff rückt die Möglichkeit einer Friedenslösung immer weiter in die Ferne, denn er verhärtet die Fronten und verlängert die Tragödie jener, die im Kosovo lebten. Und ich möchte vor einer Eskalation des Konfliktes seitens der Nato warnen, denn es existieren ja bereits Pläne zum Einmarsch von Nato-Truppen nach Jugoslawien. Das wäre erstens eine außerordentliche Bedrohung für die gesamte Welt, denn es würde von Ländern, die in irgendeiner Form von dem Konflikt betroffen sind, neue Entscheidungen fordern, darunter auch von Rußland. Und zweitens: Es wäre der Weg in eine Sackgasse, denn einen Sieg wird die Nato in Jugoslawien niemals erringen.

DIE WELT: Sondern?

Luschkow: Die Bombenangriffe werden zu keinem Ergebnis führen, und ein Einmarsch von Nato-Truppen würde zu einem Guerillakrieg führen. Als ich Ende März in Paris war, sagte ich dem französischen Präsidenten Jacques Chirac: Wenn Sie in das Kosovo einmarschieren, werden Sie ein zweites Vietnam erleben. Die Franzosen sind bei dem Thema ja besonders sensibel.

DIE WELT: Stellt die Erweiterung der Nato und der EU eine Bedrohung für Rußland dar?

Luschkow: Zweifellos wäre die Beteiligung Rußlands an der Europäischen Union vorteilhaft für unser Land, weil es uns erlauben würde, an dem riesengroßen Markt Europas teilzunehmen. Rußland ist eine europäische Macht, und seine Teilnahme an den Wirtschaftsprozessen ist ein wichtiges Element. Leider erlaubt uns der traurige Zustand unserer Wirtschaft vorläufig nicht, damit zu rechnen, daß Rußland in nächster Zeit aufgenommen werden kann. Doch dies anzustreben, muß eine der wichtigsten Aufgaben der russischen Außen- und Innenpolitik sein. Was die Nato angeht, so hat sie sich als Organisator einer offenen Aggression erwiesen. Die Kontakte zwischen Rußland und der Organisation sind unterbrochen. Wenn die Nato ihr aggressives Herangehen an das Kosovo-Problem und andere Konflikte nicht ändert, wird es für Rußland schwierig, normale Beziehungen zu dieser Organisation zu unterhalten. Rußland hat seine strategischen und nationalen Interessen in Europa und auch in anderen Regionen der Welt. Die Ausweitung der Nato in Richtung auf unsere Grenzen widerspricht diesen Interessen.

DIE WELT: Rußland ist dringend auf Hilfe aus dem Westen angewiesen. Wie kann es in einer solchen Lage als Weltmacht auftreten?

Luschkow: Ich glaube, Rußland kann man zur Zeit nur hinsichtlich seines Territoriums als Großmacht bezeichnen. Unser Land durchlebt wirre Zeiten. Der Machtapparat Rußlands arbeitet nicht effektiv. Und die Wirtschaft unseres im Grunde reichen Landes deutet wie bei einem Barometer leider noch nicht auf „Aufklaren". Noch verharren alle im Zustand des Abwartens: Wird alles noch schlechter, oder beginnt endlich die Stabilisierung?

DIE WELT: Im Westen entsteht der Eindruck, Rußland stehe am Abgrund.

Luschkow: Der Absturz ins schwarze Loch? Da irren Sie sich. Es ist noch zu früh, Rußland abzuschreiben. Gewiß, Rußland durchlebt jetzt seine allerschwerste Zeit, aber als Staat hat Rußland sogar unter diesen Bedingungen gute Möglichkeiten, sich zu stabilisieren und zu erneuern. Der 17. August letzten Jahres war ein Schock, doch viele Regionen haben diese Augustkrise mit der darauf folgenden rasanten Verteuerung der Importe dafür genutzt, ihre Wirtschaft anzukurbeln. Sie können das auch schon in unseren Geschäften erkennen, in denen viel mehr inländische Produkte angeboten werden als früher. Ich bin überzeugt, daß wir mit einer effektiven Staatsführung recht schnell unser Potential wiederherstellen können.

DIE WELT: Sie sagen, Rußland sei mit Hilfe des Westens in diese schwere Situation geraten. Hätte es denn eine Alternative gegeben?

Luschkow: Natürlich. Rußland hatte zu Beginn der neunziger Jahre Probleme und brauchte Hilfe. Wir bekamen auch Hilfe, doch der prinzipielle Fehler bestand darin, daß der Westen mit Krediten half, die zum Verzehr bestimmt waren. Der Westen hätte Kredite geben müssen, die verbunden waren mit dem Aufbau und der Entwicklung der Produktion. Dann hätte Rußland mit der Hilfe des Westens Arbeitsplätze geschaffen und eigene Waren hergestellt ­ es hätte also seine ökonomischen Aufgaben lösen können, indem es die Bedürfnisse seines Binnenmarktes befriedigt und damit seine eigene Produktion sichert. Der Westen wollte diesen Weg leider nicht gehen. Er glaubte, man müsse Rußland unterstützen, indem man Kredite gab, die Rußland für den Einkauf von Waren im Westen benutzte. Das war ein prinzipieller Fehler, denn ein solcher Prozeß läßt sich nicht endlos fortsetzen. Die Welt kann Rußland nicht ernähren, Rußland muß sich selbst ernähren.

DIE WELT: Noch immer fließen mehr Dollar aus Rußland heraus, als Kredite und Investitionen hereinkommen . . .

Luschkow: Es gibt zwei Gründe für diesen Geldabfluß aus Rußland. Erstens fehlt der Glaube an die Stabilität der Macht im Lande. Der zweite Grund ist krimineller Natur. Der erste Grund kann dann beseitigt werden, wenn in Rußland eine effektive Führung an der Spitze steht, die sich energisch mit dem Sektor Wirtschaft befaßt und Bedingungen dafür schafft, daß Kapital in Rußland zuverlässig arbeiten kann. Gegenwärtig existieren diese Voraussetzungen nicht. Deshalb versuchen sehr viele Geschäftsleute, kaum daß sie Mittel in die Hand bekommen, diese in den Westen zu pumpen und dort zu halten. Der erste Grund, warum sie dies tun, liegt also in der Sicherheit für das Geld. Der Zusammenbruch des Bankensystems hat doch gezeigt, wie gefährlich es ist, die Gelder hier bei uns im Land zu behalten. Bei uns sind sehr viele Banken bankrott gegangen. Zum zweiten Grund, dem kriminellen: Ich glaube, ich brauche die Herkunft dieses Kapitals nicht weiter zu beleuchten, das auf unsaubere Weise erworben wurde und dann illegal außer Landes gebracht wird. Dieser kriminelle Anteil ist sehr hoch in Rußland, vielleicht verringert er sich jetzt. Der Aufschwung der Kriminalität war verbunden mit einer absolut verbrecherischen Privatisierung, die allerdings nach staatlichen Gesetzen ablief, die eine solche verbrecherische Privatisierung zuließen.

DIE WELT: Der Erfolg Moskaus ist eng mit dem Namen Luschkow verbunden . . .

Luschkow: Nun, ich will mich nicht vor Ihnen produzieren, denn ich glaube nicht, daß ein Mensch allein den Erfolg eines so großen Wirtschaftssystems wie Moskau sichern kann. Notwendig ist dafür erstens eine Mannschaft erfahrener Leute, die ihre Sache kennt und einen gesunden Ehrgeiz hat. Zweitens ist es wichtig, nicht nur zu verkünden, sondern die Pläne auch umzusetzen: also aktiv die Marktwirtschaft zu gestalten und in der Stadt eine durchsetzungsfähige Verwaltungsstruktur aufzubauen. Dies ist uns gelungen. Und drittens ist außerordentlich wichtig, das Budget der Stadt nicht nur für Investitionen zu verwenden, sondern etwa die Hälfte zur sozialen Unterstützung der Bevölkerung einzusetzen. Das hebt die Stimmung der Leute, gibt ein Gefühl der Hoffnung und schafft Vertrauen.

DIE WELT: Man sagt, Moskau lebe auf Kosten der Regionen. Ist der Erfolg der Metropole übertragbar auf das ganze Land?

Luschkow: Natürlich. Wir sind bei der Privatisierung nicht den Weg Rußlands gegangen. Was wir umgesetzt haben bei der kommunalen Wohnungsreform, beim Aufbau der Macht- und Verwaltungsstrukturen der Stadt, bei der marktwirtschaftlichen Umgestaltung, beim Arbeitsmarkt und beim Finanz- und Wertpapiermarkt ­ alles kann als direktes Beispiel für jede Region gelten. Natürlich braucht man da oder dort Korrekturen, aber im großen und ganzen ist es absolut brauchbar für Rußland.

DIE WELT: Wollen Sie zu den Präsidentschaftswahlen kandidieren?

Luschkow: Danach werde ich fast öfter gefragt als alle übrigen russischen Politiker zusammengenommen. Und das ist verständlich. Zum Beispiel haben Sjuganow, Lebed und Jawlinski schon längst erklärt, daß sie unabhängig von ihren Chancen um diesen Posten kämpfen werden. Es sieht so aus, als wäre ich der einzige, über den sich die Journalisten nicht so recht klar werden können. Aber vielleicht ist es gar nicht so schlecht, etwas rätselhaft zu sein. Doch im Ernst: Diese Frage habe ich schon längst beantwortet. Ich bin bereit, um die Vollmachten eines Präsidenten zu kämpfen, wenn ich sehe, daß alle übrigen Anwärter diese Vollmachten wesentlich schlechter für das Land einsetzen würden als ich.

DIE WELT: Ist es also denkbar, daß der nächste Präsident Rußlands eine Schirmmütze trägt?

Luschkow: Es hat Zeiten gegeben, da trugen alle Herrscher Kronen. Danach hat sich die Mode geändert, und nicht nur gewählte, sondern auch erbliche Herrscher haben Zylinderhüte aufgesetzt. Heute tragen alle weiche Hüte. Aber die Mode ist unbeständig. Vielleicht wird die Schirmmütze bald zu einem ebenso untrennbaren Merkmal wie früher die Krone? Designer aus anderen Ländern haben ihre Inspirationen oft aus russischen Motiven geschöpft. Vor ein paar Dutzend Jahren sind unsere russischen Stiefel, umgestaltet von italienischen Meistern, zurückgekehrt. Warum sollten sich nicht zum Beispiel deutsche Modemacher an unserer Schirmmütze begeistern? Doch sie ist nicht unsere Erfindung, sie wurde in Frankreich geboren.

DIE WELT: Sie hatten gerade Bayerns Ministerpräsident Stoiber zu Gast. Bestehen besondere bayerisch-russische Beziehungen?

Luschkow: In den Beziehungen zu Bayern existiert eine besondere Nuance, die für uns als Beispiel sehr wichtig ist. Bayern hat sich immer durch seine größeren Eigenheiten von den anderen Ländern unterschieden. Mehr als andere betrachtet es sich als Staat im Staate. Also ein asymmetrischer Föderalismus, der in gewissem Umfange die Entwicklungsperspektiven und inneren Strukturen der Russischen Föderation aufzeigen kann, ja, es kann sogar Beispiel sein für die Entwicklung innerhalb der GUS.

DIE WELT: Sie sehen aus wie der Prototyp eines Unternehmers. Würden Sie gegenwärtig in Rußland investieren?

Luschkow: Aber natürlich würde ich investieren. Obwohl die Lage nicht sehr stabil ist. Zum Beispiel unterliegen die Investitionen in den Finanzmarkt bei uns großen und vielfältigen Risiken. Aber wer nicht auf schnelles und leichtes Geld aus ist, sondern seine Mittel in den realen Sektor investiert, dessen Einsatz wird sich amortisieren. Im Durchschnitt sogar schneller als bei riskanten Spekulationen. Die jüngsten Erschütterungen in Südostasien und auch in Rußland haben sich auf die Finanzwelt und die Spekulanten ungleich stärker ausgewirkt als auf die Produzenten. Das haben wir auch in Moskau gespürt, das man gewöhnlich für das russische Finanzzentrum hält. Tatsächlich aber gibt es bei uns eine große und vielfältige Industrie.

DIE WELT: Bei der Gründung Ihrer Bewegung „Vaterland" haben Sie einen starken Staat gefordert. Wo ist die Grenze zur Diktatur?

Luschkow: Der junge Zar Alexander I. fragte seinen Lehrer: „Worin unterscheiden sich Monarchie und Tyrannei? Die eine wie die andere Macht ist doch unbegrenzt!" Darauf der Lehrer: „Ein Monarch macht die Gesetze, untersteht aber niemandem. Doch danach ordnet er sich diesen Gesetzen unter. Ein Tyrann verletzt auch die Gesetze, die er selbst gemacht hat." Alexander hat als echter Monarch regiert und ist als einer der besten Zaren in die Geschichte eingegangen.

Quelle: DIE WELT, 13.4.99