Textsorte: Bericht
An deutschen Schulen explodiert die Gewalt. Da wird geprügelt, geraubt, erpreßt. Mit Knüppeln, Messern, Schußwaffen. Lehrer stehen hilfslos davor, sind oft selbst Zielscheibe der Aggresionen. Einer von ihnen berichtet vom Terror im Klassenzimmer.
Jedesmal, wenn Lehrer Klaus G, 45, in seine Klasse geht, steht ihm der Schweiß auf der Stirn: "Wie sie mich wieder haßerfüllt anstarren", denkt er. Einige halten ein Klappmesser in der Hand, lassen es demonstrativ auf- und zuschnappen. Klaus G. hat Angst vor seinen 16 Jahre alten Schülern. "Sie drohen mir, lauern mir auf dem Nachhauseweg auf und zischeln hinter mir her: 'Wenn du mir 'ne Fünf gibst, stech' ich dich ab .' Ich kann nicht mehr."
Vor einer Woche haben sie einen Kollegen vor der Schule mit Baseballschlägern verprügelt. Der Grund: Der Lehrer hatte in der Pause ein Mädchen aus dem Schwitzkasten eines Rowdys befreit. "Es hat eine Brutalisierung der Gewalt stattgefunden", sagt Jugendforscher Professor Klaus Hurrelmann. "Rund 15 Prozent eines Altersjahrgangs sind aggressiv und gewalttätig. Jeder fünfte Schüler ist heute sozial verwahrlost", ermittelte Hurrelmann in einer Schule.
Viele Lehrer "ertragen" diese Übergriffe kommentarlos. Weil sie Angst vor Rache haben. "Diese Narbe", sagt Conrad P., 54, aus München und zeigt seinen rechten Oberarm, "hat mir ein 14jähriger verpaßt - mit dem Messer. Ich habe nichts gegen ihn unternommen. 'Es war ein Unfall', habe ich überall erzählt." Conrad P. ist seit einem Jahr frühzeitig pensioniert. Er ist den Schülern nicht mehr gewachsen - psychisch und körperlich. Über 60 Prozent der Lehrer lassen sich vorzeitig in den Ruhestand versetzen, die meisten sind dann Anfang Fünfzig. "Ich bin kaputt. Ich kann mit diesen Aggressionen nicht mehr umgehen", sagt Conrad P.
Pädagogen, Eltern, Politiker stehen fassungslos vor dieser Welle der Gewalt: Mehr als 280.000 Pausenunfälle und 85.000 Unfälle durch Aggressivität und Rangeleien wurden 1991 bundesweit gemeldet. "Dabei wird nur ein Bruchteil der Taten bekannt", sagt Kriminalhauptkommissar Joachim Solon aus München.
Der Preis der Gewalt ist hoch. Nicht zuletzt, weil jährlich durch Zerstörungen ein Sachschaden von 200 Millionen Mark an Deutschlands Schulen entsteht.
HTML: W. Näser, MR 22.5.2000
Dieser Text bildete einen Anhang zum
Reader meiner Gruppe "Literatur
und Medien" im Internationalen Sommerkurs der Philipps-Universität 1993