Deutsch im 20. Jahrhundert * Dr. Wolfgang Näser * Mi 16-18, HS 110 Biegenstraße 14 * Beginn 10.4.2002

Strittmatter, Erwin (1912-1994): Kapitel 22 (S. 142-147) aus: Der Wundertäter (1957)
erschienen im Aufbau-Verlag Weimar 1967

VORBEMERKUNG. Erwin Strittmatter gilt als bedeutendster Dichter der Niederlausitz, als Meister des einfachen und zugleich wortschöpferischen Stils, als fabulierfreudiger Maler ausdrucksstarker Miniaturen, als Porträtist des Lokalkolorits. Das NEUE DEUTSCHLAND schreibt im Klappentext, er erzähle die Geschichte des Stanislaus Büdner "mit jenem überlegenen Humor, mit dem ein gereifter Mensch sich an seine Jugend erinnert. Als sozialistischer Schriftsteller aber ist ihm die spießerliche Resignation bürgerlicher Literatur fremd, dieses süßliche Lächeln, mit dem das leidenschaftliche Suchen und Irren junger Menschen als 'Jugendsünden' und 'Verwirrung' abgetan wird, um die feige Aussöhnung mit dem sogenannten Schicksal zu rechtfertigen."

Das Besondere, Einmalige dieses Buches, so die Zeitung DAS VOLK (Erfurt), bestehe in der Sprache des Dichters: wie er die Natur und die Menschen schildere, banalen Dingen einen "geheimen inneren Sinn" verleihe und wie er "seinen tief menschlichen Humor vom harmlosen Spaß bis zum bitteren Sarkasmus" steigere und seine Menschen "so ganz und gar natürlich und doch nicht flach-naturalistisch sprechen" lasse. Unser Textauszug schildert ein kleinbürgerliches Caféhaus-Milieu nach dem Ersten Weltkrieg. W.N.

22
   
Der Geist der Dichtkunst fährt fort, aus STANISLAUS zu sprechen, und eine Versucherin sucht ihn in seiner Kammer zu versuchen.

Meister Kluntsch rächte sich für das mißlungene Strafexerzieren. Sollte er diesen widerspenstigen Lehrling nicht zahm kriegen7 Stanislaus erhielt Strafdienst. Jetzt sollte er abends, wenn auf den Caféhaustischchen die kleinen Lampen brannten und das Café mit Gästen gefüllt war, Ludmilla an der Theke zur Hand gehn. Ein jaches Pferd muß müde gemacht werden! Stanislaus sollte die Gläser spülen, Bier anstecken, Eis auflegen und das gebrauchte Kaffeegeschirr zum Spülen in die Küche bringen.

Nun war Stanislaus von morgens fünf Uhr bis nachts zwölf und ein Uhr auf den Beinen, und diese Beine schmerzten. Sie bogen sich langsam und wurden krumm -- da war wohl nichts zu machen. Sehnsüchtig warteten er und Ludmilla auf den Sonntag. Am Sonntag, der mit sechs langen, langen Wochentagen erkauft werden mußte, wurde Ludmilla von einem Küchenmädchen und Stanislaus von einem anderen Lehrling vertreten.

"Wieviel Stunden eine Nacht hat, Ludmilla!" -  "Wohl dem, der da schläft und sie nicht zahlen muß!"  Stanislaus setzte sich rasch auf eine Stuhlkante hinter der Theke, nur um ein Weilchen den Schmerz in seinen Beinen nicht zu spüren. Das Café war blaudünstig von Tabakqualm. Der Ventilator, diese kleine Lunge des Caféhauses, pustete den Qualm auf die Straße, in die Kronen der verkrüppelten Straßenlinden hinein, doch die Gäste fertigten neuen Qualm an, hüllten ihre Worte darin ein und stießen alles zusammen aus ihren Mündern. Raunen und Klirren stieg aus dem Caféraum. So rauscht das Meer von Brasilien! Stanislaus fuhr hoch. Er war auf der Stuhlkante eingenickt. Gottlob, niemand hatte es wahrgenommen, nicht einmal Ludmilla. Aus dem Bierhahn knallte Schaum. Stanislaus mußte in den Keller, um ein neues Faß anzustecken. Er kühlte sich im Keller die Stirn mit Eis, steckte einen Eisklumpen in den Mund, hastete nach oben und räumte die Tassen, die an ihren Rändern erstarrte Trinktröpfchen trugen, in die Küche.

Und es gab großzügige Herren, die das Café Kluntsch besuchten. Sie tranken eine Weile allein, bis sie lustig wurden, dann aber luden sie eine Dame ein, baten die Dame, mit ihnen zu trinken. Es gab Damen, die lehnten das ab. "Sie sind aus guter Familie", sagte Ludmilla. Es gab auch Damen, die lehnten es nicht ab. "Die sind aus schlechter Familie", sagte Ludmilla.

So konnte es kommen, daß ein Herr, der ohne Dame das Caféhaus betreten hatte, mit einer solchen davonging. Er war lustig und trällerte und gab sowohl Ludmilla als auch Stanislaus im Vorbeigehen einen Fünfziger oder eine Mark. Ludmilla gab ihre Mark Stanislaus. "Es fällt mir nicht ein, von einem Lebemann Trinkgeld zu nehmen. Was sollt ich von mir denken", sagte Ludmilla.

Stanislaus nahm die Mark von Ludmilla und bedankte sich. Ihm war es gleich, ob das Trinkgeld von einem Lebe- oder einem Todesmann kam. Er hatte in der Zeitung von einem Mittel gegen krumme Beine gelesen. Das wollte er sich jetzt schicken lassen. Außerdem hatte er das Schmetterlingsbuch keineswegs vergessen.

Im Café des Meisters Kluntsch verkehrten nicht nur reisende Kaufleute, sondern auch feinere Kundschaft. Da waren die Mitglieder des "Stahlhelms". Der "Stahlhelm" war ein vornehmerer Verein als der Kriegerverein. Im Kriegerverein waren Leute, die nur aus Erinnerung an die tapferen Kriegszeiten schießen und trinken gingen, im "Stahlhelm" hatten so flaue Erinnerungsbrüder keinen Platz. Der "Stahlhelm" und seine Führer Duesterberg und Seldte hatten die Zukunft im Auge. Die Erinnerung an einen Krieg ist ein feuchter Schmutz. Die Mitglieder des "Stahlhelms" waren willens, jeden Tag mit einem neuen Krieg zu beginnen und die Kolonien und den Kaiser zurückzuerobern. Im "Stahlhelm" waren auch solche Wörter wie Serviette, Etage, Debatte und Toilette unerwünscht. Alle diese Wörter waren französisch, feindlich und artfremd. Es hieß dort: Mundtuch, Stockwerk, Rededuell und Scheißhaus. Die Mitglieder des "Stahlhelms" waren nicht welsch, sie waren deutsch, jawohl! Es gab dort einen Studienrat und Geschichtslehrer, der behauptete, auch das Wort Duell sei ein französisches. Er ließ nur das Wort Aussprache für Debatte zu und sagte selber nicht einmal Elektrizität, sondern Neukraft.

Es war Bäckermeister Kluntsch -- wie gesagt -- nicht vergönnt gewesen, im Kriege Hauptmann zu werden. Hier im "Stahlhelm aber wurde ihm nun ermöglicht, mit den aktiven Offizieren der Stadt umzugehen wie mit seinesgleichen. Die vornehmen Mitglieder des "Stahlhelms" waren keine gewöhnlichen Biertrinker. Sie tranken Kognak und in vorgerückter Stunde Wein. Meister Kluntsch ließ es sich angelegen sein, für den Wein zu sorgen. Es konnte vorkommen, daß einige Herren Offiziere in später Nachtstunde sofort mit dem neuen Krieg begannen. Sie führten diesen Probekrieg mit Weingläsern und Flaschen um gewisse Damen, die nach Schluß der Sitzungen Zutritt zum Café erhielten. Meister Kluntsch mußte sogar erleben, daß ein Major Krieg mit einem Hauptmann um seine Frau führte. Der Frau Meisterin Kluntsch waren die Herren des "Stahlhelms" besonders zugetan. Der Meister pries sich glücklich, ein Weib zu besitzen, nach dem sich sogar ein Major die Finger beleckte. Es herrschte eine Atmosphare -- Entschuldigung --, ein Dunst von Großzügigkeit bei den "Stahlhelm"-Leuten. Sollte da Meister Kluntsch kleinzügig sein und etwa murren und ungehalten werden, wenn bei den Probekriegen ein paar Weinglaser in Scherben gingen? Die Herren waren auf jede Weise großzügig. Sie bezahlten entweder mit großen Scheinen, ohne einen Pfennig zurück haben zu wollen, oder sie bezahlten gar nicht und bezeichneten ihre Zechen als Lappalien. Menschen, die um Kolonien kämpften, Kolonien, die zehnmal größer waren als dieses geschundene Deutschland, konnten sich nicht bei ein paar Plaschen Wein aufhalten.

Der "Stahlhelm" unterschied sich auch durch ein eigenes Lied, eine Vereinsweise, vom stumpfsinnigen Kriegerverein."Hakenkreuz am Stahlhelm, schwarz-weiß-rotes Band..." , sangen die Herren. Außerdem sangen sie, ohne sich an irgendwelche Verbote zu kehren: "Heil dir, im Siegerkranz, heil, König, dir..." Die Herren sangen laut und bardisch. Der Studienrat meisterte das Caféklavier ausgezeichnet. Er spielte harte Lieder und, wenn es hoch kam, sogar deutsche Tanzmusik: "Siehst du nicht, da kimmt er, lange Schritte nimmt er...", oder "Lützows wilde, verwegene Jagd" als Schieber, o ja!

Der ersehnte Sonntag war da. Stanislaus hauste immer noch in seiner Sonderkammer. Meister Kluntsch konnte nicht verantworten, einen so schlechten Patrioten und Scheibenanweiser aus dem Arrest zu lassen. Ein schlapper Soldat gehörte ewig in den Kasten, damit er die anderen mit seinen weichen Manieren nicht ansteckte. Stanislaus hatte keine Sehnsucht nach der Gemeinschaftsstube der Lehrlinge. Er lag hier und mußte Zwiesprache mit den neuen Kräften halten, die über ihn gekommen waren. Sie rumorten in ihm und gaben nur Ruhe, wenn er sie in Gedichten aus sich herausstieß.

Wieder schrieb er einen langen Brief für Marlen. Stanislaus hatte Plunderhörnchen in den Laden geschafft und sich von Ludmilla etwas weißes Einwickelpapier für seinen Brief erbeten. Ludmilla hatte sich nicht kleinlich gezeigt. Mit einer kleinen Rolle unterm Schürzenlatz war Stanislaus davongegangen. Er fühlte sich imstande, die ganze Rolle Einwickelpapier für Marlen zu bedichten.

Die Herren vom "Stahlhelm" sangen und musizierten. Im ganzen Hause zitterten die Fensterscheiben: "O Deutschland hoch in Ehren..." Die Bässe brummten sich an wie gereizte Bären. Dazwischen tirilierten die Grashüpferstimmen der Damen: "Haltet aus im Sturmgebraus!"

Stanislaus hatte sich die Bäckermütze über die Ohren gezogen. Aus diesem Grunde überhörte er ein sanftes Klopfen an seiner Kammertür. Ludmilla stand im Nachthemd auf dem Gang. "Hast du den Brief fertig, Stanislaus?"

"Nein, ich bin nicht fertig." Ludmilla trat ein wenig ein."Es ist vielleicht besser, wenn ich den Absender auch in meiner Schrift auf den Umschlag schreibe. Man kann nie wissen."

Stanislaus war gerührt von Ludmillas Freundlichkeit. Er hatte nichts dagegen, daß sie sich ein wenig auf seinen Bettrand setzte und zusah, wie er schrieb und schrieb. Ludmilla störte ihn nicht.

"Von mir aus könntest du schreiben, bis das Papier aufgebraucht ist", sagte Ludmilla und zitterte. "Ich steck nur die Beine ein wenig ins Warme. Es ist eine kühle Nacht, und ich bin so... Schau her, wie bloß ich bin." Stanislaus konnte wirklich sehen, wie bloß Ludmilla war. Die kühle Luft konnte beim Hemdlatz hinein und hinaus wehn. "Gehst du ohne Brille ins Bett, Ludmilla?

"Wozu brauche ich sie in der Nacht?" Ludmillas Augen waren groß und starr, ein wenig tot wie kleine Teiche, in denen nicht ein Kräutlein wachst. Aber siehe, das Dichten ging nicht mehr so flott von der Hand, als sich Ludmilla neben Stanislaus erwärmte. Jetzt war sie wohl gar eingeschlafen und ließ ihre patschige Hand hingehen, wohin sie wollte. Stanislaus schob die Hand sanft von seiner Brust. Ein Weilchen, und Ludmillas Hand lag auf Stanislaus' Kopf. Stanislaus' Dichtungen glucksten nur noch in sanften Tropfen auf das Einwickelpapier. Es war nicht unangenehm, wie ein kleines Kind am Kopf gestreichelt zu werden bei all dem Liebesschmerz, der verdaut werden mußte. Zufrieden wie ein Kleinkind schlief er über seiner großen Dichtung für Marlen ein.

Die Herren vom "Stahlhelm" brachten unten im Café die Nacht auf ihre Weise hin. Der Studienrat hämmerte immer noch deutsche Tänze aus dem Klavier: "Eins. zwei, drei, vier -- Jule mach das Fenster auf, der Leiermann ist hier." Nicht alle Herren waren für den Tanz. Sie überschrien die Tanzlieder: "Es braust ein Ruf wie Donnerhall..." , und es schloß sich wirklich ein Donner an: Tischgepolter, Glasgeklirr. Dazwischen die schrille Stimme der Meisterin: "Man hat den Major verletzt, den Herrn Major!"

"Rache!" schrie der Meister. Das Gepolter begann von neuem.

Stanislaus fuhr aus unruhigem Schlaf. Das fehlte noch: Hier lag Ludmilla in seinem Bett, und ihr Hemd war verrutscht. Er spürte ihr warme Haut. Wie leicht konnte es der Haustochter im Halbschlaf einfallen, ihn zu küssen, und sie bekamen ein Kind. Er noch ein Kind!

Stanislaus sprang aus dem Bett, breitete seine Bäckerschürze aus und legte sich auf den Fußboden. Es konnte nicht so weitergehn: Marlen womöglich ein Kind und Ludmilla ein Kind. Wo sollte er das Geld für zwei Brautschleier, für drei Verlobungsringe und zwei Kinderwagen... Er schlief schon wieder.

"Herr Schmidt, Herr Schmidt, was bringt das Julchen mit?" sang man unten im Café.

Wird ergänzt * Textscan, HTML, Layout Dr. W. Näser, MR 20.2.2002