Deutsch im 20. Jahrhundert * Dr. Wolfgang Näser * Mi 16-18, HS 110 Biegenstraße 14 * Beginn 10.4.2002

Süskind, Wilhelm Emanuel (1901-1970): Vom inneren Gesicht.
In: Vom ABC zum Sprachkunstwerk. Eine deutsche Sprachlehre für Erwachsene (1940)

VORBEMERKUNG: W.E. Süskind wurde am 10. Juni 1901 in Weilheim geboren und starb am 17. April 1970 in Tutzing. Er verfaßte Erzählungen und Romane, war Co-Autor von «Aus dem Wörterbuch des Unmenschen», erfolgreicher Übersetzer (z.B. von H. Melville und T. Blixen) und arbeitete als Redakteur der Süddeutschen Zeitung. Vater des bekannten Buch- und Fernsehautors Patrick S. ("Kir Royal", * Ambach /Bayern 1949). "Vom ABC zum Sprachkunstwerk" erlebte als Kompendium der deutschen Sprache zahlreiche Auflagen. Die 'Welt' urteilte: «Das gewiss geistreichste und feinfühligste Werk dieser Gattung.» Unser in schwieriger Zeit entstandener Text entstammt dem Schlußkapitel der Erstauflage. W.N.

[...] Es ist ja überhaupt das Schöne, nein: das tief Beruhigende und Sicherheit Verleihende am Umgang mit der Sprache, daß man da nicht auf einem "Fachgebiet" bleibt, sondern zwangsläufig heimgeführt wird zum Ganzen des Lebens. Die Sprache ist wirklich Leben; nicht nur in dem Sinne, daß sie - "wie das Leben" - Jugend und Alter kennt und ihre Formen organisch auseinander hervortreibt und verästelt, sondern vor allem in der Tatsache, daß sie nicht vom Lebensgehalt ihres Trägers - ihres Sprechers und Schreibers - losgelöst werden kann. Sie ist jung und alt mit ihm, und wenn selbst die Gewohnheit jedem Menschen einen ziemlich festen Sprachschatz zueignet, so wandeln sich doch Rhythmus und Farbe der Sprache bei jedem Menschen mit seinem Lebens-Zustand, seinen Jahren und Säften, ja man möchte fast vermuten mit jeder Krankheit und körperlichen Wiedergeburt. Selbst wenn er zu wählen hätte, könnte sich der alte Mensch dem nicht entziehen, daß seine Sprache matter, spröder, aber in Einzelheiten vielleicht immer genauer, lässig-treffender wird, daß ihm das Wort immer mehr zur Andeutung und zum Sigel wird, wo es der Jugend zur Umschreibung und zum jubelnden Gesang diente. Das sind die Merkmale des sogenannten Altersstils, den man nicht nur bei Malern und Dichtern, sondern auch in den Briefen, Gesprächen und kargen und oft so bezwingenden Gruß-, Dankes- und Freudenworten der alten Leute jedes Standes beachten sollte, um ein rechtes und ehrfürchtiges Verhältnis zu ihnen zu gewinnen.

Hier ist denn auch der Punkt, wo auch die Frage nach dem "guten" und "schlechten" Deutsch in die zweite Reihe zurücktritt. Man nennt den Menschen  gesegnet, der in jedem Lebensalter den vollkommenen Ausdruck seiner Kräfte darlebt, in Arbeit, Genuß und Gedankenweite. Bei dem möglichst wenig brachliegt und möglichst wenig Kraft auf den bloßen Schein verwendet wird. Auf die Sprache angewandt, würde das heißen, daß wahrhaft der Einfältige, der Einsilbige der Gesegnete ist, der nur dann zum Wort und zur Feder greift, wenn es ihm danach drängt oder von außen eine zwingende Notlage danach verlangt. Wirklich: vom Wort und von der Schrift solcher einsilbigen Menschen kann die größte Erschütterung ausgehen, auch wenn das "gute" Deutsch darin mit Füßen getreten wird. Sie haben etwas Besseres: sie haben "ihre" Sprache.

Man kann auch sagen: Sie haben das innere Gesicht. Sie reden und schreiben erst dann, wenn sich in ihnen ein vollkommenes Bild eingestellt hat von dem, was sie beschreiben, mitteilen oder erörtern wollen. Das heißt: sie "wollen" eigentlich gar nicht, sondern das Bild in ihnen füllt sie so aus, daß sie nur abzuschreiben brauchen. Das sind die Fälle, wo zur allgemeinen Überraschung zu irgendeiner Fachfrage nicht ein Fachmann, sondern ein sogenannter "Liebhaber" das erlösende Wort spricht, oder an einem Grabe das ergreifendste und feurigste Wort von Lippen kommt, die ein Leben lang keinen zusammenhängenden Satz zu formen wußten.

Wer stets und überall das innere Gesicht hätte, dessen Wort müßte Berge versetzen. Aber so weit ist es unter Menschen nie gekommen, und wer hielte es aus? Es genügt, wenn nur nicht vergessen wird, daß die Sprache, die so oft aus Gewohnheit, Notdurft und Routine kommt, ihren Ursprung in jener inneren Schau hat. Damals als die ersten Beschwörungswörter ertönten - Himmel, Berg, Wolke, Blitz - und heute nicht minder. Jedes schlechte Gefühl, das wir beim Sprechen und Schreiben haben, ist eine Mahnung: du hättest nicht zum Worte greifen sollen, ehe das innere Bild in dir vollkommen war. Daher auch der innere Zwang, der die Menschen - alle Menschen, nicht nur die Schriftsteller - einen Brief oder anderen Text drei-, vier-, fünfmal zerreißen läßt, bloß weil sie, wie sie sagen, "das richtige Wort" noch nicht gefunden haben. Man sollte meinen, das richtige Wort wäre das, welches verstanden wird. Es ist aber das, welches dem inneren Bild entspricht.

Ganz, wie gesagt, erreichen wir es nie, dieses innere Gesicht - das bei manchen Menschen vielleicht auch mehr ein inneres Gehör ist. Aber wir wissen sehr wohl, wann wir es haben - dann nämlich, wenn wir wie im Fieber seitenlange Briefe schreiben, ohne auch nur den Blick zu wenden, oder wenn wir spät nachts, merkwürdig wach und wund in der Schläfengegend, das Löschblatt auf eine letzte Seite legen. Die Maler, die solche versponnenen Schreiber dargestellt haben, geben ihnen seit den ältesten Zeiten einen forschenden, nach innen weisenden Blick, der tatsächlich einen Ausdruck zwischen Spähen und Horchen bekundet. Sie schauen nichts Sichtbares, aber ihr Blick wandert in jenem Land, wo die Sprache wächst.

beschwören: hier durch Magie, Suggestion o.~ä. Macht über jmdn., etw. erlangen: Schlangen b.; Bilder, Erinnerungen, Schatten, die Vergangenheit b. (lebendig werden lassen, klar u. deutlich ins Bewußtsein [zurück]rufen); b) bannen: einen bösen Geist, den Teufel, Dämonen [mit Zauberformeln] b
Beschwörungswörter n.pl.: zauberkräftige W.
ergreifend: (die Gefühle) ansprechend, bewegend, rührend
Fachfrage f.: ein bestimmtes Fachgebiet betreffende Frage; fachliches Problem.
feinfühlig: fein empfindend, zartfühlend; einfühlsam, sensibel: ein -er Mensch; eine Komposition sehr f. interpretieren
feurig: temperamentvoll, leidenschaftlich: ein -er Liebhaber; ein -es Pferd; jmdm. -e Blicke zuwerfen; eine -e (zündende) Rede
Gesicht n. hier: Ahnung, Vision, Vorstellungskraft
horchen: hören, lauschen
Kompendium n. Abriß, kurzgefaßtes Lehrbuch
Mahnung f., hier: nachdrückliche Aufforderung, etw. Bestimmtes zu erledigen, Erinnerung an eine Verpflichtung
Routine f. durch längere Erfahrung erworbene Fähigkeit, eine bestimmte Tätigkeit sehr sicher, schnell u. überlegen auszuführen
Schein m., hier: etw., was in Wirklichkeit nicht so ist, wie es sich äußerlich darstellt: das ist alles leerer, bloßer --; Sein und --.
Säfte n.pl. hier: Lebensgeister, körperliche Befindlichkeit
Schläfe[ngegend] f., beiderseits oberhalb der Wange zwischen Auge u. Ohr gelegene Region des Kopfes
spähen forschend, suchend blicken: aus dem Fenster s.; durch die Gardine, in die Ferne s.; b) Ausschau halten: er spähte nach ihr
vermuten : auf Grund bestimmter Anzeichen der Meinung sein, glauben, daß sich etw. in bestimmter Weise verhält: Brandstiftung
versponnen hier: allzu intensiv [u. in einer für andere unverständlichen Weise] gedanklich mit etw. Bestimmtem beschäftigt

Wird ergänzt. Abschrift + Zusätze (c) Dr. W. Näser, MR, 3.5.2002