Mittelseminar 2, Gruppe IV: Syntax
Sommersemester 2001 * Dr. Wolfgang Näser, Mo 9-11, WR A 109
Sprechstunde: Mo 15-17, Deutscher Sprachatlas, Hermann-Jacobsohn-Weg 3, Zi.
11, Tel. 28-23508 / 09
Text 1
(zu analysieren am 9.4.2001)
Unglaublich
von Wolfgang NÄSER, Marburg
Vorbemerkung: Ich habe den Text nachträglich
durchnumeriert, damit Textaufbau und Satzstrukturen
besser erkennbar sind.
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Unglaublich, was man heute so alles erleben kann.
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Heinz, mein guter Bekannter, geht krank zur Arbeit, schleppt sich ins Büro
mit einer dicken Grippe und 39 Grad Fieber.
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Sie kämen ohne ihn nicht aus, meint er, er werde gebraucht.
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Er könne es einfach nicht zu Hause aushalten, ohne seinen Schreibtisch,
ohne den Betrieb.
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Du bist doch verrückt, sage ich, das ist doch der Gipfel der Unvernunft,
was du da machst.
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Du hast doch Frau und Kinder, denkst du gar nicht an deine Familie, deine
Zukunft?
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Du hast ja recht, meint er, aber du weißt doch, was heute so alles
verlangt, was vorausgesetzt wird, es wird ja immer schlimmer in der Arbeitswelt,
und wenn ich mit meinen 45 Jahren nicht auf der Straße sitzen will,
muß ich mithalten, mittun.
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In der Abteilung B überlegen sie schon, ob sie überhaupt den
Bildungsurlaub einreichen sollen, viele lassen ihn Jahr für Jahr
verfallen.
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Gestern im Fernsehen erfuhr ich von einem großen Consulting-Unternehmen,
das eine bewährte Mitarbeiterin rausekeln wollte, nur weil sie den
Bildungsurlaub vom Vorjahr übertragen lassen wollte.
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So eine Mitarbeiterin können wir hier nicht gebrauchen, sagte der
Abteilungsleiter.
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Sie solle sich schnellstmöglich woanders einen Job suchen.
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Aber die Kollegin gab nicht auf, wandte sich später auch an den Personalrat.
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Ergebnis: sie mußte umziehen, in ein Büro mit leerem Schreibtisch
und kahlen Wänden, ganz nach bewährter US-Methode:
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wir wollen mal sehen, wie lange die es aushält ohne Arbeit, allein,
isoliert.
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Wenig später fuhr sie in eine andere Etage, besuchte eine Kollegin.
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Unvermittelt kam der Chef hinzu, schrie sie an, packte sie sogar an der Schulter,
um sie hinauszudrängen.
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Sie wolle dableiben, sagte sie in die Kamera, trotz allem, sie liebe ihren
Beruf und den Arbeitsplatz, wolle Ihre Firma nicht schlechtmachen.
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Als das Mobbing weiterging, kam es zu einem Prozeß, dann zum Vergleich.
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Doch ist ein Ende der Misere nicht abzusehen.
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Heinz, mein Bekannter, geht mit Grippe zur Arbeit.
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Ob er nicht wisse, frage ich, daß er sich mit einer verschleppten Grippe
einen Herzkasper einfangen könne.
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Ja, sagt er müde, ich habe schon davon gehört, doch das hilft mir
jetzt auch nicht weiter.
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Wir müssen das Haus abzahlen - Altersvorsorge, du weißt doch -,
Maria hat eine neue Küche gekauft, die Kinder nörgeln, wenn sie
keine Nike-Schuhe und Diesel-Jeans haben, und der Urlaub ist doch auch schon
gebucht.
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Na, entgegne ich, dann sieh mal zu, ob du überhaupt mitfliegen kannst
und daß dein Reiseziel nicht vielleicht der Städtische Friedhof
ist.
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Laß mich in Ruhe, murmelt er und geht weiter, krampfhaft bemüht
um den federnden Schritt, den ihm die jüngeren Kollegen voraushaben.
Stichwörter:
1. zum Inhalt: Anhänglichkeit, Anschaffungen (Konsum),
Arbeitslosigkeit, Ausbeutung, Besitzstand (im Arbeitsleben), Bildungsurlaub,
(falscher) Ehrgeiz, Familie, Gerichtsverfahren (=Rechtsstreit),
Gruppenzwänge, Handgreiflichkeit(en), hinausekeln, Illusionen,
Kollegialität, Krankheit (=Arbeitsunfähigkeit), Management, Mobbing,
Personalrat, Pessimismus (?), Psychoterror, Raubbau (an der Gesundheit),
Suchtverhalten, Unvernunft, Verbindlichkeiten (=Zahlungsverpflichtungen),
Vereinsamung, Verschuldung, Zukunft
2. zur Syntax (den syntaktischen Phänomenen unseres
Textes): Adverbialsyntagma (adverbielle Wortgruppe), adverbielle
Bestimmung, Anapher, Apposition, Attribut(iv)satz, Deixis (=hinweisende Aussage),
Einschub (=> Parenthese), Ellipse (=Kurzsatz ohne finites Verb), Emphase
(=Betonung), Finalsatz, Fragesatz (=Interrogativsatz), Genitivattribut,
Gesetz(lichkeit) der wachsenden Satzglieder (Otto BEHAGHEL),
indirekte Rede, Infinitivsatz, Inversion (=Umstellung der Wortfolge), komplexe
Attribuierung, (ko- und subordinierende) Konjunktion (=Bindewort), Objektsatz,
Parenthese, Partikel, Partizipialsatz, Prädikativum, (syndetische und
asyndetische) Reihung (auch von Sätzen!), Temporalsatz, Wortstellung
(c) W. Näser 05.04.2001 * Stand: 30.5.2001