Formen schriftlicher Kommunikation, WS 1999/2000

Dr.  Wolfgang Näser * HS 207 Biegenstr., 16-18 h (Sprechstunde: Mo 15-17 h, Hermann-Jacobsohn-Weg 3, Dt. Sprachatlas, Zi. 11, Tel. 28-23508)

Text 2: Der Tag der Deutschen

VON HANS WERNER KILZ

Der 9. November 1989 ist kein nationaler Gedenktag und kein Feiertag geworden. Doch die Erinnerung an den Fall der Mauer bleibt wach, in den Herzen und in den Köpfen. Wenn Revolution bedeutet, dass die Macht im Staate spontan auf das Volk übergeht, dann war das Wegschieben der Schlagbäume, das Überklettern der Mauer in jener Nacht der Nächte eine friedliche Revolution. Dieser Herbstabend besiegelte das Ende der Deutschen Demokratischen Republik. Er steht als Symbol für die Überwindung von Unfreiheit und Unterdrückung. Das haben die Ostdeutschen ganz allein geschafft. Es ist peinlich, wenn die Westdeutschen sich an diesem Tag rühmen.

Die Politiker im Westen, die den Vereinigungsprozess diktierten, waren nicht bereit, den 9. November als Tag der deutschen Einheit zu feiern. Die Erinnerung an den 9. November 1938, die Pogromnacht gegen die Juden, sollte nicht vom Mauerfall überlagert werden. Die Angst vor der Geschichte hat diesen grandiosen Tag der Massenbefreiung unnötig entwertet. Beide Ereignisse, die nur scheinbar nichts miteinander zu tun haben, hätten eine offenere Auseinandersetzung mit der jüngsten deutschen Geschichte gefördert.

Das Volk wird sich nicht an den offiziellen Gedenktag halten. Was war schon am 3. Oktober 1990? Ein formeller juristischer Akt, ohne inneren Bezug zu dem, was sich ein Jahr zuvor ereignet hatte. Für die Menschen im Osten und im Westen bleibt der 9. November das entscheidende Datum, der Tag der Deutschen, an dem die Bürger der DDR eine ausgezehrte Diktatur hinwegfegten. Von diesem Tag an war die deutsche Einheit nicht mehr umzukehren. Und nur deshalb war es möglich, sie später auch staatsrechtlich zu verwirklichen.

Zehn Jahre sind seitdem vergangen. Bei aller Weinerlichkeit auf beiden Seiten: Die Einheit ist geglückt. Es gibt weltweit kein anderes Land, das binnen so kurzer Zeit einen vergleichbaren wirtschaftlichen Wandel erlebt hat. Doch viele haben die Aufbruchstimmung jener Tage mit dem Ziel des Zusammenwachsens verwechselt. Das führt zu Ernüchterung, auch dazu, dass sich jeder siebte Deutsche die Mauer schon wieder zurückwünscht – eine unerwartete, aber verständliche Reaktion. Wer vier Jahrzehnte in völlig unterschiedlichen Gesellschaftssystemen lebt, kann einen weltgeschichtlichen Umbruch nicht von heute auf morgen bewältigen. Das Gerede von der Æinneren Einheit“ ist auch nur ein Schlagwort. Die Menschen in Ost und West werden ihre Besonderheiten bewahren, das ist auch wünschenswert und befruchtend. Was fehlt, sind Politiker, die gesamtdeutsch denken und handeln – vor allem im Westen.

Der sentimentale Umgang mit der Ænationalen Frage“ hat in den Zeiten der Trennung übertüncht, wie weit sich beide Landesteile auseinander gelebt hatten: das Päckchen nach drüben und die Floskel von den Brüdern und Schwestern jenseits des Eisernen Vorhangs dienten im Westen als Politik-Ersatz; der Osten schürte die Propaganda vom Hort des Faschismus und der Reaktion, um die politische Hypothek des Nationalsozialismus allein auf Westdeutschland abzuladen, die ungeliebte ÆBeeErrDee“. In der DDR blieb das Bild der Bundesrepublik bis zum Mauerfall verzerrt, manipuliert – trotz Westfernsehen und Verwandtschaftsbesuchen.

Jetzt müssen die Westdeutschen lernen, mit der neuen, der anderen Republik klarzukommen. Jetzt rächt sich, dass die Wiedervereinigung mehr Anschluss als Einigung war. Politiker und Unternehmer schürten mit ihrem Eroberungsgebaren das Gefühl, alles lasse sich schnell nach westlichem Vorbild richten. Aber das zweite Wirtschaftswunder ist ausgeblieben, Ost und West stecken mitten im Verteilungskampf. Es wird noch Jahre dauern, bis der ÆAufbau Ost“ eine Modellregion geschaffen hat, die auch den Westen beflügelt – mit properen Betrieben, mit moderner Technologie und viel Risikobereitschaft. Schon jetzt ist aber zu spüren, was die junge Generation des Ostens den behäbig gewordenen Wessis voraus hat: den Willen, neu zu gestalten, risikobereit, neugierig, kreativ.

Die Ostdeutschen haben – notgedrungen – schneller begriffen, dass sie in einem veränderten Umfeld leben. Sie haben sich mit ihrer DDR freiwillig aus der Geschichte verabschiedet. Es war ein Abschied ohne Tränen. Doch angekommen sind sie im neuen Staat deswegen noch lange nicht, sie bleiben auf Distanz. Sie wollen die DDR nicht wiederhaben, sie wollen sie sich aber auch nicht gänzlich nehmen lassen.

Es gab nach dem 9. November 1989 im Osten viele, die eine parlamentarische Demokratie nach westlichem Vorbild wollten. Nicht unbedingt identisch mit der Bundesrepublik, aber doch stark orientiert an dem erfolgreichen und vielfach beneideten Modell. Sie gierten nicht nach D-Mark und Mallorca. Die Bürgerrechtler kämpften für den Beitritt, weil sie glaubten, auch im Osten sei die Bereitschaft, sich mit der gemeinsamen Geschichte auseinander zu setzen, wirklich vorhanden. Das war eine Fehleinschätzung, wird sich aber ändern.

In den nächsten zehn Jahren wird der Wille zur geeinten Nation sichtbar werden. Die Deutschen sind eine verspätete Nation. Ihre nationale Identität wurde in zwei Jahrhunderten mehrfach gebrochen. Zehn Jahre reichen nicht, um die Geschichte zu korrigieren.

Quelle: Süddeutsche Zeitung, 9.11.1999