Textsorte: Leserbrief

Alles schon mal dagewesen? Vor fast fünfzehn Jahren, also 1984, entbrannte bereits eine heftige Diskussion um ein Tempolimit auf Autobahnen, Bundesstraßen und in Wohngebieten. Aus Gründen, die mir noch heute plausibel erscheinen, sandte ich am 17. Oktober 1984 einen Leserbrief an die Marburger Oberhessische Presse, den ich hier wegen seiner Argumente zur Diskussion stelle und (in seiner Typoskript-Form) als Textsorte abdrucke.  
MR, den 14.8.99 W. Näser


Leserbrief: Tempolimit 100/80/30

Interessant zu beobachten! noch vor rund drei Monaten
rührte sich nichts in den Medien - jetzt plötzlich wird
von allen Seiten lautstark ein Tempolimit verlangt, das
maximal 100 km/h auf Autobahnen, 80 km/h auf Bundes-
straßen und in sog. Wohngebieten max. nur 30 km/h vor-
schreiben soll. Diese Maßnahme soll den Schadstoffaus-
stoß der Kraftfahrzeuge verringern und Fahrer wie Umwelt
auch in puncto Streß entlasten, ferner soll dadurch die
Zahl der Unfälle zurückgehen, alles lobenswerte, jüngst
fällige Zielsetzungen. Vom t e e h n i s c h e n Aspekt
her wird das Ganze jedoch fraglich, ja fast absurd: die
Fahrer der schnellen, aggressiven, spurtstarken PKWs
nämlich werden die Autobahn nicht etwa im spritschonenden
vierten, sondern im dritten Gang befahren, auf Bundesstra-
ßen wird viel der dritte oder gar zweite Gang benutzt wer-
fen und in Wohngebieten m u ß aufgrund der technischen
Gegebenheiten (Getriebe-Übersetzung) der z w e i t e Gang
benutzt werden (wenn nicht sogar der erste!). Die Motoren
werden "drehfreudiger" gefahren, die Schadstoffemission
bleibt gleich oder s t e i g t sogar an. Hochdotierte Po-
litiker wie etwa Hans-Jochen Vogel, die sich schon jetzt
uneingeschränkt zu 100 km/h auf Autobahnen und 30 km/h in
Wohngebieten verpflichten, haben kostenlos das gesamte
Bundesbahn- und hundesdeutsche Lufthansanetz zur Verfügung
und verfügen über komfortable Dienstwagen mit Chauffeur.
Wer jedoch z.B. als Vertreter ohne feste Bezüge und Alters-
sicherung auf der BAB von Hamburg nach München unterwegs ist,
der wird bei Tempo 100 nicht vorwärts kommen, eingekeilt
in zähfließendem Verkehr zwischen Wohnwagen-Urlaubern und
sich sportlich überholenden "Brummis". Gerade auf Autobahnen
wird es streßbedingte Unfälle geben. Der P e n d 1 e r, der,
z.B. im Rhein-Main- oder Ruhr-Großraum in sog. "Wohngebieten"
ggf. 30 oder mehr Kilometer zur Arbeitsstelle zurücklegt,
wird eine Stunde früher aufstehen müssen, um im Schnecken-
tempo 30 rechtzeitig zur Arbeit zu kommen, und seine Familie
wird ihn später wiedersehen: auch dies produziert Streß.
Die T a x i - Unternehmer können am besten gleich auf Pferde-
droschken umrüsten. Die Radfahrer bewegen sich nahezu in dem-
selben Tempo wie die PKWs und atmen noch intensiver deren
Auspuffgase ein. Ampeln werden langsamer freigemacht. Arzte
und Notfallwagen kommen noch schlechter vorwärts im zähflie-
ßenden Verkehr. Auf den Bundesstraßen darf man stundenlang
hinter LKWs herfahren und deren Dieselwolken einatmen. Vor
allem aber die städtischen Wohngebiete werden's spüren: der
Verkehr fließt fast doppelt so langsam, braucht die doppelte
Zeit; zwischen den früheren Stoßzeiten wird es keine Schad-
stoff-Erholungspausen mehr geben, denn eine Stoßzeit wird
die andere ablösen...  Pazit: wer ein solches Tempolimit
(100/80/30) uneingeschränkt fordert, ist entweder grenzenlos
naiv und von keiner Sachkenntnis getrübt oder er belügt und
verdummt bewußt seine Mitmenschen -- vielleicht wegen eines
Parteisessels? Mich wundert nicht, daß vorwiegend solche
j u n g e Idealisten das Tempolimit fordern, denen der Alltags-
Streß und die vielen Sorgen und Probleme der Berufswelt unbe-
kannt sind.

Dr. Wolfgang Näser, Am Richtsberg 74, 355 Marburg 1 

Einlesen + HTML: (c) W. Näser 14.8.99