Deutsch im 20. Jahrhundert * Dr. Wolfgang Näser * Mi 16-18, HS 110 Biegenstraße 14 * Beginn 10.4.2002

Topp, Erich (* 1914): [Über Revolutionen und Eide], aus: Fackeln über dem Atlantik (1990)

VORBEMERKUNG: Erich Topp, Jahrgang 1914, einer der hervorragendsten Uboot-Kommandanten im Zweiten Weltkrieg, später wiederum Soldat, aber auch freischaffender Architekt und Industrieberater, reflektiert im folgenden Auszug seines sehr lesenswerten Buches über Revolution, Eid und Heldentum - Gedanken eines reifen, weitsichtigen Mannes mit großer, vielseitiger Lebenserfahrung. W.N.

Im Revolutionsjahr 1948 sind die politischen Kräfte, die ganz Europa damals bewegten, Nationalismus und Liberalismus, in Deutschland nicht zum Durchbruch gekommen.

Die Revolution von 1918, die, angefacht durch Mißstände in der Flotte, sich gegen Krieg und Monarchie richtete, war belastet mit dem Stigma der Niederlage, mit der Tatsache, daß man ihr die Ausnutzung einer nationalen Notlage vorwerfen konnte. Ihre Exponenten, die dadurch an die Macht gelangten Mehrheitssozialisten, mißtrauisch gegen die roten Matrosen und sozialistischen Arbeiter, waren nach kurzem genötigt, einen Kompromiß mit den Kräften der alten Ordnung, mit dem Militär, einzugehen, um sich gegen den eigenen radikalen linken Flügel behaupten zu können. Infolgedessen war dies eine Revolution, deren Jahrestag, der 9. November, in der Weimarer Republik niemals gefeiert wurde.

Die sogenannte "Nationale Revolution" Hitlers am 30. Januar 1933 war von ihrem Anfang an behaftet mit dem Makel des Terrors. Die soziale, gesellschaftliche Komponente dieser Revolution setzte sich durch. Die politische Hybris jedoch mündete schnell im Krieg und in der Katastrophe und durch verbrecherische Handlungen des Regimes in die größte moralische Niederlage, die das deutsche Volk in seiner Geschichte erlebt hat.

Der 20. Juli war ein Aufstand des nationalen Gewissens gegen dieses Regime des Verbrechens und des Unrechts. Der Plan mißglückte, und es war nicht mehr möglich, den Lauf der Katastrophe abzuwenden, aber dieser 20. Juli 1944 gehört ebenso wie die Revolution von 1848 zu denjenigen revolutionären Vorgängen, auf die wir stolz sein dürfen und die auch in einer größeren geschichtlichen Dimension nicht vergeblich gewesen sind. [...]

Wir, die draußen an der Front standen und nur verhältnismäßig wenig von den Ereignissen der Heimat wußten, empfanden den 20. Juli als einen Dolchstoß in den Rücken der kämpfenden Front, als Landesverrat, als Hochverrat, als Eidbruch. Heute haben wir einen Abstand zu den Geschehnissen jener Tage. Wir beurteilen sie leidenschaftslos, aus einer klareren Sicht heraus.

Was war tatsächlich geschehen? Nach fünf Jahren Krieg, in dem es um Sein oder Nichtsein ging, wurde ein Attentat auf den "Führer" verübt. Dieses Attentat ging aus von einer Gruppe von Offizieren, die mit Gewerkschaftlern, Politikern, Vertretern der Kirchen beider Konfessionen in engerer und lockerer Verbindung stand. Was hatte diese Leute zusammengebracht?

Es war der Totalitätsanspruch des Staates gegenüber dem Staatsbürger unter Ausschaltung der religiösen und sittlichen Verpflichtungen dieses Staates. Das Gewissen einer Nation stand auf, verkörpert in wenigen Wissenden, die sich zum Widerstand entschlossen.

Eine außerordentlich geschickte Führung hatte es fertiggebracht, die Gesamtheit des Volkes in der Vorstellung zu halten, daß die Nation einen verzweifelten Kampf um seine Existenz gegen Kapitalismus, gegen jüdische Hochfinanz, gegen Bolschewismus und Versklavung führte. Eine verwirrende Verkettung von Wahrheiten und Unwahrheiten ließ den Durchschnittsbürger auf solche Propaganda hereinfallen. Heute wissen wir, daß wir die Tschechen, Polen und Russen überfallen haben, daß wir Millionen Juden umgebracht haben, daß Tausende politisch Andersdenkender liquidiert wurden, daß wir große, progressive Geister der Wissenschaft und Kunst aus unserem Land vertrieben haben.

Der Eid, auf eine Person geleistet, die sich von jeder ethischen Bindung entfernt hatte, hat unter diesen ganz außergewöhnlichen Bedingungen seine Begrenzung. Aber nur wenige waren in der Lage, den Gehorsam aufzukündigen, nur eine kleine Schar jener, die einen hohen Informationsstand hatten, die die Breite und Tiefe des Problems übersahen und die innere Freiheit hatten, sich von dem Eid zu lösen, den der längst gebrochen hatte, dem er geleistet war. [...]

Der Mensch lebt von den Kenntnissen, Erfahrungen, Fähigkeiten, Einsichten seiner Vorfahren, die von Geschlecht zu Geschlecht weitergegeben und neu erprobt werden. Diese die Menschen charakterisierende Eigenart nennen wir Tradition. Ihr Wesen ist, daß sie über die Zeitspanne eines Lebens hinausreicht, daß sie alle Bereiche der sozialen Ordnung erfaßt, Sitte und Moral, Glauben und Recht, Kult und Symbole. Tradition kommt begrifflich von der Überlieferung her, weist aber - wie wir sie heute verstehen - ebenso in die Zukunft, in dem Sinne, daß ihr Inhalt sich neuen Erkenntnissen öffnet. Wo eine solche Bereitschaft nicht vorhanden ist, verkümmert die Tradition zu einem durch Gewohnheiten bestimmten traditionellen Handeln, zu einem "Traditionalismus", verursacht durch Mißtrauen gegen jede Art von Neuerungen oder auch durch ein gewisses Treue- und Beharrungsverhältnis zu religiösen, gesellschaftlichen und geschichtlichen Bindungen. [...]

Treue, Mut, Ehre, Vaterland waren die für meine Generation verpflichtenden Grundwerte. In der Vernetzung dieser Begriffe haben Generationen mit Vorspiegelungen und Selbsttäuschungen gelebt. Mythen rankten sich um diese Begriffe. Die Geschichte ist voll von kämpferischen Ereignissen und Taten, denen diese Werte zu Grunde liegen. Dann kam Darwin. Er gab den kämpfenden Haufen naturwissenschaftliche Begründungen: Kampf ums Dasein, Auslese der Starken. Hegel und Nietzsche lieferten den philosophischen Hintergrund. Der Idealismus machte den Krieg zum "Vater aller Dinge". [...]

Ich dachte [in unserer Diskussion] an den Satz von Gottfried Benn über "die verlorenen Illusionen von der Glorie des Helden und der Mythe der Macht" und an die in einer veränderten Welt fragwürdig gewordene heldische Haltung, die satirisch bereits Cervantes im "Don Quichote" geschildert hatte. Ich dachte aber auch an die Männer, die in totalitären Staaten für Recht und Freiheit eintraten, trotz körperlicher und seelischer Folter ihre Haltung bis zum bitteren Ende bewahrten. Waren das nicht Helden?

Ich dachte an einen U-Bootskommandanten, der das Hitlerbild aus der Messe entfernte mit den Worten: "Wir treiben hier keinen Götzendienst", der das Regime kritisierte, an den Endsieg nicht glaubte, aber dennoch seine Pflicht tat, der, von seinem Wachoffizier denunziert, wegen "Wehrkraftzersetzung" zum Tode verurteilt und erschossen wurde. Ich sah die Frauen in den zerbombten Städten, die um das Leben ihrer Kinder zwischen Bunker und Arbeitsplatz kämpften und diesen Kampf verloren. Waren sie nicht Helden? [...]

Tapferkeit setzt ja voraus, daß ich weiß, ob meine Tapferkeit sinnvoll ist. [...] Das gleiche gilt für Gerechtigkeit. Wußten wir immer, was gerecht war? Die Klugheit gibt Entscheidungsalternativen. Jeder Soldat, jeder Widerstandskämpfer entschied sich für etwas und damit zugleich gegen etwas. Jeder Mensch muß vor sich selbst seine Entscheidung begründen können, was für ihn tapfer, gerecht und maßvoll ist. [...] Die Einhaltung der Tugenden ist etwas, das ich mir selbst schulde. Man kann sie von mir erwarten, begrenzt kann man sie mir anerziehen, aber man kann sie nicht unter Strafandrohung befehlen.

Wird ergänzt * HTML, Hervorhebungen, Layout W. Näser, MR, 6.3.2002