Deutsch im 20. Jahrhundert * Dr. Wolfgang Näser * Mi 16-18, HS 110 Biegenstraße 14 * Beginn 10.4.2002

Tucholsky, Kurt (1890-1935): Krieg dem Kriege (1919)

Nichts ist schwerer und nichts erfordert mehr Charakter
als sich im offenen Gegensatz zu seiner Zeit zu befinden
und laut zu sagen: NEIN.

VORBEMERKUNG: Kurt Tucholsky kommt am 9.1.1890 in Berlin zur Welt; 1905 stirbt sein Vater, ein Bankdirektor. Mit 17 Jahren veröffentlicht T. anonym im Berliner Tageblatt" erste Arbeiten, studiert Jura ab 1909 (Berlin) und 1910 Genf), publiziert ab 1911 im "Vorwärts" und ab 1912 im "Prager Tagblatt"; im selben Jahr erscheint sein Bestseller "Rheinsberg. Ein Bilderbuch für Verliebte". Ab 1913 schreibt er (unter verschiedenen Pseudonymen) für die "Schaubühne", tritt ein Jahr später aus der Berliner jüd. Gemeinde aus; 1917 Unteroffizier, 1918 versetzt zur Polit. Polizei in Bukarest, evangel. Taufe, Rückkehr nach Berlin. 1919 Artikel "Wir Negativen". Mit Ossietzky, Gumbel u.a. gründet T. den Friedensbund der Kriegsteilnehmer. 1920 Eintritt in die USPD, kurzzeitig Redakteur des "Pieron", Antikriegsarbeit. 1923 Mitgründer des Kabaretts "Die Gondel". 1924 Aufnahme in der Berliner Freimaurerloge "Zur Morgenröte". Zeitungskorrespondent in Paris. 1926 im Vorstand der v. Kurt Hiller gegründeten "Gruppe Revolutionärer Pazifisten" und der "Deutschen Liga für Menschenrechte". Bis 1927 Leitung der "Weltbühne". 1930 Umzug nach Schweden. 1931 "Schloß Gripsholm. Eine Sommergeschichte". Reise nach London. Tucholskys noch heute umstrittener Satz "Soldaten sind Mörder" wird 1932 Gegenstand des (mit Freispruch endenden) Ossietzky-Prozesses. 1933 Bücherverbrennung; T.s Werke in Deutschland verboten. 1934 Ausbürgerung, schwed. Fremdenpaß. 1935 Nach weiterer Verschlechterung seiner Gesundheit und mehreren Operationen stirbt T. am 21.12. in Göteborg.

Der für unser Vorhaben ausgewählte Text (wo T. in Strophe 8 zeitlich punktgenau den 2. Weltkrieg erahnt) widerspiegelt seine kompromißlose Friedensarbeit in der zweiten Lebenshälfte.
1 Sie lagen vier Jahre im Schützengraben.
Zeit, große Zeit!
Sie froren und waren verlaust und haben
daheim eine Frau und zwei kleine Knaben,
weit, weit -!
6 Der Kapitän hat den Abschied genommen
und ist etwas plötzlich von dannen geschwommen.
Ratlos stehen die Feldgrauen da.
Für wen das alles? Pro patria?


7 Brüder! Brüder! Schließt die Reihn!
Brüder! das darf nicht wieder sein!
Geben sie uns den Vernichtungsfrieden,
ist das gleiche Los beschieden
unsern Söhnen und euern Enkeln.
Sollen die wieder blutrot besprenkeln
die Ackergräben, das grüne Gras?
Brüder! Pfeift den Burschen was!
Es darf und soll so nicht weitergehen.
Wir haben alle,alle gesehen,
wohin ein solcher Wahnsinn führt-


8
Das Feuer brannte, das sie geschürt.
Löscht es aus! Die Imperialisten,
die da drüben bei jenen nisten,
schenken uns wieder Nationalisten.
Und nach abermals zwanzig Jahren
kommen neue Kanonen gefahren
.-
Das wäre kein Friede.
Das wäre Wahn.
Der alte Tanz auf dem alten Vulkan.
Du sollst nicht töten! hat einer gesagt.
Und die Menschheit hörts, und die Menschheit klagt.
Will das niemals anders werden?
Krieg dem Kriege!
Und Friede auf Erden.

2 Und keiner, der ihnen die Wahrheit sagt.
Und keiner, der aufzubegehren wagt.
Monat um Monat, Jahr um Jahr...
3 Und wenn mal einer auf Urlaub war,
sah er zu Hause die dicken Bäuche.
Und es fraßen dort um sich wie eine Seuche
der Tanz, die Gier, das Schiebergeschäft.
Und die Horde alldeutscher Skribenten kläfft:
"Krieg! Krieg!
Großer Sieg!
Sieg in Albanien und Sieg in Flandern!"
Und es starben die andern, die andern, die andern...
4 Sie sahen die Kameraden fallen.
Das war das Schicksal bei fast allen:
Verwundung, Qual wie ein Tier, und Tod.
Ein kleiner Fleck, schmutzigrot-
und man trug sie fort und scharrte sie ein.
Wer wird wohl der nächste sein?
5 Und ein Schrei von Millionen stieg auf zu den Sternen.
Werden die Menschen es niemals lernen?
Gibt es ein Ding, um das es sich lohnt?
Wer ist das, der da oben thront,
von oben bis unten bespickt mit Orden,
und nur immer befiehlt: Morden! Morden! -
Blut und zermalmte Knochen und Dreck...
Und dann hieß es plötzlich, das Schiff sei leck.

Ein zweiter, ebenfalls sehr bemerkenswerter Text läßt sich auch auch unsere politische Gegenwart beziehen, in der sich führende Politiker oft allzusehr von ihren Wählern oder, wie man auch sagt, der politischen Basis entfernt haben und daher nicht mehr wissen, wo die Bevölkerung "der Schuh drückt". Zitiert wurde er zuletzt heute, am 13. August 2013, im Sozialen Netzwerk Facebook.

An einen Bonzen

Einmal waren wir beide gleich.
Beide: Proleten im deutschen Kaiserreich.
Beide in derselben Luft,
beide in gleicher verschwitzter Kluft;
dieselbe Werkstatt – derselbe Lohn –
derselbe Meister – dieselbe Fron –
beide dasselbe elende Küchenloch ...
Genosse, erinnerst du dich noch?

Aber du, Genosse, warst flinker als ich.
Dich drehen – das konntest du meisterlich.
Wir mußten leiden, ohne zu klagen,
aber du – du konntest es sagen.
Kanntest die Bücher und die Broschüren,
wußtest besser die Feder zu führen.
Treue um Treue – wir glaubten dir doch!
Genosse, erinnerst du dich noch?

Heute ist das alles vergangen.
Man kann nur durchs Vorzimmer zu dir gelanhtgen.
Du rauchst nach Tisch die dicken Zigarren,
du lachst über Straßenhetzer und Narren.
Weißt nichts mehr von alten Kameraden,
wirst aber überall eingeladen.
Du zuckst die Achseln beim Hennessy
und vertrittst die deutsche Sozialdemokratie.
Du hast mit der Welt deinen frieden gemacht.
Hörst du nicht manchmal in dunkler Nacht
eine leise Stimme, die mahnend spricht:
»Genosse, schämst du dich nicht –?«

Theobald Tiger
(Kurt Tucholsky)

In: Die Weltbühne, 06.09.1923, Nr. 36, S. 248

Link: Kurt-Tucholsky-Gesellschaft
Wird ergänzt.
Bild und Text: Quelle: Internet. Nur zu didaktischen Zwecken
Layout und Ergänzungen: W. Näser 21.4.2k2 * Stand 13.8.2013 (zuvor: 16.12.2k5)