FORMEN SCHRIFTLICHER KOMMUNIKATION * WS 1993/94 * Dr. WOLFGANG NŽSER Di 16-18 HS 6 Sprechst. Mo 14.30-17 Lese-Text 2 [zum 9.11.1993; Textsorte 'Bericht'] Peter BALTES: Gestrandet... Gesunken... Das Ende der "Luise Leonhardt". Dokumentarbericht. Wrackmuseum Cuxhaven 1983. Einleitung In der Elbmndung 1 November 1958, ein schwerer Sturm aus Nordwest tobt ber der Elbmndung. Von der aufgewhlten See wird unser kleines Kstenmotorschiff "Edelgard" wie ein Spielball hin- und hergeworfen. Durchn„át, ersch”pft und seekrank wie nie stehe ich Knirps von 16 Jahren seit Stunden am Steuer und versuche 5 krampfhaft, das Schiff auf Kurs zu halten. In knapper Entfernung von mir, vor einem der Brckenfenster, steht der Kapit„n; hin und wieder verpaát er mir einen Fuátritt, wenn nach seiner Meinung die "Edelgard" mal wieder zu weit vom Kurs ist. Mehr als mir scheint ihm klar zu sein, daá wir uns in einer „uáerst gef„hrlichen Situation befinden, hineingeraten durch seine 10 Fehleinsch„tzung. Trotz Sturmwarnung hat er mit unserem nicht mal 40 m langen Schiffchen den sicheren Cuxhavener Hafen verlassen, in der Hoffnung, noch vor dem Unwetter die Wesermndung zu erreichen. Daá auf Altenbruch-Reede schon wesentlich gr”áere Schiffe zu Anker gingen, st”rte ihn offenbar nicht. Sichtlich ner- 15 v”s steht er nun da mit seinem Talent. Eine Umkehr nach Cuxhaven ist nicht mehr so ohne weiteres m”glich, die entsprechende Kurs„nderung br„chte das Schiff quer zur See und damit in die Gefahr des Kenterns. Andererseits, nicht zu bersehen, machen wir seit geraumer Zeit keine Fahrt mehr voraus, die Entfernung von ca. 4-5 Seemeilen zum Feuerschiff "Elbe 1" bleibt kon- 20 stant. Gegen die inzwischen haushohen Wellen kommen die 300 Pferdest„rken unserer Maschine nicht mehr an. Genauso wenig zu bersehen, achteraus, auch nur einige Meilen entfernt, die Brandung auf dem Groáen Vogelsand. Guter Rat ist teuer. Brecher auf Brecher donnert unterdessen an Deck; die "Edelgard" ist mehr unter als ber Wasser. In den Wohnr„umen herrscht das 25 totale Chaos. Mit jeder Bewegung des Schiffes poltern unsere Habseligkeiten von einer Ecke in die andere. Alles Zerbrechliche ist zerbrochen. Uns, die sieben Seelen an Bord der "Edelgard", interessiert das allerdings im Moment nicht. Žngstlich, anders kann man es nicht nennen, hocken wir alle bis auf einen, der im Maschinenraum Wache h„lt, in dem kleinen Brckenraum und star- 30 ren nach drauáen in diese tobende Wasserwste. Welche Gedanken den einzel- nen bewegen, ist schwer zu sagen; ich bin fast ausschlieálich mit mir und meiner Seekrankheit besch„ftigt und kann keinen klaren Gedanken mehr fassen. Ein ™sterreicher, durch Abenteuerlust vor einiger Zeit in unsere Crew hin- eingeweht, steht inzwischen am Steuer und handelt sich nun statt meiner die 35 Grobheiten des Kapit„ns ein. Es steht auf des Messers Schneide. Noch halten wir uns dank der Ebbstr”mung auf der Stelle. Bald wird die Tide kentern, und die Wassermassen werden den umgekehrten Weg nehmen. Gegen die vereinten Kr„fte von Sturm und Str”mung hat die "Edelgard", und damit wir kaum eine Chance. Schon k”nnte man meinen, 40 daá die Entfernung zum Feuerschiff "Elbe 1" langsam wieder zunimmt und die Brandung auf dem Groáen Vogelsand n„herrckt, oder ist es nur eine optische T„uschung von der Angst suggeriert? Genaue Ortsbestimmungen, die jetzt sein máten, sind an Bord der "Edelgard" wegen der mageren navigatorischen Aus- rstung schon bei gutem Wetter nicht m”glich. Der Funkpeiler ist seit lan- 45 gem defekt, das Echolot funktioniert nur zeitweilig, die Seekarten sind veraltet, und einen Peilkompaá hat es an Bord erst gar nicht gegeben. Wenn n”tig, wird mit dem Daumen ber den Steuerkompaá hinweg gepeilt, entspre- chend genau sind die Positionsangaben. Jetzt bei dieser Schaukelei, kann sich der Steuermann allerdings auch diese Mhe sparen. Mehr als eine Orts- 50 bestimmung "irgendwo in der Elbmndung" k„me mit Sicherheit nicht dabei heraus. Der letzte Wetterbericht von Norddeich-Radio hat einen kleinen Hoffnungsschimmer gelassen. Laut Vorhersage soll der Sturm ein wenig ab- flauen, um nach kurzer Zeit wieder auf die St„rken 9-10, in B”en bis 12 anzusteigen. 55 So schweben wir zwischen Hoffen und Bangen. Das Vorschiff der "Edelgard" taucht inzwischen merklich tiefer ein, Wassereinbruch, das Kabelgatt ist vollgelaufen. Per Sprachrohr meldet sich unterdessen der Wachmann aus dem Maschinenraum, die Abgastemperaturen der Maschine steigen, ein Zeichen, daá sie berbeansprucht wird. Jetzt allerdings die Umdrehungen zu vermin- 60 dern w„re gleichbedeutend mit einer baldigen Strandung auf dem Groáen Vogelsand. So gibt es nun eine Sorge mehr: h„lt die MAK-Maschine durch? Ihre Wartung und Pflege liegen auf dem Niveau der navigatorischen Einrich- tung, also wenig vertrauenerweckend. Ein groáer Dampfer zieht in Richtung Cuxhaven an uns vorber; k”nnte man dort an Bord sein! 65 Zwei Stunden weiter, der Flutstrom setzt jetzt langsam ein. Man merkt es an den Wellen; dadurch, daá Ebbstrom und Windsee nicht mehr gegeneinander laufen, sind sie nicht mehr so steil. Zudem scheint es tats„chlich ein wenig abzuflauen. Ist dies der Fall, so mssen wir jetzt herum, in Rich- tung Cuxhaven. An seinem Zigarettenverbrauch ist dem Kapit„n anzumerken, 70 daá er am Gipfelpunkt seiner Nervosit„t angelangt ist. Die Luft im Brcken- raum ist schrecklich, ein Gemisch von Zigarettenqualm, Schweiá, s„uerlichem Geruch von Erbrochenem und kaum noch Sauerstoff. Apathisch h„nge ich in ei- ner Ecke und m”chte sterben. Wer ein richtig seekrank war, nicht nur fr kurze Zeit, wird es mir nachfhlen k”nnen. Stunden werden wir durcheinan- 75 dergewirbelt, die "Edelgard" springt auf und nieder wie ein Ziegenbock. Das Ganze ist vielleicht entfernt mit einer stunden-, ja tagelangen Fahrt in einer Achterbahn zu vergleichen. Immer wieder l„át der Kapit„n sich die Abgastemperaturen der Maschine durchgeben, sie steigen. Wo der rote Strich liegt, weiá ich nicht; daá es langsam kritisch wird, ist sprbar. Wie lange 80 h„lt die Maschine noch durch? Der Steuermann, ein Ostfriese, als einziger von uns nicht seekrank, bernimmt auf Order vom Kapit„n das Steuer, er soll das Schiff auf Gegenkurs bringen. Obwohl der Kapit„n mit dem entsprechenden Kommando noch z”gert, der Moment, der ber alles entscheidet, steht unmit- telbar bevor. 85 Eine gewaltige See rollt heran, l„át uns scheinbar gen Himmel fahren, um uns gleich darauf in ein tiefes Tal fallen zu lassen. Noch Sekunden nach diesem gewaltigen Aufprall durchl„uft ein Zittern die "Edelgard". Pl”tzlich weniger Bewegung im Schiff, Wellen mit geringerer H”he sind die Ursache. "Nun mal rum, Strmann!" Wie ein Irrer kurbelt dieser am Steuerrad, 90 achtzehn Umdrehungen sind es von der Mittschiffslage bis "Hart Backbord". Schaffen wir es, bis der n„chste Brecher da ist? Gespannt beobachten wir das Vorschiff der "Edelgard", bewegt es sich in Richtung Backbord? Erst ganz langsam, ja tr„ge kommt die erhoffte Bewegung, dann immer schneller, wir drehen! Jetzt liegen wir quer zur See. Die erste Welle packt uns in 95 der Querlage, wirft das Schiff auf die Seite, zwanzig, dreiáig, fnfund- dreiáig Grad kr„ngt es ber. Dann ist sie unter uns durch, die "Edelgard" richtet sich wieder auf. Aber nur Bruchteile von Sekunden, schon ist die n„chste Wasserwand da. Ein dumpfes Krachen vom Aufprall Wasser gegen Bord- wand. Wieder holt das Schiff ber, legt sich immer bedrohlicher auf die 100 Seite. Der ™sterreicher, vor einem der Steuerbordbrckenfenster stehend, verliert den Halt, fliegt nach Backbord rber und knallt mit voller Wucht gegen die Brckenwand. Ehe wir anderen es begreifen, ergeht es uns ebenso. Benommen von einem Stoá in die Rippen, finde ich mich in einer Ecke wieder, ber mir der Steuermann, aus einer Kopfwunde blutend. Fr einen Moment ver- 105 gesse ich sogar meine Seekrankheit und versuche, auf die Beine zu kommen; bei dieser Schaukelei bestimmt nicht einfach. Auf allen Vieren robbt der Steuermann inzwischen zum Steuer zurck. Von allen in diesem Durcheinander nicht bewuát wahrgenommen: die "Edelgard" richtet sich wieder auf! Wieviel zum Kentern gefehlt hat, weiá ich nicht, 110 groá war die Spanne bestimmt nicht! Die letzte Welle brachte uns den gef„hr- lichsten Moment in der Unternehmung, gab dem Schiff aber auch einen Schubs in Richtung Gegenkurs. Der Steuermann, von Prellungen und Hautabschrfungen arg l„diert, besorgt mit entsprechender Ruderlage den Rest, wir sind um 180 Grad herum. Wind, See und Str”mung, alles kommt nun schr„g von achtern. Dem 115 Stampfen, Schtteln, Auf- und Niedersausen folgt nun ein vergleichsweise sanftes Auf und Ab. Erst passieren wir Feuerschiff "Elbe 2", dann "Elbe 3". Ruhigeres Fahrwasser macht sich bemerkbar. Ich nehme es kaum wahr, fix und fertig m”chte ich mich in eine Ecke verkriechen und nur noch schlafen. Das Gebrlle vom Kapit„n holt mich in die Wirklichkeit zurck. Mit den anderen 120 muá ich in die Wohnr„ume runter und Wasse sch”pfen. Bei der Kurs„nderung sind an Steuerbord mehrere Bullaugen eingeschlagen. Ptz um Ptz wird das feuchte Element wieder nach auáenbords bef”rdert, etliche hundert, soweit ich mich erinnern kann. Am schlimmsten sieht es im Proviantraum aus. Von der Schaukelei leergefegte Regale, am Boden ein unbeschreibliches Durchein- 125 ander. Alles zusammen von Rasmus mit Salzwasser gut angefeuchtet. Wir mer- ken es in den n„chsten Wochen, denn natrlich wird nichts weggeworfen. Einlaufen Cuxhaven, klar vorne und achtern. In unseren nassen Klamotten, frierend, begeben wir uns auf unsere Positionen beim Festmachen. Wst aussehende Gestalten, die da an Deck erscheinen. Die Leinen sind fest, 130 Ruhe im Schiff. Benommen und ungl„ubig mache ich die ersten Schritte auf der Pier, fester Boden, daá es das noch gibt! An einigen Stellen des Decks liegt zentimeterhoch Sand, eine sichtbare Hinterlassenschaft der Grundseen in der Elbmndung. Wir mssen den Untiefen des Groáen Vogelsandes sehr nahe gewesen sein. Glck gehabt! 135 Wenn ich heute so zurckdenke, hatte ich an Bord dieses Schiffes unver- sch„mt oft Glck. Der Kapit„n, in seinem Handeln nicht selten verantwor- tungslos, setzte immer wieder Schiff und Besatzung fr seine Zwecke aufs Spiel. Fahrensleute seines Schlages hat es zu allen Zeiten gegeben, nicht immer mit soviel Glck zur Seite: 140 28 Jahre vor meinem Erlebnis in der Elbmndung, im November 1930, endete dort eine „hnliche leichtfertige Unternehmung fr Schiff und Besatzung tragisch. Weitab vom Elbeschiffahrtsweg liegt seitdem, tief in den S„nden des Groáen Vogelsandes verborgen, das Wrack des Dampfers "Luise Leonhardt". [...] ----------------------- Abgastemperatur Temperatur der Auspuffgase n. einer Verbrennungsmaschine f. achteraus nach hinten, gegen die Fahrtrichtung, rckw„rts sehend achtern hinten am/im Schiff Brandung f. Brechen der See beim Auflaufen auf flaches Wasser Brecher m. hochaufragende, dann zusammenbrechende Wellenbewegung Brcke f. Platz/Raum, von dem aus das Schiff geleitet wird Bug m. Vorderteil eines Schiffes Bullauge n. rundes Schiffs-Seitenfenster Crew [kru:] f. Mannschaft f. eines Schiffes/Flugzeuges Echolot n. Ultraschallsender/-empf„nger zur Messung der Meerestiefe Fahrt m. Geschwindigkeit; -- machen 'vorw„rts kommen' Feuerschiff n. fest verankertes Schiff mit weithin sichtbarem Lichtzeichen Funkpeiler m. Drehantenne, mit der sog. Funkfeuer angepeilt werden k”nnen Grundsee f. bis auf den Grund gehende, manchmal berk„mmende Seebewegung Hart Backbord zwischen 35 und 40 Grad nach links in Fahrtrichtung Heck n. hinterer Teil eines Schiffes Kabelgatt n. Aufbewahrungsraum fr Tauwerk kentern durch Schwerpunktverlagerung sich mit dem Kiel nach oben drehen kr„ngen Drehen eines Schiffes um die L„ngsachse (Gefahr: Schlagseite!) navigatorisch die Kurs-/Ortsbestimmung [in der See-/Luftfahrt] betreffend Peilkompaá m. freistehender Kompaá mit aufsitzender optischer Peilvorrichtung Pier m. Bollwerk im Hafen, Anlegestelle, Landungsbrcke Ptz m. kleiner [Sch”pf-]Eimer Rasmus m. berk„mmende See Reede f. Ankerplatz "drauáen" vor einem Hafen, einer Bucht usw. robben [wie eine Robbe] kriechen Ruderlage f. [meist zur Mittschiffsebene schr„ge] Position des Steuerruders Schlagseite f. Schr„glage eines Schiffes durch Verrutschen seiner Ladung See f. das Meer mit seiner Wellenbewegung Sprachrohr n. R”hrenverbindung in Schiffen zur akustischen Kommunikation Strich, roter Grenzwertmarkierung f. [z.B. Drehzahl] an einem Meáinstrument Tide kentert die Gezeiten drehen sich um, aus Flut wird Ebbe berholen [pr„fixbetont] schlingern, d.h. sich um die L„ngsachse drehen Untiefe f. sehr wenig tiefe Stelle im Fahrwasser mit Gefahr v. Grundseen voraus nach vorn, in Fahrtrichtung sehend Wasserwand f. haushohe Wellenfront (c) WN 08111993