Deutsch im 20. Jahrhundert * Dr. Wolfgang Näser * Mi 16-18, HS 110 Biegenstraße 14 * Beginn 10.4.2002
Wenn man vom Plöckensteinsee in nordwestlicher Richtung bergab durch den Hochwald ging, so gelangte man nach etwa dreiviertel Stunden, dort wo sich der Talkessel schließt, zu einer kleinen Holzhaueransiedlung. Sie bestand aus kaum zwei Dutzend Anwesen zu beiden Seiten eines Baches. Der Bach, nicht breiter als ein Steinwurf und nicht tiefer als ein Wanderstock, bildete die Trennungslinie zwisten den beiden Häuserreihen längs seiner Ufer. Wo beide Reihen im Kesselgrund endeten, vereinigte ein Steg die zwei Aste des Fuhrwegs, der vom See erst zu der Ansiedlung, von dort aber auf der anderen Seite des Baches in entgegengesetzter Richtung eine Stunde lang nach dem Orte Neuofen führte.
Obwohl man also über den Bach hinweg nicht nur alles sah, was am jenseitigen Ufer vorging, sondern auch fast jedes etwas lauter gesprochene Wort verstehen konnte und obwohl man meinen sollte, daß Menschen, die in gemeinsamem Klangbereich wohnen, auch durch vieles andere eng miteinander verbunden sind, machte es doch einen gewaltigen Unterschied aus, welcher Seite man angehörte, das heißt, ob man gemäß der ortsüblichen Bezeichnung ein Rechtsbächler oder ein Linksbächler war. Der Ort hieß als Ganzes Hirschwalden.
Gewiß spielten bei jener tiefgreifenden Zweiteilung atmosphärische Tatsachen mit. Die Rechtsbächler, am Endabhang der Seesteigung unter hohen Fichten, befanden sich mehr im Schatten und empfingen nur am Spätnachmittag etwas Sonne, während die Linksbächler, wenngleich auch zu Füßen einer Anhöhe wohnend, sich fast den ganzen Tag lang der Sonne getrösten durften. Sie behaupteten auch, die älter Eingesessenen zu sein, und verfügten über etwas ergiebigere Bodenstücke, obzwar der Unterschied nicht gar so wesentlich war, denn im Grunde bestanden beide Gruppen aus armen Häuslern und Holzfällern mit ein paar Ziegen und Kühen und dem oder jenem Strich Kartoffeln oder Hafer. Letzten Endes war für alle der Wald die eigentliche und unerläßliche Lebensquelle, obwohl nichts davon den Linksbächlern oder den Rechtsbächlern gehörte, sondern alles der fürstlichen Herrschaft, die in Hirschwalden, genau über der Stelle, wo beide Ortsteile zusammenliefen, ein Forsthaus errichtet und einen Förster eingesetzt hatte.
Das Forsthaus also stellte einen neutralen und sozusagen abstrakten Mittelpunkt der Ansiedlung dar, um so mehr als der Förster ja auch nicht aus Hirschwalden stammte. Er hieß Jelen, war aber ein Deutscher aus dem Egerlande, wobei zu bemerken wäre, daß der Name Jelen an sich tschechisch ist und »Hirsch« bedeutet, demnach einem Förster nicht übel ansteht und überdies gerade nach Hirschwalden besonders gut paßte. Die Familiennamen im zweisprachigen Böhmen waren zu allen Zeiten sehr untermischt. Einige Minuten hinter dem Forsthaus, also von Hirschwalden schon etwas entfernt, befand sie ein bereits vor mehr ah hundert Jahren errichteter Felsentunnel, durch den der noch viel ältere fürstliche Holzschwemmkana1 führte; und nicht weit davon, im Jokuswalde, stand ein Fels, wo irgendwann einmal um die Mitte des vorigen Jahrhunderts der letzte Bär des Böhmerwaldes erlegt worden war. Dieser fünf Minuten lange Tunnel und der Bärnstein waren Sehenswürdigkeiten und Markzeichen der Gegend.
Nachbarschaft und das gilt nicht nur für die Hirschwaldener, sondern wohl überall in der Welt erzeugt zwar mancherlei Hilfsbereitschaft, aber sie macht auch spröde und empfindlich. Die geringste Unvorsichtigkeit oder Schwäche oder Gedankenlosigkeit kann das Gleichgewicht verletzen, auf das ein Leben in nachbarlicher Gemeinschaft angewiesen ist. Es ist ein ewiges Risiko. Man leiht einander wohl dann und wann auf Gegendienst eine Schaufel oder einen Eimer. Aber wehe, wenn einer die Schaufel mit einer kleinen Scharte, den Eimer mit einem winzigen Leck zurückgibt, die gewiß ebenso entstanden wären, wenn sich der Eigentümer ihrer bedient hätte, denn die Dinge standen ja schon seit langem in Verwendung. Der Mann, der sie sich erbeten hatte, wird zum Ziel bitterster,-ja boshafter Anwürfe, die sich dann nicht mehr auf die Schaufel oder den Eimer beschränken. Er ist unachtsam, weiß nicht mit fremdem Gut umzugehen, bildet sich ein, er dürfte sich alles erlauben, ist ausnützerisch, selbstisch, habgierig und jeder Übeltat fähig. Und die Nachbarin, der ein geliehener Krug anbricht, ist, obwohl der Krug schon einen leichten Sprung aufwies und obschon sie ihn sogar ersetzte ojemine was ist diese Nachbarin nicht alles! Sie ist unordentlich, schlampig, verwahrlost, ist dies immer schon gewesen; und der Krug war nicht einfach ein Krug wie alle anderen Krüge, sondern ein besonders kostbarer, von der Großmutter ererbter oder auf einer unvergeßlichen Kirchweih erhandelter, mit dem sich kein anderer Krug des Universums messen kann.
Aus solchen Geringfügigkeiten entsteht innerhalb enger Nachbarschaften sehr viel Einsamkeit. Dann aber sind da noch die Familien, die Herdstätten der Liebe, aber auch die Urzellen der Gruppeneigensucht und der gegenseitigen Überheblichkeiten. Und überdies bildet sich jeder vom Schicksal auch nur ein wenig Begünstigte ein, mehr zu können und zu verstehen als jeder andere. Was ihm ein unverdientes Glück zuschanzte, wünscht er als Verdienst seiner besonderen Fähigkeiten anerkannt zu sehen, und die besseren Kartoffeln geraten ihm weniger durch den besseren Boden oder durch die günstigere Lage oder einfach durch Gottes Hilfe, sondern durch sein hervorragendes Talent in der Zubereitung und Behandlung des Ackers. Dazu kommt hoch das Bedürfnis, andere zu verringern, um sich selbst stärker zu fühlen, die Lust der Verneinung zu genießen oder gar den Drang nach dem Gewaltsamen auszutoben.
Über alledem schwebt seltsamerweise ein Überbau von Frömmigkeit, die nicht einmal geheuchelt ist. Denn die Elemente, die Krankheiten und der Tod machen vor niemandem halt. Aber die rasche Vergeßlichkeit ist doch immer die mächtigste Lebenskraft und die beflissenste Wiedererweckerin des Irrtums und des Bösen.
Wird ergänzt * Scan / Layout: Dr. W. Näser 18.2.2002