Ein jeder ist bestürzt. Alle sind zutiefst betroffen. Keiner hat dergleichen
für möglich gehalten. Niemand hätte derartiges erwarten
können. Niemand kann sich die ganze Angelegenheit erklären.
Natürlich wird es nie wieder so sein wie vorher. Selbstverständlich
haben wir alle daraus Lehren zu ziehen. Zweifellos wird von nun an alles
anders.
Gar nichts wird sich ändern, schon überhaupt nicht sich
bessern. Es bleibt alles bei seinem alten Gang. Schließlich geht
das Leben weiter. Man muß den Blick nach vorn richten.
Verantwortung? Nein, danke!
Es ist ja so wahnsinnig bequem, sich unter Verwendung leerer Worthülsen
auf das "Schicksalhafte" zurückzuziehen. Damit gestattet man sich die
Erkenntnis, ob man nun engagiert war und ist oder nicht, da man sowieso nichts
hätte ändern können und nicht ändern kann. Und noch viel
schöner: bei schicksalhaften Ereignissen entfällt die Verantwortung
grundsätzlich.
Praktisch alle Äußerungen - und wer fühlt sich nicht alles
berufen?! - zur Politaffäre in Kiel (es handelt sich nämlich
tatsächlich nicht nur um eine Affäre Barschel oder Pfeiffer) stellen
auf teilweise rätselhafte Phänomene ab. Die Trauerrede des Bischof
Wilckens mag rhetorisch und inhaltlich eine Ausnahmestellung beanspruchen.
Aber wenn schon ein Phänomen Gültigkeit hat, dann doch wohl dieses:
alle Autofahrer, die eine Unfallstelle passieren, drosseln unter dem Eindruck
des eben gesehenen schrecklichen Ereignisses für einige Kilometer ihre
Geschwindigkeit. Wer von uns hat sich noch nicht dabei ertappt, daß
er mit zunehmendem Abstand von der Unfallstelle das Gaspedal wieder stärker
durchdrückt? Die Dauer des Schocks hängt von der Frische und der
Schwere des Unfalls ab. Ein paar mehr Verletzte oder gar Tote haben ein paar
mehr Kilometer beeindruckten Langsamfahrens zur Folge.
Aber Lehren für das Leben?
Genau dieses Phänomen zeichnet offenbar auch das Verhalten in der Kieler
Politaffäre aus. Das aktive, beinahe krampfhafte Einschwören "auf
die vor uns liegende politische Arbeit" soll wohl nur die "Schockstrecke"
verkürzen helfen.
Schadenbegrenzung oder Aufklärung?
Womit beschäftigen sich die Redner und Macher?
Mit den Folgen!
Womit sollten sie sich beschäftigen?
Mit den Ursachen!
Unstrittig: es muß hemmungslos, ohne Ansehen von Personen und Sachen,
aufgeklärt werden, was aufklärbar ist. Kein Zweifel: es müssen
organisatorische Konsequenzen gezogen werden, die in Sach- und
Personenänderungen zu münden haben.
Aber alle richtigen und notwendigen Forderungen und Maßnahmen dieser
Art sind nur Therapie, hilfreich und heilsam, hoffentlich. Aber weiterhin
fehlt die Diagnose.
Die muß ansetzen bei der Frage: liegt hier tatsächlich
"Schicksalhaftes" vor, was uns die Sache ja so unendlich erleichtern würde
(und deshalb haben sich die Experten schleunigst für diese Version
entschieden), oder läßt sich die Kieler Politaffäre logisch
ableiten als Konsequenz aus "Politik im allgemeinen"?
Alle auftretenden Probleme mit den Medien, "Vorverurteilung", "Fallen lassen"
und "Fallengelassen werden", sogar die Frage, ab oder ab nicht der Barschel
und / oder der Pfeiffer und / oder noch ganz andere... erübrigen sich
in diesem Zusammenhang. Es liegt ein Sachverhalt vor, an dessen Anfang irgendein
schuldhaftes Verhalten irgendeiner oder mehrerer Personen steht.
Was uns hier interessiert: mußte es so kommen? Ist Politik so
charakterisiert, daß sie zu logischen Katastrophen führt? Sind
Politiker in Absicht und Handeln so strukturiert, daß sie unausweichlich
ein Katastrophenpotential aufhäufen? Wobei es dann nur noch eine Frage
der sonstigen Umstände bleibt, ob sich dieses Potential tatsächlich
entlädt.
Ein erheblicher Teil dieser "sonstigen Umstände" sind heutzutage die
sogenannten Medien.
Schuld und Medien
Es überrascht nicht sonderlich, daß jemand wie Augstein oder Heiner
Bremer bei Mehrheiten keine Sympathiewerte erreichen. Natürlich muß
es auch schwerfallen, den diesen Herren zuzuordnenden Magazinen einen
staatstragenden oder doch wenigstens staatserhaltenden Wert zuzubilligen.
Auch Springer unterliegt da genauso häufig dem Gegenwind des
Unverständnisses.
Aber eins muß unumstritten sein: schuldig bei Skandalen sind niemals
diejenigen, die ihn entdecken und darüber berichten, sondern immer
diejenigen, die ihn verursachen.
Insofern ist auch die Diskussion ziemlich müßig, auf welchen Wegen
und mit welchen Mitteln sich Journalisten diesbezügliche Informationen
verschaffen. Wenn es denn der Wahrheitsfindung dient...
Natürlich gibt es Grenzen. Aber die liegen sicherlich erst kurz vor
der Manipulation. Viele Leute, die bei den Berichten aus Genf aufgeschrieen
und "Sudeljournalismus" festgestellt haben, lesen tagtäglich Skandalberichte
aus dem Innersten von Menschen, Soraya, Caroline, Lady Di, Gracia Patricia,
ohne auch nur das leiseste Unrechtsbewußtsein zu haben. Wenn so etwas
sein darf, können Berichte über Vorgänge, die mit
tatsächlichem öffentlichen Interesse verbunden sind, schon gar
nicht verwerflich sein.
Insofern haben die "sonstigen Umstände", also die Medien, in diesem
Falle dafür gesorgt, daß Manipulationen aufgedeckt werden konnten.
Wie schließlich deren Einzelheiten aussehen - Beteiligte, Taten, Folgen
- bleibt den dafür bestimmten Organen festzustellen vorbehalten: dem
parlamentarischen Untersuchungsausschuß und den ordentlichen Gerichten.
Gewogen und zu leicht befunden
Zurück zur Frage der Zwangsläufigkeit solcher Ereignisse. In mehreren
Leitartikeln der VITROHM-NACHRICHTEN haben wir darüber Klage geführt,
wie erschreckend das geistig-moralische Niveau der Politik und der Politiker
sich darstellt. Die ständige Anpassung an Sachzwänge (oder sich
ändernde Mehrheiten) macht die meisten schließlich so
windschlüpfrig, daß ihr CW-Wert gegen Null tendiert.
Ein Mensch, der ganz oben in der Politik ankommt, muß amorph geworden
sein, um immer breitere Zustimmung gefunden zu haben.
So wie Parteiprogramme das größte gemeinsame Vielfache
verkörpern (es sind nicht die Blätter, auf denen sie geschrieben
stehen, die rascheln, sondern die Binsen, die darin verkündet werden!),
muß auch der Spitzenpolitiker in der Lage sein, verbal alles abzudecken.
Sie können fragen, was Sie wollen, ein Politiker wird Ihnen um jeden
Preis eine Antwort geben. Und wenn Sie mit der Antwort aus guten Gründen
nicht zufrieden sind, dann haben Sie eben die Frage nicht richtig
gestellt. [...]
(Quelle: VITROHM-Nachrichten 50/[Nov.]1987, Seite 6; Einlesen und HTML: Dr. W. NÄSER 12.8.99)