Trotz Auftragsbooms und Sonderschichten will Volkswagen weitere
Arbeitsplätze abbauen und den Haustarif
unterlaufen
von Heinz Blüthmann und Erika Martens (DIE ZEIT, 11.4.1997)
Peter Hartz ist vom Erfolg verwöhnt. Innovativ, phantasievoll, kreativ - die Lobeshymnen über die Tarifpolitik des VW-Personalchefs sind überschwenglich. Seit der Saarländer sein Amt beim Volkswagen-Werk antrat, gelten seine Ideen als Vorbild für den sozialverträglichen Abbau von Arbeitsplätzen. Doch das Modell Wolfsburg hat mehrere Väter. Ohne die Kompromißbereitschaft und Aufgeschlossenheit von IG Metall und Betriebsrat wäre es unmöglich gewesen, die Belegschaft der sechs inländischen Werke seit 1991 ohne Entlassungen um ein Viertel zu reduzieren.
Während in den übrigen Unternehmen der deutschen Autoindustrie seitdem mehr als 150 000 Jobs - meist über kostspielige Abfindungsverträge - verlorengingen, sank die Zahl der VW-Mitarbeiter im Inland von 128 000 bis heute auf 95 500 - allein durch kürzere Arbeitszeiten und Vorruhestand. Das Rezept des Erfolges: Sozialpartnerschaft. In Wolfsburg hat sich der Begriff, der in Zeiten des Shareholder value altmodisch und abgenutzt klingt, bis heute bewährt. Nur gemeinsam konnten den Beschäftigten einschneidende Opfer abverlangt und unkonventionelle Lösungen umgesetzt werden.
Jetzt freilich steht der Konsens auf dem Spiel: Das Management will eine eigene Dienstleistungsgesellschaft gründen. Deren Beschäftigte sollen, so Unternehmenssprecher Hans-Peter Blechinger, nicht nur in "gefährdeten Unternehmensbereichen" wie Kantinen, Fahrservice und Werkschutz arbeiten, sondern "auch Bedarfsspitzen in der Produktion abdecken". Der Knackpunkt des Vorhabens aber ist die Bezahlung, die Blechinger als "besonderen Tarifansatz" euphemistisch umschreibt. Im Klartext: Die künftigen Leiharbeiter sollen nicht mehr nach dem VW-Haustarifvertrag, sondern nach dem niedersächsischen Metall-Vertrag bezahlt werden. Und der liegt ein gehöriges Stück unter dem Lohn der VW-Beschäftigten.
Die Belegschaft reagiert auf dieses Ansinnen mit "massiver Verärgerung", so Gesamtbetriebsratssprecher Jürgen Uhl, und erinnert erbost an den alten Gewerkschaftsgrundsatz "Gleicher Lohn für gleiche Arbeit". Die Stimmung sei explosiv. "Wenn man da ein Streichholz dranhält, schmeißen die Kollegen die Klamotten hin." Auch die IG Metall wehrt sich entschieden dagegen, daß künftig womöglich Arbeiter, die nebeneinander am Band stehen, unterschiedlich bezahlt werden. "Das wäre ein Dammbruch" fürchtet Georgios Arwanitidis vom IG-Metall-Bezirk Niedersachsen. Überall in Deutschland könnten Metallfirmen dem Beispiel folgen und Kantinen, Rechnungswesen und andere Dienstleistungsbereiche aus den Tarifverträgen herauslösen. "Es wäre der Einstieg in den Ausstieg aus den Tarifverträgen."
Wäre es auch das Ende des Konsensmodells, mit dem die Wolfsburger seit nun fast fünfzig Jahren gut gefahren sind? Als reiner Staatsbetrieb startete VW 1949 aus den Ruinen des Hitlerschen Kraft-durch-Freude-Werkes; 1960 brachten die Bundesrepublik und das Land Niedersachsen sechzig Prozent ihrer Anteile als Volksaktien an die Börse, und erst 1988 verkaufte der Bund sein restliches Paket von zwanzig Prozent. Seither ist Niedersachsen mit einem Fünftel der Stimmrechte wichtigster VW-Aktionär.
Privatkapitalistische Sitten und Gebräuche hatten und haben es bei VW auch deshalb besonders schwer, weil die IG Metall einen kaum zu überschätzenden Einfluß auf den Kurs hat: Mehr als 95 Prozent der Belegschaft sind in der Gewerkschaft organisiert. Wie ein Garant gegen ruppigen Personalabbau sitzt zudem Ministerpräsident Gerhard Schröder im Aufsichtsrat, als einer von zwei Vertretern des Großaktionärs Niedersachsen, in dem fünf der sechs westdeutschen VW-Werke liegen: Wolfsburg, Emden, Braunschweig, Salzgitter und Hannover.
Schröder, der 1992 entscheidend mithalf, den damaligen Audi-Chef Ferdinand Piëch als neuen Vorstandsvorsitzenden bei der Wolfsburger Muttergesellschaft zu installieren, machte dabei zur Bedingung, daß die VW-Belegschaft kurzfristig nicht unter die magische Hunderttausend-Grenze fallen dürfe - es standen Landtagswahlen bevor.
VW allerdings steckte in einer tiefen Krise. Innerhalb eines Jahres war der Absatz von 3,5 Millionen auf 2,9 Millionen Fahrzeuge gesunken, rein rechnerisch waren drei der deutschen Fabriken überflüssig. Doch statt an die zwei Milliarden Mark für teure Sozialpläne auszugeben und 30 000 Leute auf die Straße zu setzen, einigten sich die Tarifpartner Ende 1993 nach vierwöchigen Verhandlungen auf den "raffiniertesten Tarifabschluß seit langem" (Der Spiegel), bekannt geworden unter dem Stichwort Viertagewoche. Im Kern bedeutet er: Alle arbeiten zwanzig Prozent weniger, verdienen etwa zwölf bis fünfzehn Prozent weniger, haben aber einen hundert Prozent sicheren Arbeitsplatz. Aus diesem Grundmodell entstanden mittlerweile etwa 180 verschiedene Arbeitszeitregelungen, die den Anforderungen des Betriebs möglichst gut angepaßt sind, die "atmende Fabrik", wie Ferdinand Piëch das Ganze nennt. Dazu erfanden die Wolfsburger die "Stafette für Ausgebildete": Der Nachwuchs wird übernommen, wenn nicht anders möglich, zunächst mit einer Arbeitszeit von zwanzig Stunden, während die Älteren schrittweise in den Ruhestand gleiten.
Ein Jahr später wurde das Paket durch den "Generationenvertrag" ergänzt. Er sieht nicht nur die Verteilung der Arbeit zwischen Alt und Jung vor, sondern auch den Austausch von Produktion und Beschäftigten zwischen den einzelnen Werken. Ein Beispiel: Vom Werk Emden, wo es nicht genug zu tun gab, wurden vor allem jüngere Mitarbeiter nach Hannover beordert, um dort vorübergehend auszuhelfen. Besonders gern ließen sich die Ostfriesen offenbar nicht in die Landeshauptstadt verschicken. Jedenfalls brach plötzlich die Heiratswut in Emden aus, weil Flitterwöchner angeblich vom Umzug verschont bleiben sollten.
Die drastische Arbeitszeitverkürzung auf 28,8 Stunden pro Woche ließ sich zwar in der Praxis kaum durchhalten, denn die Konjunktur zog wieder an. Die durchschnittliche Arbeitszeit der Beschäftigten lag 1994 deshalb je nach Werk zwischen 29,2 und 32,6 Stunden. Dennoch verlängerten die Tarifpartner den Vertrag 1995 um weitere zwei Jahre. Mittlerweile erfordern Produktivitätssprünge von zehn bis zwanzig Prozent pro Jahr erneut Personalanpassungen. Der Vorruhestand ersparte Entlassungen.
Doch seit der Gesetzgeber den Vorruhestand im vergangenen Jahr durch die Altersteilzeit ersetzte, ist er finanziell uninteressant für die Älteren geworden. Mit einem "Zeit-Wertpapier" will Hartz den Mitarbeitern nun ermöglichen, mit 55 Jahren ihre Arbeitszeit auf achtzehn Stunden pro Woche zu verringern und dennoch 85 Prozent der bisherigen Bezüge zu erhalten. Erreicht werden soll das durch Ansparen von Überstunden in jüngeren Jahren. Darüber soll bei den derzeit laufenden Tarifverhandlungen ebenso gesprochen werden wie über das ergänzende Konzept der Mitarbeiterbeteiligung, das - wie alles, was der Personalchef ersinnt - kompliziert ist, aber nicht ohne Charme: Alle Beschäftigten sollen Wandelschuldverschreibungen bis zum Nennwert von 13,5 Millionen Mark erwerben können. Damit könnte jeder praktisch ohne Risiko Papiere im Nennwert von fünf Mark kaufen und sie binnen fünf Jahren in VW-Stammaktien umtauschen. Der Ausgabekurs soll aus dem Durchschnittskurs der letzten fünf Tage vor Kauf der Wandelanleihe errechnet werden.
Das Modell soll nicht nur Frühpensionären ein finanzielles Polster für den gleitenden Ausstieg ermöglichen. Es ließe auch die Belegschaft - nicht nur fremde Kapitalgeber und das Topmanagement - vom Shareholder value profitieren.
Die Themenliste der Verhandlungen, die am 17. April im "Maritim Stadthotel" in Hannover weitergehen, ist also lang und steckt voller Tücken. Und der Konzernabschluß, den VW-Chef Ferdinand Piëch in dieser Woche vorlegte, ist kaum geeignet, einen Konflikt mit der IG Metall zu entschärfen. Im Gegenteil: Die Gewerkschafter werden vor allem auf die 1996 deutlich verbesserten Gewinne hinweisen (siehe Tabelle) und damit die Forderung verbinden, nach vier Jahren harten Sparens nun den Gürtel für die Arbeitnehmer wieder zu lockern. Im ersten Piëch-Jahr - 1993 - war der Volkswagen-Konzern mit 1,94 Milliarden Mark in die roten Zahlen abgerutscht.
Tatsächlich hat sich seitdem die Ertragskraft des Autokonzerns noch viel stärker verbessert, als das in den offiziellen Zahlen zum Ausdruck kommt. Um Begehrlichkeiten der Arbeitnehmervertreter von vornherein zu bremsen, hat der VW-Chef nämlich den Gewinn "kleinrechnen" lassen, wozu das deutsche Bilanzrecht diverse Möglichkeiten bietet. Stephen Reitman, einer der renommiertesten Analysten der Autoindustrie, hat das schon seit längerem erkannt: "Piëch ist ein Versteckspieler. VW ist dabei, sich radikal zu erholen. Ich habe noch kein Unternehmen erlebt, das seine Stärke so maskiert."
Irgendwann allerdings wird der VW-Chef Farbe bekennen müssen, um nicht selbst unglaubwürdig zu erscheinen. Sein Ziel für das Ende dieses Jahrzehnts, das er gern in Aktionärsversammlungen verkündet, sind 6,5 Prozent Umsatzrendite, also Gewinn vor Steuern, bezogen auf das Geschäftsvolumen. Der Konzernabschluß ergibt lediglich 2 Prozent; 1995 waren es 1,3 Prozent.
Um die anspruchsvollen Gewinnziele zu erreichen, gibt es nur einen Weg: mit noch weniger Menschen noch mehr Autos zu bauen - und zu verkaufen. VW ist schnell vorangekommen: 1993 produzierte der Konzern mit weltweit 270 000 Beschäftigten drei Millionen Fahrzeuge, im vergangenen Jahr wurden mit nur noch 241 000 Mitarbeitern knapp vier Millionen Autos gebaut. "Die Produktivität wächst schneller", ist Piëch fest überzeugt, "als wir Personal abbauen können." Bei der Marke VW stehen in diesem und dem nächsten Jahr weitere 8000 Jobs zur Disposition.
Die Situation erscheint paradox: Es wird bei VW über Arbeitsplatzabbau verhandelt, und zugleich müssen die Händler ihre Kunden mit ellenlangen Lieferzeiten verärgern, weil die Werke mit den Aufträgen der Käufer nicht Schritt halten können. Beispiel Passat: Wer jetzt die neue Limousine ordert, kann von Glück sagen, wenn er sie noch in diesem Jahr erhält. Beispiel Golf: Obwohl der Wolfsburger Bestseller im Herbst einen attraktiven Nachfolger bekommt, geht das Auslaufmodell prächtig: Drei Monate Lieferzeit sind die Regel. Auch zahlreiche Extraschichten haben die Lage kaum entspannt; 1996 wurden bei VW immerhin elf Millionen Überstunden geleistet.
Die Forderung der Gewerkschaften nach rund tausend befristeten Neueinstellungen wird aus dieser Sicht verständlich. Es gibt allerdings auch gute Gründe, darauf zu verzichten. Der besonders gefragte Passat etwa wird derzeit im ostdeutschen Mosel mit drei Schichten und 450 Autos pro Tag sowie in Emden mit zwei Schichten und 700 Wagen täglich produziert. Über eine dritte Schicht in Emden wird seit langem verhandelt - so schnell kann daraus aber wohl nichts werden. Denn: "Die Zulieferer arbeiten an der Kapazitätsgrenze", weiß Werksleiter Karl-Günther Büsching. Klar ist, kommen nicht mehr Teile in die beiden Werke hinein, lassen sich auch mit mehr Beschäftigten keine zusätzlichen Autos bauen.
Mittelfristig ließe sich die Kapazität bei den Zulieferern sicher erhöhen und eine dritte Schicht einführen, aber die Erfahrung lehrt, daß die Be-stellflut für ein neues Modell auch wieder abnimmt - der Emdener Betriebsratsvorsitzende Alfred Wienekamp setzt sich deshalb dafür ein, befristet Leute neu einzustellen, hat dabei allerdings den Personalchef des ostfriesischen Werkes strikt gegen sich. Reinhard Penzek: "Das ist für uns kein Thema." Er fürchtet den moralischen Druck, am Ende die Zeitverträge in unbefristete Arbeitsverhältnisse umzuwandeln.
Für diesen Sommer will sich der Emdener Werksleiter Büsching mit einer anderen Option behelfen. Um die ferienbedingte Abwesenheit auszugleichen und auf möglichst hohem Niveau weiterzuproduzieren, sollen bis zu tausend Studenten angeheuert werden. Das wäre dann wohl die billigste Lösung.
(C) DIE ZEIT 11.04.97 Nr.16