Windows 95 oder nicht?

Grundsätzliche Überlegungen oder Hat DOS noch eine Chance?

Die mit Windows 95/OSR 2 und erst recht dem neuen Windows 98 erzielbaren Annehmlichkeiten (Plug and Play, vollautomatische Installation von Treibern und Programmen) führen zur Überlegung, ob es sich lohnt, wenigstens in der Laptop-Sparversion ein Windows 95 auch auf älteren Notebooks wie dem dem TP 755 C einzurichten, um dort auch echte 32-Bit-Programme ohne jede Einschränkung "fahren" zu können. Aus der Win-95-Perspektive betrachtet, arbeitet mit dem 80486DX/50 (ohne Cache) und einer Festplatte von nur 350 MB das Thinkpad etwa so schnell (oder eher so langsam) wie ein durchschnittlicher 486/50-Desktop um 1995. Wer damals versuchte, mit einem solchen Rechner und dessen langsamem CD-Laufwerk das neue Win 95 zu installieren, war von der langwierigen und teilweise hakeligen Art des Einrichtens wenig begeistert. Die späteren Pentium-Rechner mit ihrem geradezu dramatischen Geschwindigkeitszuwachs ließen diese Anfangsschwierigkeiten allzuschnell vergessen.

Ebenso aus der Mode kam es, die Vor- und Nachteile von MS-DOS, Windows 3.11 und Windows 95/98 realistisch gegeneinander abzuwägen. Win 95 und 98 haben nicht nur Vorteile - nicht zuletzt wegen des immer undurchsichtigeren Dateimanagements und der Installationsroutinen, die ein gezieltes Eingreifen nicht mehr gestatten. Im Gegensatz zum servicefreundlichen Win-3.11-Baukasten mutierten Win 95 und 98 zu rätselhaften und eigenwilligen Blackboxes, die dem 'normalen' Benutzer das Gesetz des Handelns aufzwingen und ihm als letzte Freiheit das Gebet lassen, daß beim nächsten Start hoffentlich noch alles funktioniert.

Wenn nur eine Hardware-Komponente den Dienst versagt, so kann dies einen der gefürchteten Schweren Ausnahmefehler provozieren, die bisweilen eine Neuinstallation erfordern. Hierzu benötigen Sie ein exzellentes CD-Laufwerk, das die Windows-95-Installation sicher und schnell bewältigt und dabei alle im Setup-Paket enthaltenen Cabinet-Archive (*.cab) fehlerfrei entpackt. Interne CD-Laufwerke arbeiten heute nominell mit max. 48-facher Geschwindigkeit und damit fast so schnell wie frühere IDE-Festplatten. Beim TP 7555 müssen Sie ein portables CD-Laufwerk an die Druckerschnittstelle koppeln; auch wenn sich im Interface-Gehäuse ('Kit') ein 40-fach-LW befindet, erreichen Sie aufgrund der Anschlußparameter real nur die 6- bis 8-fache Lesegeschwindigkeit. Lassen sich unter Windows 3.11 viele Anwendungen noch von Disketten installieren, so verlangen die umfangreichen Win-95-Programmpakete meist ein CD-Laufwerk. Telefonauskunfts-Programme laufen unter Win 3.11 (16-Bit) und Win 95 (32-Bit, daher schneller) und holen sich die abgefragten Daten aus einer über 600 MB umfassenden CD, wobei dieser Prozeß via LPT 1 immer recht schleppend erfolgt.

Für uns Geisteswissenschaftler bedeutet Windows 95 den Abschied von einer sprachstrukturellen Betrachtungsweise, die sich - in der DOS-Welt - unmitelbar auf das Schriftzeichen konzentrierte als vom Rechner verarbeitetes Byte, beliebig austausch- und in schnellen Routinen (auch global) ersetzbar. Ein Text von 4096 Zeichen (Spaces inklusive) bedeutete 4096 Bytes und paßte haargenau in einen oder zwei Cluster. In einem 300 kB großen, mit Qedit geschriebenen Text ließen sich in nur wenigen Sekunden tausende von Ersetz-Operationen durchführen, auch von einem Dateimanager aus wie XtreeGold, der zudem mit seinen vielen Viewer-Modulen auch das direkte Hineinschauen in dBase-, Word5- und andere auf DOS-Basis erstellte Dateien ermöglichte. Mit 30-kByte-Programmen wie WO.EXE lassen sich im gesamten DOS-Bereich auch gepackte Dateien auf Zeichen und Zeichenketten durchsuchen, WLIST fertigt aus allen ASCII-Texten Rückläufige Wörterbücher usw. Zwischen das geschriebene Wort und den Bearbeiter setzt Windows eine Meta-Ebene, die Gleichung Schriftzeichen=Byte wird hinfällig, das Schriftzeichen zum beliebig skalier- und umformbaren Gewebe. Mit der Kompliziertheit der Anwendungen wächst die Menge der Steuer-Bytes; wer Windows 98 und Winword 8 aktiviert, um einen simplen Einkaufszettel zu generieren, könnte sich ebenso in einen Formel-I-Boliden setzen, um vom 100 m entfernten Automaten Zigaretten zu holen. Win 95 und 98 arbeiten u. U. mit Auslagerungsdateien, die die bescheidene Festplattenkapazität von 350 MB im TP 755 überfordern können; das mit 20 MB RAM ausgestattete TP-Modell allerdings entlastet in allen Windows-Versionen die Festplatte mehr, als es ein 486er-Desktop um 1995 hätte tun können.

Ein ebenso bescheidener wie überschaubarer Klein-Rechner wie das Thinkpad 755C bietet die Möglichkeit, sozusagen in kreativer Rückbesinnung auf optimierte DOS-Strategien die Verhältnismäßigkeit der Mittel neu zu überdenken und, was Texte und deren Aussagewert angeht, zu überschau- und umsetzbarer Einfachheit zurückzufinden. Die neue Nüchternheit wird in diesem Sinne zum Motor einer Kreativität, die den sprachlichen Inhalt wieder zur Richtschnur macht und übersteigerte Layout-Strategien zu dem, was sie eigentlich sind: Blendwerk.

Ein Notebook ist vom Ansatz her kein Graphik-Layout-Büro. Per definitionem dient es dazu, Gedanken festzuhalten, auszuformulieren, zu verwalten und Informationen vom Inhalt her zu erschließen. Den Nachteil, auf Ihrem 755 C keine umfangreichen sophisticated graphic applications verwenden zu können, werden Sie bald verschmerzen: spätestens dann, wenn Sie wiederentdeckt haben, wie schön es ist, mit wenig Aufwand einen Text zu schreiben und in diesem nach Herzenslust herumzueditieren, bis er vom Inhalt und Ausdruck her so vollkommen ist, daß er publiziert werden kann. Zu diesem Behufe können Sie den Text einem lieben Menschen geben, der, seiner Stellenbeschreibung gemäß, ihn mit einem schnellen Pentium-Rechner vom Layout her in ein publikatorisch wirksames Gewand kleidet.

(c) Dr. W. Näser 9/99