INT. SOMMERKURS DER PHILIPPS-UNIVERSITÄT 1993 * LITERATUR UND MEDIEN Kurs 6: Dr. Wolfgang Näser Text 8: Erwin WICKERT (1915-?): Was ist das Hörspiel? (In: prisma 8/III, Literarische Quellentexte, Vom Realismus bis zur Gegenwart, 3. Aufl. Bam- berg 1973, 315-318) 1 Man hat schon viele Romane, Schauspiele und Erzählungen zu Hörspielen bearbeitet. Der umgekehrte Weg, vom Hörspiel zum Roman und zur Erzäh- lung ist, soviel ich mich erinnere, nie, der Weg zum Schauspiel nur selten und nur mit zweifelhaftem Erfolg begangen worden. Das mag daran 5 liegen, daß wesentliche Züge des Hörspieles literarisch nicht ableit- bar sind, ebensowenig wie man den Film, dort wo er ganz Film ist, ohne Verlust ins Literarische übersetzen kann. Das Hörspiel enthält zwar dramatische, epische oder lyrische Elemente; diese Tatsache charakterisiert es, kann aber keinen Einwand gegen sei- 10 ne Form abgeben: Selbst die attische Tragödie könnte man als Mischform von Drama und Lyrik ansehen. Von einer Ästhetik, die nur mit den Kate- gorien Dramatik, Epik und Lyrik arbeitet, erhält man keinen ausreichen- den Zugang zum Hörspiel, dessen Form sui generis ist. Nun kann und soll eine auch nur einigermaßen umfassende Charakteristik des Hörspiels oder 15 gar eine Hörspieldramaturgie hier nicht gegeben werden. Aber eine der wichtigsten Züge, die es vom Schauspiel trennen, lassen sich andeuten, zum Beispiel: * Das Hörspiel kann die äußere Zeit der Handlung zu einer inneren umwandeln. 20 * Das Hörspiel kann die Handlung assoziativ verbinden, vorantrei- ben und vertiefen. * Die Handlung des Hörspiels spielt auf der Inneren Bühne. Die innere Zeit Mit der ersten Möglichkeit ist folgendes gemeint: Zwar kann auch im 25 Hörspiel die Handlung zeitlich ununterbrochen und logisch geradlinig verlaufen wie im klassischen Schauspiel; aber ein solches Hörspiel nützt seine Möglichkeiten nicht aus. Daher sind Hörspiele, ebenso wie Filme, nach Schauspielen, mit enger Bindung an Akt- und Szeneneintei- lung, mit den im Rundfunk konstruiert und errechnet wirkenden Auf- 30 tritten und Abgängen, Ersatzkunst, die die Phantasie lähmt, aber nicht beflügelt. Die Zeit im Hörspiel ist von der Zeit im Bühnenspiel verschieden. Sie wird aufgelöst in viele Einzelelemente, die dann nicht in ihrem äuße- ren, sondern in ihrem Zusammenhang aneinandergesetzt werden können, 35 so daß die Einheit der Handlung hergestellt wird. Dieses Spiel mit Mosaikstücken der Zeit geschieht durch die Rück- und Vorblende, die auf der Bühne in dieser Freiheit nie angewandt werden kann, ohne Unbe- hagen zu bereiten, und die selbst im Film oft nur wie eine Verlegen- heitslösung wirkt, dort aber kaum jemals zur Kompositionsgrundlage 40 wird. In der Prosa ist dasselbe möglich (z.B. in der Erzählung 'Schnee auf dem Kilimandscharo'), nur daß im Hörspiel die vor- und zurückgezo- genen Elemente nicht als innerer Monolog, sondern als Handlung darge- stellt werden. Das Hörspiel kann den Menschen in einem entscheidenden, existenziel- 45 len Augenblick zeigen, diesen Augenblick in eine reale oder irreale Handlung ausweiten, die fast das ganze Hörspiel erfüllt, und dann wie- der zum Ausgangspunkt zurückkehren. Oder es kann eine Handlung gerad- linig vorwärtsführen, die Schürung oder Auflösung des Konflikts aber plötzlich durch eine Handlung der Vergangenheit einleiten. 50 Die Assoziationskraft Ein anderes Wesensmerkmal des Hörspiels ist die starke Assoziations- kraft, die von seinen Worten und Geräuschen ausgeht. Das Wort, das uns in der privaten Umwelt unseres Zimmers anspricht, regt in uns weit- greifendere Assoziationen an als das gelesene Wort oder das Wort von 55 der Bühne. Noch bedeutungsvoller als das Wort kann das Geräusch sein, wenn es richtig und sparsam, nicht als überflüssige Begleitung des Dialogs, sondern als key sound angewandt wird: Zu Beginn einer Hörspielszene hören wir eine Schiffsirene, und sofort stellen sich in unserer Phan- 60 tasie, ohne daß sie im einzelnen bewußt zu werden brauchen, Bilder ein wie Schiff, Nebel, Reise, Hafen, Meer, Wellen, Horizont, Wind, ferne Küste, Insel. Das Bühnenbild würde solche Assoziationen unmöglich ma- chen; auch der Dialog des Hörspiels engt sie ein, aber sie schwingen dennoch unter der Szene lange mit. 65 Der Dialog kann die Assoziationen aber auch in eine bestimmte Richtung lenken. Bekannt ist folgendes Experiment: man zerdrückt vor dem Mikro- phon langsam ein Stück Zellophanpapier, während eine Frau ruft: "Das Haus brennt!" - Der Hörer glaubt, die Flammen zu hören, ja, zu sehen. Man zerdrücke das Papier vor dem Mikrophon nun in der gleichen Weise, 70 und dieselbe Stimme sage dazu: "So regnet es schon den ganzen Tag." Am Lautsprecher hört, ja sieht man den Regen unaufhörlich auf die Dächer prasseln, selbst wenn das Geräusch schon längst verstummt ist. Und wenn der Regen aufhören soll, muß man das Prasseln noch einmal "heraufholen" und ganz deutlich ausblenden. 75 Das Geräusch, real oder musikalisch umgesetzt, kann im Hörspiel weit mehr als im Theater die Handlung fortführen, erklären oder vertiefen, stärker als dies durch direkte Aussage im Dialog möglich ist. Die Phantasie des Hörers braucht nur durch den Text in die Richtung des auch als Symbol verwendbaren Tons gelenkt zu werden. 80 Ein Mann fragt: "Schweigt Ihr Gewissen dazu?" "Ich habe ein gutes Gewissen." "Und wenn Sie nachts allein sind? Hören Sie es dann nicht?" "Was soll ich hören? Ich weiß nicht, was Sie meinen!" Nach einer kurzen Pause setzt ein monotones Pizzicato ein, jeweils 85 zwei dicht aufeinanderfolgende kurze Noten, gezupfter Baß und hoher Xylophonton, ähnlich dem Geräusch von Tropfen, die in langen Abständen fallen: ein Geräusch, das schon nach kurzer Zeit beunruhigt und quält und das auch später leitmotivartig auftauchen kann und verstanden wird. 90 Um die aufreibende Monotonie des unruhigen Gewissens, die zermürbende, im Gegensatz zum Dialog und zur manifesten Handlung stehende Tätigkeit des Unterbewußtseins auszudrücken, wäre im Roman und auf der Bühne ein größerer Aufwand, jedenfalls aber eine direktere Aussage nötig. Ledig- lich die Oper, vielleicht auch der Film, können mit denselben sparsa- 95 men Mitteln die gleiche intensive Wirkung erreichen. Die innere Bühne Das Hörspiel spricht nur den einzelnen an. Gemeinschaftsempfang eines Hörspiels, was sich immer wieder bei Pressevorführungen erweist, ver- fälscht den Eindruck. Die Technik, das sei den Gebildeten unter ihren 100 Verächtern gesagt, durch die das Hörspiel ja nur möglich wird, hat hier also eine Form entstehen lassen, durch die zwar viele Menschen gleich- zeitig angesprochen werden können, aber nie als Masse, sondern nur als einzelne, nur in ihrem Inneren. Das Hörspiel schließt den Augenmenschen aus; es wirkt daher auch im 105 abgedunkelten Raum stärker als im hellen. Es erregt die Phantasie nur durch das Ohr, das, wie schon Carl Gustav CARUS bemerkte, "der inner- lichste Sinn ist, welcher von den verborgensten Erzitterungen der raum- erfüllenden Erscheinung bewegt wird". Es eignet sich vor allem dazu, die verborgensten Erzitterungen ver- 110 nehmbar zu machen. Haupt- und Staatsaktionen sind nicht seine Sache. Historische, bunte, weit verzweigte Handlungen sind selten mit Glück im Hörspiel behandelt worden. Ein Götz von Berlichingen, Wallenstein, Dantons Tod, Florian Geyer nehmen im Hörspiel leicht den Charakter eines Bilderbogens an. Ein historisches oder soziales Thema wird den 115 Hörer nur ansprechen, wenn es an einem beispielhaften Fall gezeigt wird, der die inneren Regungen der Personen deutlich werden läßt. Die Handlung wird daher meist ins Innere der Personen gelegt, in dem der Konflikt wächst und aus dem heraus er gelöst wird [vgl. oben Zeile 48]. Äußere Handlungsmomente, wie sie sich im Schauspiel etwa aus 120 verlorenen oder gewonnen Schlachten, mißglückten oder erfolgreichen Aktionen ergeben, wirken im Hörspiel zufällig, nicht schlüssig und verstimmend. Die Handlung, die Stimmen müssen enger geführt werden. Ein Hörspiel 'Julius Caesar' wird nie so bunt und mannigfaltig und vielverschlungen sein können wie Shakespeares Schauspiel. Der Autor 125 eines Hörspiels wird vielmehr einen entscheidenden Punkt aus Caesars Leben herausgreifen und darauf die Handlung ausrichten. Die Bühne, auf der das Hörspiel handelt, ist so weit wie die Phantasie des Hörers. Die Beschränkung auf das Akustische ist eher ein Vorteil als ein Nachteil. Sie ist eine Chance, die wir ergreifen müssen. Und 130 wenn es zu Herders Zeit auch noch kein Hörspiel gab, so treffen seine Worte doch auf diese neue Kunstgattung zu: "Wenn die Natur keinen nä- heren Weg an die menschliche Seele wußte als durchs Ohr vermittels der Sprache, und keinen näheren Weg an die Leidenschaft als durchs Ohr vermittels der Schälle, der Töne, der Akzente-Muse (der Tonkunst), 135 welche Eingebungen sind in deiner Hand, um die Physiologie der mensch- lichen Seele zu enträtseln!" Eine optische Darstellung würde das Hörspiel weder vertiefen noch er- weitern, was jeder bestätigen wird, der der Fernsehbearbeitung von Hörspielen gefolgt ist, wo die Handlung plötzlich plump, banal, allzu 140 vordergründig und direkt wurde, was sich aber sofort änderte, wenn man die Augen schloß. Das braucht nun nicht daran zu liegen, daß das Hör- spiel eben plump, banal, vordergründig und direkt war. Alle Verfilmun- gen der Werke HEMINGWAYs wirken ebenso. Es liegt daran, daß es mit der Umsetzung eines Hörspiels ins Optische nicht getan ist und daß Film 145 und Fernsehen eben mit ihren Mitteln die gleiche Assoziationsbreite herstellen und den Zuschauer anregen müssen, die Handlung mit seinem Geiste, seiner Phantasie zu ergänzen. ------------------------ Aufgaben: 1. Listen Sie WÖRTER und (idiomatische) WENDUNGEN des Textes auf und berück- sichtigen Sie dabei die medienspezifische TERMINOLOGIE. 2. Paraphrasieren Sie in Thesen-Form die wichtigsten Gedanken des Autors. 3. Vergleichen Sie das Gesagte mit HÖRSPIELEN, an die Sie sich erinnern. Setzen Sie das Gesagte in Relation mit den Hör- und Filmszenen, die im Unterricht präsentiert und diskutiert werden. Haben Sie, ggf. in ihrer beruflichen Tätigkeit, ergänzende Beobachtungen und Erfahrungen in puncto "Hörspiel" gemacht, die Sie in unsere Diskussion einbringen können? Gibt es - in diesem Sinne - Gesetze/Regeln/Tips, an die der Hörspiel-Autor WICKERT hier nicht gedacht hat? Bereichert das stereophone, besonders das mit dem KUNSTKOPF arbeitende, Hörspiel die Palette der akustischen Möglichkeiten? Wenn ja, wodurch? Haben Sie schon einmal mit blinden Men- schen über deren Empfindungen bei einem Hörspiel gesprochen? Welche aku- stischen Effekte würden Sie am liebsten in Hörspielen einsetzen? Welche Themen /Stoffe würden Sie vorzugsweise zu Hörspielen verarbeiten? (c) WN 18061993