Deutsch im 20. Jahrhundert * Dr. Wolfgang Näser * Mi 16-18, HS 110 Biegenstraße 14 * Beginn 10.4.2002
Wiegand, Julius: Aus: Gesamtüberblick. In: Geschichte der deutschen Dichtung (2. Auflage 1928)
VORBEMERKUNG: Der heute leider kaum noch beachtete Text des fast in Vergessenheit geratenen Literaturwissenschaftlers bietet außer einem interessanten Wortschatz Gedankengänge, die auch heute, achtzig Jahre später, noch lesens- und deshalb diskussionswert sind. Von der Frage ausgehend, was denn das deutsche Wesen sei und worin es sich manifestiere, versucht W. hier einen kritischen, unvoreingenommenen Zugang zur deutschen Dichtungsgeschichte zu finden. Sein Werk, schreibt er zuvor, gliedere nicht nach Personen, sondern nach überpersönlichen Begriffen. Zusammenfassung und Ordnung der unendlichen Vielheit der Erscheinungen sei sein erstes Ziel. Die Motive der Zeiträume zu kennen sei wichtiger als die Kenntnis von Namen und Titeln. Er hoffe, daß seine Querschnittmethode die Verklammerung mit verwandten Wissenschaften fördere. Interessant im letzten Abschnitt sein Parforce-Ritt durch die Entwicklung vom Mittelalter bis zur Gegenwart.
Je allgemeiner und letzthinniger eine Frage ist, desto unsicherer ist die Antwort. Das Wesen eines Volkes zu bestimmen gehört zu den schwierigsten Aufgaben, weil der auf einen Nenner zu bringenden Tatsachen unzählige sind. Die Forschung über deutsches Wesen steht noch in den Anfängen. Wir beschränken uns daher auf die Aufzählung der wichtigsten, von Forschern und Dichtern dem deutschen Charakter zugeschriebenen Eigenschaften, verzichten darauf, sie um einen Kernpunkt zu ordnen.
Waren die genannten Eigenschaften z.T. schon bei anderen Völkern anzutreffen, so eignen die folgenden entweder auch anderen westeuropäischen Völkern, oder es ist unsicher, ob sie überhaupt zum deutschen Wesen gehören. Das erste gilt sicher für Formeln wie "Wille zur höchsten ethischen Stoßkraft und zum heldischen Leben". Das zweite gilt z.B. für die angeblich undemokratische Art der Deutschen, der schon das Thing der Germanen widerstreitet. Vorliebe für Unluststimmungen, Empfindsamkeit kennzeichnet nur einen bestimmten, späten Zeitabschnitt. Die Mannigfaltigkeit der Eigenschaften, das Vorhandensein widersprechender Züge dürfte nicht stärker sein als bei den Franzosen, Engländern, Amerikanern. Das Rauschhafte, das Betäubungsuchen im Rausch widerspricht der oben angenommenen mittleren Gefühlslage. Diese Eigenheit ist erfunden, um Barock und Gotik als Auswirkung derselben Geisteshaltung zu deuten und diese beiden fremden Stile als besonders deutsch hinzustellen. Man will diesen Wesenszug schon in der unendlichen Linie des germanischen Flechtornaments sehen, hält sich vor allem an den früher verkannten Grünewald. Nachdem die Verwandtschaft von deutscher Gotik und deutschem Barock entdeckt war, erfand man den gotischen Menschen, dessen Erlösungssehnen im Gefühlsrausche Befriedigung sucht. Dann hat man in Faust das Urbild dieses gotischen Menschen entdeckt und den faustischen und den deutschen Menschen gleichgesetzt. Man schrieb dem Deutschen den faustischen Drang zu, "alles zu ergreifen, zu werden, ohne anderes dafür aufzugeben", einen Mangel an Selbstbegrenzung (der aber wohl nur in der Politik festzustellen ist). Man brachte die musikalische Natur damit in Verbindung, stellte dem faustischen den apollinischen Menschen entgegen; der sei ruhig, abgeklärt, maßvoll, von der Vernunft beherrscht, ästhetisch. Er werde durch die Griechen oder auch die Romanen vertreten. Und so entpuppt sich diese Formel als zurückgehend auf Nietzsches Unterschied von apollinisch und dionysisch. - Die unendliche Entwicklungsfähigkeit hat Nietzsche dem Deutschen zugewiesen, indem er sagte, der Deutsche sei nicht, er werde. Vollendungssehnsucht und ewige Werdefähigkeit sind aber so unbestimmte Begriffe, daß sie fast jedes Volk in Anspruch nehmen kann. Man hat in diesem Zusammenhang die Vorliebe der Deutschen für den Entwicklungs- und Bildungsroman angeführt. Vielleicht genügt zur Erklärung dieser Tatsache schon das Grüblerische und die Gründlichkeit und das Eigenbrötlerische. Den Entwicklungsromancharakter des Parzival und Simplizissimus hat man entschieden übertrieben. Bestreitbar ist auch der berühmte Satz: "Deutsch sein, heißt eine Sache um ihrer selbst willen lieben."
Zurückgestellt haben wir noch die angebliche deutsche Formlosigkeit, weil sie für eine Geschichte der Dichtung die wichtigste Eigenschaft ist. Sie steht im Zusammenhang mit dem Rauschhaften, ewig Sehnsüchtigen, Titanischen, Eigenbrötlerischen. Die quellende Fülle der Geschichte könne der Deutsche nicht in feste Formen ballen, sagt Dehio. Man hat dem Verneinenden des Vorwurfs eine bejahende, preisende Wendung gegeben, indem man sagte, der Deutsche habe keine feste Form, sondern erschaffe jedem Inhalt neue, eigene, innere, "organische" Form, während die romanische Form etwas vor der Gestaltung bereits Gegebenes sei. Man denkt bei dieser "organischen" Form an Sturm und Drang, romantische Romane, an die Dramen Arnims, Büchners, Grabbes, Wedekinds. Dem Vorwurf der deutschen Formunsicherheit ist aber die Formsicherheit der deutschen Musik von Bach bis Reger entgegenzuhalten. Die Lösung des Widerspruchs ergibt sich wohl daraus, daß sich Zeiten lockerer und strengerer Form bei allen Völkern ablösen. Schon der Nibelungendichter ballte die Handlung straff um den Mittelpunkt Kriemhilde; und Oskar Hagen weist auch wieder darauf hin, daß Einheitlichkeit des Blickpunktes, der Idee bei deutschen Meistern vorwalte: Einturmanlagen der Burgen usw. Das Mittelalter, das die Antike nur oberflächlich kannte, war auch bei Franzosen und Engländern eine Zeit lockerer Form (Passionsspiele, durch Aneinanderfügung entstandene Romane und Volksbücher). Zu den Zeiten lockerer Form gehören ferner Barock, Sturm und Drang, Romantik, Naturalismus und Ausdruckskunst; also die Zeiten, in denen das Ekstatische und Gefühlvolle den klügelnden Formverstand überwiegt. Daß die Deutschen keine Form wie Sonett und Kanzone erfanden, liegt einfach an der Reimarmut ihrer wurzelbetonenden Sprache. Da die Germanen die mittelalterliche Überlieferung nie so schroff beseitigten (Shakespeare) wie die in den Römern ihre Vorfahren erblickenden Romanen, da den politisch zurückgebliebenen Deutschen das Mittelalter in höherem Maße verehrungswürdig erschien, tritt die lockere Form bei ihnen zunächst mehr hervor, bis in der Eindrucks- und Ausdruckskunst auch die Romanen sich wieder zur lockeren Form zurückfinden.
Zu den Verstößen gegen die strenge Form gehört auch das liebevolle Verweilen bei Einzelheiten, wodurch die Einheit des Aufbaus oft gesprengt wird. Das gilt für viele altdeutsche Bilder, auch für Dürer, aber auch für den "Faust" und Jean Paul und die Romantik. Ob indessen "Stellendichter" bei anderen Völkern weniger häufig sind, das bedürfte erst näherer Untersuchung.
Unter den allgemeinen Eigenschaften des deutschen Wesens läßt sich also kaum ein Begriff finden, der die Geschichte der deutschen Dichtung zu gliedern imstande wäre, außer dem Gegensatz von fester und lockerer Form, der Einwirkung fremder Völker und dem Kampf zwischen Germanentum und Mittelalter einerseits und Antike andererseits. [...]
Bei der Beurteilung der deutschen kultürlichen Gesamtleistung ist nicht zu vergessen, daß in Zeiten dichterischen Tiefstandes sehr wohl andere Kulturzweige blühen können, so wie mit der Dichtungsblüte große Leistungen auf anderen Gebieten sich vereinigen können.
Im deutschen Mittelalter ist die führende Kunst die Baukunst: Romanik und Gotik, Kirchen, Klöster, Kreuzgänge, Paläste, Burgen und später Rathäuser. Die Stauferzeit vereinigt Blüte der Dichtung und der romanischen und frühgotischen Baukunst und der Plastik. Die Mystik sieht auch die großen gotischen Dome entstehen. Musik ist damals nur Vokalmusik und ist mit Dichtung eng verbunden (Minnesang). Die Tafelmalerei leistet Großes erst im 15. Jahrhundert: Lochner; vielleicht kann man auch die von der Renaissance berührten flämischen Brüder van Eyck hierherrechnen (Gent ist damals noch unbestritten germanisches Gebiet) und sicher den deutschen Memling. In derselben Gegend blüht um diese Zeit die polyphone Musik durch Okeghem, Isaak und Hobrecht. Um 1500-1530, zur Zeit von Maximilians außenpolitischen Erfolgen, stehen Malerei und Plastik durch Grünewald, Dürer, Holbein, Kraft und Vischer weit über der Dichtung. Die sogenannte deutsche Renaissance hat um 1600 die wunderbaren Bürger- und Rathäuser der altdeutschen Städte geschaffen, durch Mischung von Fremdem mit Einheimischem, von Gotik und Renaissance. Das Barock ist Deutschlands reichste Bauzeit; trotz der ausländischen Herkunft des Stils haben Deutsche wie Neumann in Würzburg und Fischer von Erlach in Wien die beseelten Bauten geschaffen. Die Malerei derselben Zeit ist schwach wie die Dichtkunst. Das Rokoko hat in Deutschland nur Porzellankunst von europäischem Ruf hervorgebracht (Kändler). Gleichzeitig mit dem Aufstieg der Dichtkunst beginnt der Aufstieg der deutschen Musik durch Bach, Händel (Barock), Haydn, Mozart (Rokoko), Beethoven (Sturm und Drang), Gluck (Klassik), Weber, Schubert, Schumann, Wagner (Romantik). Zur selben Zeit erklimmt die deutsche Philosophie die höchsten Höhen durch Kant, Fichte, Schelling, Hegel und Schopenhauer; so daß damals Denken, Dichten, Musik gleichzeitig blühten. Die Musik ist die Kunst geworden, die deutschen Geist am nachhaltigsten in alle Welt getragen hat. Hingegen konnte die deutsche Malerei des 19. Jahrhunderts trotz der (auch in Deutschland erst spät entdeckten) Koch und Friedrich, trotz Cornelius, Schwind und Spitzweg, trotz Feuerbach und selbst Böcklin keine Weltgeltung sich erringen. Im Geistesleben gibt es keine Gerechtigkeit. In der neuesten Zeit haben in Deutschland Physik, Chemie, Technik den Sieg über die Künste davongetragen. Die Künste bewegen sich (bis auf Nietzsche und Richard Strauß und die monumentale Baukunst der Behrens und Messel) in den Bahnen Gesamt-Europas. Damit soll nicht ohne weiteres abgesprochen werden. So gut wie Balthasar Neumann im fremden Barock deutsche Werke schaffen konnte, so gut kann sich einst herausstellen, daß G. Hauptmann mit Flaubert, Zola, Dostojewski in einer Reihe steht. - Alles in allem zeigt es sich, daß es gänzlich leere Zeiten in Deutschland nie gegeben hat.
Wird ergänzt * Die beiden unteren Bilder entstammen dem Anhang
des Buches und wurden von mir dem letzten Absatz hinzugefügt, um die
hier beschriebene Zeitspanne noch mehr zu verdeutlichen.
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