Übungen zur schriftlichen Kommunikation
Dr. Wolfgang Näser, WS 2000/2001
Gruppe 2: Textbetrachtung und kreatives Schreiben

Text 3: Zeitungssprache, Glosse  "Das Streiflicht"
(aus: Süddt. Zeitung, 16. November 2000; hier Anordnung in numerierten Sätzen)

  1. Wenn das Leben tranig wird im feuchten Herbstnebel, wenn sich die trüben Sonn- und Feiertage häufen und die Sonne sinkt und sinkt und sinkt, wenn das Laub unter schweren Schritten um die Füße raschelt, dann ist sie da, die Zeit des Lebertrans.
  2. Oleum Jecoris, der Leber von Dorschen, Heilbutten oder Thunfischen abgewonnen, fett, in der Farbe gelblich und – keineswegs schwach, wie manche Nachschlagewerke und Apotheker behaupten – nach Fisch riechend.
  3. Igittigitt.
  4. Im winterdunklen skandinavischen Norden wird Lebertran gegen die Vitamin D abbauende Düsternis und die ihr folgenden Depressionen eingesetzt.
  5. Sei’s drum.
  6. Ekel, Widerwille, Widerstand – hilft nichts, der Lebertran, ob mit oder ohne Orangenversatz, muss rein wegen der Vitamine A, E und D.
  7. So manches Kind fällt, weil die lieben Eltern in sanfter Vergewaltigung gar kein Erbarmen kennen, nach dem Löffel Lebertran in Trauer, ist beleidigt, verschließt sich und fürchtet sich schon vorm nächsten Mal.
  8. Kinder weinen und schreien, wenn Wellensittich Hansi oder Meerschwein Rolf zu Grabe getragen werden.
  9. Frauen können das auch und tun es.
  10. Aber Männer?
  11. Die gehen nicht zum Grab, sagt Theologe und Therapeut Martin Klumpp, die trauern einsamer, haben ihre ureigenen Orte.
  12. Manche geraten in Rage und schlagen die Wohnung kaputt oder die Familie zusammen;
  13. andere schleichen sich ins Stadion, um heimlich unter die Tränen über die Niederlage die der eigenen Traurigkeit zu mischen.
  14. Wieder andere steigen nachts ins Auto, fahren nach Grünwald ans Steilufer und schauen starren Blickes und verwirrten Verstandes auf die Isar.
  15. Einige suchen Bars und ihre Theken auf, um so tief ins Glas zu schauen, bis sich endlich ihre Zunge löst und sie Elke mit dem großen Herzen hinter dem Tresen ihren ganzen Jammer vorkauen.
  16. Dieser zieht sich ins Dunkel seines Schlafzimmers zurück, jener joggt, bis die Zunge aus dem Halse hängt,
  17. das soll beruhigen, den Schmerz lindern.
  18. Der Therapeut spricht von „dichterer Abschrankung“ zwischen rationaler Selbststeuerung und „emotional fließendem Innenkern“, von Vorsicht beim Gang in den „Keller der Gefühle“.
  19. Aber eigentlich haben die Kerle Angst, dass da unten am Boden der Trauer noch „ein ganzes Meer von nicht getrauerter Trauer“ auf sie wartet.
  20. So ist das also, Lebertran kann Trauer nicht ersetzen:
  21. All die einsamen Schwammerlsucher im Wald, die keuchenden Jogger in den Parks, die selbstvergessen nasenbohrenden Autofahrer an den Steilhängen und an den Ampeln dieses Landes, womöglich der Welt, sind Männer an den Orten ihrer Trauer.
  22. Einsam im Keller ihrer Gefühle, wo kein Lachen zu hören ist.
  23. Und für manchen gilt noch immer das Dichterwort: Er „wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben und .  .  .  in den Alleen hin und her unruhig wandern.“
  24. Trauern ist nicht lustig.

Aufgaben:

  1. Erstellen Sie eine Liste aller unbekannten Wörter und Wendungen
  2. Setzen Sie den Text in die Indirekte Rede (reported speech)
  3. Analysieren Sie Inhalt und Stil: was wird wie berichtet /glossiert? Wie wird der Herbst charakterisiert?
  4. Kreatives Schreiben: entwerfen Sie selbst eine kleine Geschichte zum Herbst und formulieren Sie darin persönliche Erlebnisse und Eindrücke.

(c) Anordnung und Aufgaben: W. Näser 16.11.2000