Übungen zur schriftlichen
Kommunikation
Dr. Wolfgang Näser, WS 2000/2001
Gruppe 2: Textbetrachtung und kreatives
Schreiben
Text 4: Zeitungssprache, Essay:
Die Leitkultur-Diskussion ist für hochmobile Leistungsträger wenig
lebensnah
In einer neuartigen, vermischt-beweglichen Gesellschaftsordnung werden die
Merkmale herkömmlicher nationaler Zugehörigkeiten keine entscheidende
Rolle spielen
Von Hubert Markl (DIE
WELT, 17.11.2000; hier: Anordnung nach numerierten
Sätzen)
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Nicht alles, was wahr und wichtig ist, lässt
sich klar und eindeutig definieren.
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Manches, wovon man meint, es gut zu kennen, verschwindet,
wenn man es mit Begriffen fassen will - wie Wolken am Himmel, so unverkennbar
und doch schwer abzugrenzen.
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Steckt man mitten in ihnen, gelingt dies gar nicht
mehr.
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So scheint es derzeit auch mit der "deutschen Leitkultur" zu gehen.
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Liest und hört man, wer alles dagegen eifert, dann möchte man fast
allein deshalb dafür sein.
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"Deutsche Leitkultur", das müsste das sein, was Fremde nicht nur zu
uns kommen lässt, um hier auf Zeit oder Dauer ihren Geschäften
nachzugehen, sondern was sie so anzieht, dass sie Teil dieser deutschen
Kulturgemeinschaft werden wollen.
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Der Theologe Richard Schröder hat es auf den Punkt gebracht, dass jede
Kultur etwas Bestimmtes, aber nichts Besonderes sei.
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Ich meine, andersherum wäre es richtiger:
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jede etwas Besonderes, obwohl so schwer bestimmbar ist, was sie ausmacht.
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Und diese Besonderheit einer im geschichtlichen Prozess gewachsenen Lebensform
einer Menschengemeinschaft muss es sein, der man sich als Hinzugekommener
nach einiger Zeit und einem gehörigen Lernprozess - von Sprache,
gesellschaftlicher und politischer Ordnung, Sitten und Gebräuchen -,
so zugehörig fühlt, dass man dies auch rechtsverbindlich beurkunden
möchte.
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Die Verfassung muss man dafür wohl gar nicht so genau kennen - sonst
wären wir schon heute ein recht kleines deutsches Volk.
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Die Sprachkenntnis allein kann kein Prüfstein sein, denn dafür
sprechen viel zu viele - in Deutschland und anderswo - sehr gutes oder doch
passables Deutsch, die deshalb noch lange keine Deutschen werden wollen.
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Und was Kultur im engeren Sinn betrifft: Wer traute sich da wohl, auch nur
die bescheidenste Messlatte an eine große Zahl von angestammten Deutschen
anzulegen?
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Oder sollte gar als Härtetest gefordert werden, monatlich einmal einen
deutschen Volksmusikfernsehabend oder einen Komödienstadel
durchzustehen?
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Deshalb wird man die Befürchtung nicht los, über die deutsche
Leitkultur werde deshalb so gestritten, damit man über andere Themen,
die uns zu härteren, unbeliebt machenden Konsequenzen zwingen könnten,
umso weniger sagen müsse.
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Zum Beispiel, wie es denn gehen soll, ganzen Rentnergenerationen eine immer
früher beginnende und immer länger ausgedehnte Altersversorgung
zu garantieren, obwohl diese in jungen Jahren keineswegs mit eigenen Kindern
dafür gesorgt haben, dass dies möglich bleibt.
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Wenn nicht alles täuscht, könnte sich künftig die Frage
notwendiger Zuwanderung von Ausländern ins selbstentvölkernde
Deutschland durchaus anders stellen.
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Es ist nämlich fraglich, ob jene, auf deren Zuwanderung es für
die Leistungsfähigkeit unserer Gesellschaft ankommen wird, im
freizügig vereinten Europa und in der global verflochtenen Bildungs-,
Forschungs- und Wirtschaftswelt überhaupt ihr Lebensglück darin
suchen werden, Deutscher zu werden.
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Gerade für jene Zuwanderer, die wir künftig am dringendsten
benötigen - Fachkräfte aller Art, von Kunst und Medien bis zu Forschung
und technischer Entwicklung -, wird es immer weniger darum gehen dürfen,
unter welchen Bedingungen wir ihnen die deutsche Staatsbürgerschaft
gewähren wollen, als darum, wie wir unsere Gesellschaft so weltoffen
und menschenfreundlich fortentwickeln können, dass sich Menschen gleich
welcher Kulturherkunft, gleich welcher Religion, gleich welcher Hautfarbe
und welchen Geschlechts, gerade auch Familien, die bei uns Kinder aufziehen
wollen, bei uns wohl und willkommen fühlen.
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Unsere viel besagte Leitkultur sollten wir ihnen allenfalls überzeugend
anbieten und vorleben, nicht aber aufdrängen.
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Wir müssen uns daher viel eher darauf vorbereiten, dass wir in einer
neuartigen, höchst vermischt-beweglichen Gesellschaftsordnung leben
werden, in der Menschen verschiedener nationaler Herkunft und kultureller
Prägung auf Zeit Bedingungen zur Verwirklichung ihrer Lebenspläne
suchen, in denen die Merkmale herkömmlicher nationaler Zugehörigkeiten
keine entscheidende Rolle mehr spielen.
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Wer als junger Wissenschaftler aus Russland nach Deutschland kommt, um
später in Kanada eine Familie zu gründen, mit der er dann vielleicht
anschließend in Dänemark - oder hoffentlich auch wieder in Russland
- lebt, den können wir mit den Integrationsrezepten klassischer
Einwanderungsländer nicht mehr ansprechen.
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Wir sollten auch alles tun, dass solche Nationen, die ihre jungen Leute auf
Zeit zu uns entsenden, darauf vertrauen können, dass sie dafür
auch wieder auf den Vorteil der Rückwanderung erfahrener
Leistungsträger hoffen können.
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Beides, die Hin- wie die Rückwanderung, sollte beiden Nationen nützen,
nicht nur uns.
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Die Leitkultur-Diskussion ist für hochmobile Leistungsträger wenig
lebensnah.
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So wie heute schon für Sportler, Künstler, Wissenschaftler, Global
Players multinationale Lebensstile normal sind, könnte das in wenigen
Jahrzehnten im vereinten Europa Lebensalltag für viele sein.
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Der Biologe Hubert Markl ist Präsident der Max-Planck-Gesellschaft.
Anmerkungen und Aufgaben
In mehrfacher Hinsicht (Lexik, Phraseologie, Syntax / Stilistik) ist dieser
Text ebenso schwierig (anspruchsvoll) wie interessant. Die Textbetrachtung
sollte folgende Aufgaben einschließen:
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Erfassung und Analyse des Wortschatzes und der Idiomatik, auch
nach Sachgruppen; welche Wörter bzw. Wendungen sind für
den Text konstitutiv (bestimmend)? Gibt es sprachliche Mittel, mit
denen der Autor provoziert, um eine Diskussion anzuregen?
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Analyse der Syntax: Satzarten, Satzlänge, Nebensatztypen;
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Inhaltliche Paraphrase bzw. Wiedergabe des Inhalts in Form von kurz
gehaltenen Thesen. Welche Möglichkeiten gibt es, das hier Ausgesagte
anders zu formulieren? Hier auch übungshalber der Versuch, den gesamten
Text in die Indirekte Rede umzusetzen.
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Diskussion: wie stehe ich zu dem, was Professor Markl hier erörtert?
Wie hält es mein Land mit den Fragen der Einwanderung, der "Leitkultur"
und dem "Global Playing"?
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Didaktisierung: welche Elemente und Aussagen des Textes eignen sich
für die Konzeption einer Lehr-Einheit für das Fach "Deutsch als
Fremdsprache"?
Diese Fragen können auch in Gruppen bearbeitet werden.
Anordnung und didakt. Konzeption: (c) Dr. W. Näser, 17.11.2000