Übungen zur schriftlichen Kommunikation
Dr. Wolfgang Näser, WS 2000/2001
Gruppe 2:
Textbetrachtung und kreatives Schreiben

Text 1: Zeitungssprache

Heilloses Land

Israel und Palästina: Nur die Trennung ermöglicht Frieden * Von Josef Joffe*)  

Übungstext mit numerierten Sätzen

  1. Waffenstillstand geschlossen, Frieden gerettet?
  2. So einfach sind die Dinge nicht mehr seit dem jüngsten Krieg in Nahost.
  3. Krieg?
  4. Eine Intifada mit Steinen und Benzinbomben wie die von 1987 bis 1994 war das nicht mehr.
  5. In den besetzten Gebieten sahen sich die Israelis zum ersten Mal mit einer richtigen Truppe konfrontiert: mit "Polizisten" als Protoarmee.
  6. Ganz gleich, ob der Waffenstillstand von Scharm asch-Scheich hält oder nicht, gilt es für alle Haupt- und Nebenakteure, Abschied zu nehmen von Illusionen - oder sie zumindest am kalten Realitätssinn zu messen.
  7. Die klassische Formel "Land für Frieden" ist tot, jedenfalls so tot wie ein Samenkorn im arktischen Frost.
  8. Gewiss: Noch letzte Woche haben fast zwei Drittel der Israelis für die Rückkehr zum Verhandlungstisch plädiert.
  9. Worüber aber soll verhandelt werden?
  10. Über die Schuldfrage?
  11. Die ist schnell beantwortet.
  12. Oppositionsführer Scharon hat mit seinem Tempelberg-Ausflug gezielt ein Streichholz geworfen.
  13. Aber Arafats Palästinenser haben geradezu darauf gewartet, provoziert zu werden - wie eine Benzinlache, die nach dem Funken lechzt.
  14. Der Protokrieg war denn auch generalstabsmäßig vorbereitet.
  15. Wer war noch schuld?
  16. Ehud Barak, der mit exzessiver Gewalt geantwortet hat, obwohl er sich ausrechnen konnte, dass seine Armee an vorderster Front auf Halbwüchsige treffen würde;
  17. welcher Palästinenser wird je das Bild von dem erschossenen Jungen vergessen?
  18. Ferner seine Siedler, die auf Palästinenser losgegangen sind;
  19. Assad junior, der es der Hizbullah erlaubt hat, im Norden Israels die gefährlichste Front überhaupt zu eröffnen;
  20. Mubarak, der Ägypter, der viel zu spät seine Autorität in die Waagschale der Mäßigung geworfen hat;
  21. Saddam Hussein, der seine Elite-Truppen westwärts verlegt hat;
  22. Jacques Chirac, der - wahnwitzig - Arafat ermuntert hat, einen früheren US-Waffenstillstandsvorschlag zu verwerfen.
  23. Damit hat er die EU als Vermittler in Scharm diskreditiert;
  24. umso besser, dass Kanzler Schröder nun doch an seinem Plan festhält, am Monatsende den Nahen Osten zu bereisen, um so ein Stück Glaubwürdigkeit für Europa zurückzugewinnen.
  25. Doch wer in Nahost Schuld aufrechnet, landet rasch beim Obersten Landesverweser, der vor rund 3500 Jahren den Kindern Israels Kanaan zusprach.
  26. Wo sich Gott und Glauben mit Land und Legitimität verquicken, geht es schneller in die Hölle als in den Himmel;
  27. an beiden Orten gibt es keine Verhandlungstische.
  28. Jassir Arafat hat nun in Scharm asch-Scheich seine Untersuchungskommission bekommen, Ehud Barak ein droit de regard über ihr Urteil.
  29. Das mag einstweilen die Gemüter beruhigen;
  30. vorwärts bringen wird es Israelis und Palästinenser kaum.
  31. Das Problem, das dieser Protokrieg wie ein Blitz erhellt hat, ist der Fluch der "konzentrischen Belagerungsringe".
  32. Im kleinsten Kreis sitzen die Palästinenser, übrigens auch die arabischen Israelis als Bürger zweiter Klasse - eingeschlossen von der regionalen Supermacht Israel im zweiten Ring.
  33. Doch just dahinter dräut der dritte Ring, die arabische Welt.
  34. Schließlich der vierte: die muslimische umma, die von Marokko nach Indonesien reicht.
  35. Wer dann wen als Opfer oder Aggressor sieht, hängt davon ab, aus welcher Belagerungszone er wohin blickt.
  36. Wenn Mubarak (wie in Scharm asch-Scheich) die israelische Gewalt als "Aggression gegen die Schwachen" brandmarkt, dann vergisst er, wie dieser hoch gerüstete High-Tech-Nachbar die Welt sieht: hier Syrien, das die Hizbullah in die Offensive ziehen lässt; dort der Irak, der mit dem großen Krieg spielt; hier Ägypten, das allenfalls einen "kalten Frieden" gewährt; dort Libyen, das den Dschihad predigt; weiter weg Iran, der die Hizbullah munitioniert, obwohl sich die Israelis aus dem Südlibanon zurückgezogen haben.
  37. Doch ist Politik nicht Psychotherapie, die ihre Patienten die richtige Interpretation der Wirklichkeit lehren könnte.
  38. Der Vergleich ist überhaupt falsch, weil die Kombattanten (abgesehen von den vernebelten Gotteskriegern auf beiden Seiten) gar nicht so verrückt sind, wie sie sich den Anschein geben.
  39. Es geht um so handfeste Dinge wie Sicherheit, Sektoren und Souveränität.
  40. Und dann um Illusionen und Fehlkalkulationen.
  41. Die Israelis haben sich nach dem Jom-Kippur-Krieg, den sie erst in der Schlussphase gewinnen konnten, gegenüber Kairo zu der Formel "Land für Frieden" durchgerungen.
  42. Das war das Ende der Illusion "Land und Frieden".
  43. Nach der siebenjährigen Intifada haben sie Abschied nehmen müssen von "Herrschaft und Frieden";
  44. es begann der lange "Oslo-Prozess" mitsamt Arafat-Rabin-Handshake, der in diesem Sommer in Camp David endete.
  45. Jetzt werden sie sich wohl von einer dritten, wiewohl freundlicheren Illusion trennen müssen: dass sie wie weiland die geteilten Deutschen vom Gegen- über das Neben- zu einem Miteinander mit Palästina gelangen können.
  46. Dieser Gewaltausbruch kam nicht wie die Intifada vor dem Friedensprozess, sondern nachdem Arafat ihn in Camp David abgebrochen hatte, obwohl Barak so weit gegangen war wie noch keiner seiner Vorgänger: 92 Prozent des Westjordanlandes plus ein Stück Israel als Kompensation, Entschädigung für arabische Flüchtlinge, Jerusalem als doppelte Hauptstadt.
  47. Arafat ließ den Prozess platzen, weil ihm (wie auch manchem jüdischen Eiferer) der Himmel wichtiger war als das Hernieder:
  48. Er wollte die ungeteilte Kontrolle über den Tempelberg, der leider auch das höchste Heiligtum der Juden - die Klagemauer - beherbergt.
  49. Dazu kommt die hässliche Begleitmusik, die Israelis über den offiziellen palästinensischen Rundfunk hören können - wie zum Beispiel diese Freitagspredigt aus Gaza: dass man "mit Juden und Christen keine Übereinkunft schließen", dass man "nie Haifa, Galiläa und Jaffa vergessen" dürfe.
  50. Mag sein, dass jüdische Zeloten Ähnliches predigen, doch erhalten sie dabei nicht die Imprimatur der "Stimme Israels".
  51. Auch die vernünftigen Israelis - jene 63 Prozent, die sich die Rückkehr an den Verhandlungstisch wünschen - müssen nun befürchten, dass sich "Land für Frieden" in "Land für nichts" verwandelt hat.
  52. Aus der Intifada von 1987 bis 1994 haben sie die richtige Lehre gezogen: "Wir können die Palästinenser nicht beherrschen."
  53. Nun, da sie in die verzückten Gesichter des Lynchmobs von Ramallah geblickt haben, könnten sie sehr wohl hinzufügen: "Und Frieden können wir mit ihnen auch nicht machen."
  54. Aus diesem mörderischen Paradox könnte vielleicht doch noch ein Weg herausführen.
  55. Er hieße "Land für Stabilität".
  56. Die Israelis könnten ihn unter einer Regierung der nationalen Einheit ganz alleine beschreiten, indem sie sich einseitig vom Westufer auf verteidigungsfähige Positionen zurückziehen.
  57. Die meisten der 150 000 Siedler leben ohnehin dicht an der "grünen Linie", also in jenen acht Prozent des Westjordanlands, die Barak in Camp David behalten wollte.
  58. Das heißt: Israel müsste die Siedlungen tief im Westjordanland, die sich nachgerade zu einem biblischen Fluch summieren, aufgeben oder den Eiferern dort bedeuten: "Wenn euch der Boden so heilig ist, dann sollte euch der Dienst an Gott wichtiger sein als der Anblick der palästinensischen Flagge."
  59. Unmöglich?
  60. Vergessen wir nicht, dass es eine rechte Regierung (unter Begin) war, die je israelische Siedlungen geräumt hat.
  61. Jerusalem?
  62. Nachdem Barak sich ohnehin schon zur Aufteilung der "einen und einzigen Hauptstadt" durchgerungen hat, kann er den nächsten Schritt auch einseitig tun.
  63. Nach Ostjerusalem geht seit Jahren ohnehin kein Israeli mehr;
  64. warum nicht de jure besiegeln, was schon de facto der Fall ist.
  65. Der Tempelberg?
  66. Die Klagemauer bleibt bei Israel, der Rest gehört, wie in der Praxis heute schon, dem Islam.
  67. Das wäre kein Frieden, aber ein existenzielles Mehr an Stabilität und ein erkleckliches Minus an Reibungsflächen für Zündhölzer aller Art - in einer Region, die seit 4000 Jahren nur Pausen zwischen zwei Kriegen kennt.
  68. Erst wenn jeder halbwegs sicher vor dem anderen ist, können beide halbwegs realistisch über den Frieden reden, der in diesen Tagen zur Chimäre verkommen ist.

*) Zur nichtkommerziellen (d.h. intern-didaktischen) Verwendung aus: DIE ZEIT 43/2000 (25.10.2k)
    Satz-Aufteilung und Hervorhebungen (in blau) von mir, W.N.