Übungen zur schriftlichen
Kommunikation
Dr. Wolfgang Näser, WS 2000/2001
Gruppe 2: Textbetrachtung und kreatives
Schreiben
Text 1: Zeitungssprache
Heilloses Land
Israel und Palästina: Nur die Trennung ermöglicht Frieden *
Von Josef Joffe*)
Übungstext mit numerierten Sätzen
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Waffenstillstand geschlossen, Frieden gerettet?
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So einfach sind die Dinge nicht mehr seit dem jüngsten Krieg in Nahost.
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Krieg?
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Eine Intifada mit Steinen und Benzinbomben wie
die von 1987 bis 1994 war das nicht mehr.
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In den besetzten Gebieten sahen sich die Israelis zum ersten Mal mit einer
richtigen Truppe konfrontiert: mit "Polizisten" als
Protoarmee.
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Ganz gleich, ob der Waffenstillstand von Scharm asch-Scheich hält oder
nicht, gilt es für alle Haupt- und Nebenakteure, Abschied zu nehmen
von Illusionen - oder sie zumindest am kalten Realitätssinn zu messen.
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Die klassische Formel "Land für Frieden" ist tot, jedenfalls
so tot wie ein Samenkorn im arktischen Frost.
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Gewiss: Noch letzte Woche haben fast zwei Drittel der Israelis für die
Rückkehr zum Verhandlungstisch plädiert.
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Worüber aber soll verhandelt werden?
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Über die Schuldfrage?
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Die ist schnell beantwortet.
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Oppositionsführer Scharon hat mit seinem Tempelberg-Ausflug
gezielt ein Streichholz geworfen.
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Aber Arafats Palästinenser haben geradezu darauf gewartet, provoziert
zu werden - wie eine Benzinlache, die nach dem Funken
lechzt.
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Der Protokrieg war denn auch generalstabsmäßig vorbereitet.
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Wer war noch schuld?
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Ehud Barak, der mit exzessiver Gewalt geantwortet hat, obwohl er sich ausrechnen
konnte, dass seine Armee an vorderster Front auf Halbwüchsige treffen
würde;
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welcher Palästinenser wird je das Bild von dem erschossenen Jungen
vergessen?
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Ferner seine Siedler, die auf Palästinenser losgegangen sind;
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Assad junior, der es der Hizbullah erlaubt hat, im Norden Israels die
gefährlichste Front überhaupt zu eröffnen;
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Mubarak, der Ägypter, der viel zu spät seine Autorität
in die Waagschale der Mäßigung geworfen
hat;
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Saddam Hussein, der seine Elite-Truppen westwärts verlegt hat;
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Jacques Chirac, der - wahnwitzig - Arafat ermuntert hat, einen früheren
US-Waffenstillstandsvorschlag zu verwerfen.
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Damit hat er die EU als Vermittler in Scharm diskreditiert;
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umso besser, dass Kanzler Schröder nun doch an seinem Plan festhält,
am Monatsende den Nahen Osten zu bereisen, um so ein
Stück Glaubwürdigkeit für Europa
zurückzugewinnen.
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Doch wer in Nahost Schuld aufrechnet, landet rasch beim Obersten Landesverweser,
der vor rund 3500 Jahren den Kindern Israels Kanaan zusprach.
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Wo sich Gott und Glauben mit Land und Legitimität
verquicken, geht es schneller in die Hölle als in den Himmel;
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an beiden Orten gibt es keine Verhandlungstische.
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Jassir Arafat hat nun in Scharm asch-Scheich seine Untersuchungskommission
bekommen, Ehud Barak ein droit de regard über ihr Urteil.
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Das mag einstweilen die Gemüter beruhigen;
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vorwärts bringen wird es Israelis und Palästinenser kaum.
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Das Problem, das dieser Protokrieg wie ein Blitz erhellt hat, ist der Fluch
der "konzentrischen Belagerungsringe".
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Im kleinsten Kreis sitzen die Palästinenser, übrigens auch die
arabischen Israelis als Bürger zweiter Klasse - eingeschlossen von der
regionalen Supermacht Israel im zweiten Ring.
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Doch just dahinter dräut der dritte Ring, die arabische Welt.
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Schließlich der vierte: die muslimische umma, die von Marokko
nach Indonesien reicht.
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Wer dann wen als Opfer oder Aggressor sieht, hängt davon ab, aus welcher
Belagerungszone er wohin blickt.
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Wenn Mubarak (wie in Scharm asch-Scheich) die israelische Gewalt als "Aggression
gegen die Schwachen" brandmarkt, dann vergisst er, wie
dieser hoch gerüstete High-Tech-Nachbar die
Welt sieht: hier Syrien, das die Hizbullah in die Offensive ziehen lässt;
dort der Irak, der mit dem großen Krieg spielt;
hier Ägypten, das allenfalls einen "kalten Frieden" gewährt; dort
Libyen, das den Dschihad predigt; weiter weg Iran, der die Hizbullah
munitioniert, obwohl sich die Israelis aus dem Südlibanon
zurückgezogen haben.
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Doch ist Politik nicht Psychotherapie, die ihre
Patienten die richtige Interpretation der Wirklichkeit lehren könnte.
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Der Vergleich ist überhaupt falsch, weil die Kombattanten (abgesehen
von den vernebelten Gotteskriegern auf beiden Seiten) gar nicht so verrückt
sind, wie sie sich den Anschein geben.
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Es geht um so handfeste Dinge wie Sicherheit, Sektoren und
Souveränität.
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Und dann um Illusionen und Fehlkalkulationen.
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Die Israelis haben sich nach dem Jom-Kippur-Krieg, den sie erst in der
Schlussphase gewinnen konnten, gegenüber Kairo zu der Formel "Land für
Frieden" durchgerungen.
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Das war das Ende der Illusion "Land und Frieden".
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Nach der siebenjährigen Intifada haben sie Abschied nehmen müssen
von "Herrschaft und Frieden";
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es begann der lange "Oslo-Prozess" mitsamt Arafat-Rabin-Handshake, der in
diesem Sommer in Camp David endete.
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Jetzt werden sie sich wohl von einer dritten, wiewohl freundlicheren Illusion
trennen müssen: dass sie wie weiland die geteilten Deutschen vom Gegen-
über das Neben- zu einem Miteinander mit Palästina gelangen
können.
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Dieser Gewaltausbruch kam nicht wie die Intifada vor dem Friedensprozess,
sondern nachdem Arafat ihn in Camp David abgebrochen hatte, obwohl Barak
so weit gegangen war wie noch keiner seiner Vorgänger: 92 Prozent des
Westjordanlandes plus ein Stück Israel als Kompensation, Entschädigung
für arabische Flüchtlinge, Jerusalem als doppelte Hauptstadt.
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Arafat ließ den Prozess platzen, weil ihm (wie auch manchem jüdischen
Eiferer) der Himmel wichtiger war als das Hernieder:
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Er wollte die ungeteilte Kontrolle über den Tempelberg, der leider auch
das höchste Heiligtum der Juden - die Klagemauer - beherbergt.
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Dazu kommt die hässliche Begleitmusik, die
Israelis über den offiziellen palästinensischen Rundfunk hören
können - wie zum Beispiel diese Freitagspredigt aus Gaza: dass man "mit
Juden und Christen keine Übereinkunft schließen", dass man "nie
Haifa, Galiläa und Jaffa vergessen" dürfe.
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Mag sein, dass jüdische Zeloten Ähnliches predigen, doch erhalten
sie dabei nicht die Imprimatur der "Stimme Israels".
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Auch die vernünftigen Israelis - jene 63 Prozent, die sich die
Rückkehr an den Verhandlungstisch wünschen - müssen nun
befürchten, dass sich "Land für Frieden" in "Land für nichts"
verwandelt hat.
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Aus der Intifada von 1987 bis 1994 haben sie die richtige Lehre gezogen:
"Wir können die Palästinenser nicht beherrschen."
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Nun, da sie in die verzückten Gesichter des Lynchmobs
von Ramallah geblickt haben, könnten sie sehr wohl hinzufügen:
"Und Frieden können wir mit ihnen auch nicht machen."
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Aus diesem mörderischen Paradox könnte vielleicht doch noch ein
Weg herausführen.
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Er hieße "Land für Stabilität".
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Die Israelis könnten ihn unter einer Regierung der nationalen Einheit
ganz alleine beschreiten, indem sie sich einseitig vom Westufer auf
verteidigungsfähige Positionen zurückziehen.
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Die meisten der 150 000 Siedler leben ohnehin dicht an der "grünen
Linie", also in jenen acht Prozent des Westjordanlands, die Barak in Camp
David behalten wollte.
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Das heißt: Israel müsste die Siedlungen tief im Westjordanland,
die sich nachgerade zu einem biblischen Fluch summieren, aufgeben oder den
Eiferern dort bedeuten: "Wenn euch der Boden so heilig ist, dann
sollte euch der Dienst an Gott wichtiger sein als der
Anblick der palästinensischen Flagge."
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Unmöglich?
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Vergessen wir nicht, dass es eine rechte Regierung (unter Begin) war, die
je israelische Siedlungen geräumt hat.
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Jerusalem?
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Nachdem Barak sich ohnehin schon zur Aufteilung der "einen und einzigen
Hauptstadt" durchgerungen hat, kann er den nächsten Schritt auch einseitig
tun.
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Nach Ostjerusalem geht seit Jahren ohnehin kein Israeli mehr;
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warum nicht de jure besiegeln, was schon de facto der Fall ist.
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Der Tempelberg?
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Die Klagemauer bleibt bei Israel, der Rest gehört, wie in der Praxis
heute schon, dem Islam.
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Das wäre kein Frieden, aber ein existenzielles Mehr an Stabilität
und ein erkleckliches Minus an Reibungsflächen für
Zündhölzer aller Art - in einer Region, die seit 4000 Jahren
nur Pausen zwischen zwei Kriegen kennt.
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Erst wenn jeder halbwegs sicher vor dem anderen ist, können beide halbwegs
realistisch über den Frieden reden, der in diesen
Tagen zur Chimäre verkommen ist.
*) Zur nichtkommerziellen (d.h. intern-didaktischen) Verwendung aus:
DIE
ZEIT 43/2000 (25.10.2k)
Satz-Aufteilung und Hervorhebungen (in blau) von mir,
W.N.