Dr. Wolfgang Näser: Formen schriftlicher Kommunikation * WS 1998 / 99

Di 16-18, HS 207, Biegenstraße 14 * Sprechstunde: Montag, 15-17 Uhr, Deutscher Sprachatlas (Kaffweg 3), Zi. 11 (Tel. 06421-28-3508)


Textsorte / Text 4: [manuskript-basierte] Rede

Wir sollten die deutsche Sprache nicht "den Schreihälsen und den Wortverdrehern ausliefern"
(Wolf SCHNEIDER anläßlich der Verleihung des Medienpreises für Sprachkultur; in: OP 30.4.94)

Münster. Gestern abend verlieh die "Gesellschaft für deutsche Sprache" ihren "Medienpreis für Sprachkultur" an Wolf Schneider, der sich mit folgender Rede bedankte:

Dürfen wir eigentlich versuchen, auf den Sprachgebrauch einzuwirken? Und falls wir meinen, legitimiert zu sein: Können wir auf den Sprachgebrauch einwirken - hat ein einzelner oder hat eine kleine Minderheit überhaupt eine Chance?

Und falls wir zu dürfen und zu können glauben - wie sollte die Einwirkung beschaffen sein?

Was das Dürfen angeht, so dominiert an den Universitäten wohl immer noch die Lehre, allein die Beschreibung der Sprache verdiene Wissenschaft zu heißen, während jeder Versuch der Beeinflussung des Sprachgebrauchs unzulässig, jedenfalls unwissenschaftlich sei.

Die Spaltung reicht, wenn ich es richtig lese, bis in die Texte der "Gesellschaft für deutsche Sprache": In einem von Ihnen verteilten Faltblatt heißt es, die Gesellschaft versuche, "auf einen angemessenen, lebendigen und menschlichen Sprachgebrauch hinzuwirken", und auch von Empfehlungen für den Sprachgebrauch ist die Rede.

In der Satzung Ihrer Gesellschaft aber kommt der Wunsch zu wirken nicht vor, sondern [erscheinen] nur vorsichtigere Begriffe wie Pflege, Hilfe und Anregung. In Ihrer Sprachberatung scheuen Sie jeden Imperativ und bevorzugen Formeln wie "wird heute überwiegend verwendet...".


Ich nehme mir die Freiheit, den Satz "Die Sprache ändert sich" für irreführend zu halten, wenn nicht für schlechthin falsch
Seltsam: Denn wenn das Überwiegen regieren soll, können wir die Hälfte unserer grammatischen Feinheiten beerdigen, vorweg die beiden Konjunktive. Und in einem Interview aus Ihrer Mitte lese ich:
"Eine gewachsene Sprache ändert sich nach ihren eigenen Regeln".

Wenn also die Sprache sich ändert, und dies nach ihren eigenen Regeln, so muß ich daraus folgern: der Versuch, auf sie einzuwirken, ist illegitim, jedenfalls aber hoffnungslos.

Und da nehme ich mir nun die Freiheit, den Satz "Die Sprache ändert sich" für irreführend zu halten, wenn nicht für schlechthin falsch.

Mit der Behauptung, die Sprache wandle sich, wird ja eine merkwürdige Hypostasierung vorgenommen, eine fragwürdige Verdinglichung: so als ob es ein abstraktes Substrat namens "Sprache" gäbe, unabhängig von denen, die sie sprechen.

Nein: Nicht die Sprache wandelt sich, sondern die hundert Millionen Menschen deutscher Muttersprache wandeln sie.

Laufend und hartnäckig werden Sprachmodelle in die Welt gesetzt von Leuten, die noch nie darüber gegrübelt haben, ob sie das dürfen.


Die Popstars und die Diskjockeys, die Dampfplauderer auf allen Kanälen
Da sind zum ersten die arglosen Verbreiter von Sprachmustern: die Popstars und die Diskjockeys, die Dampfplauderer auf allen Kanälen, die Sportreporter - und nicht zuletzt die Sportler, denen sie das Mikrofon hinhalten.

Der antike Olympiasieger nahm seinen Ölzweig still entgegen, und falls er etwas sagen wollte, so hörte allenfalls seine Heimatgemeinde zu.

Der Fußball- oder Tennisstar von heute aber darf und soll seine schweißgebadeten Kommentare in Millionen Ohren stammeln - nie zuvor in der Geschichte hat es ein so trauriges Produkt aus Beschränktheit und Masse gegeben.

Das ist beileibe kein Vorwurf gegen die Sportler: Klar, daß sie keine Meister im Reden sind - so wenig, wie ich umgekehrt in dieser sprachmächtigen Versammlung einen Meister im Hammerwerfen vermute. Schuld sind nicht die Sportler, schuld sind die Reporter mit ihrem gierigen Mikrofon.

Mit solcher millionenfachen Verbreitung werden de facto Sprachnormen gesetzt - arglos, wie gesagt, das heißt ohne irgendeine andere Absicht als die der Selbstdarstellung.

Die zweite Gruppe der Normsetzer geht nicht arglos vor, sie will durchaus etwas erreichen: Sie benutzt die Sprache für ihre kommerziellen Zwecke.

Sie alle benutzen die Sprache zu dem alleinigen Zweck, Millionen zu verdienen. Niemand also könnte weniger berechtigt sein, einen Sprachwandel herbeizuführen - aber sie fragen nicht und tun es doch.

Und solchen modischen Unfug nur zu registrieren - das allein sollte Sprachwissenschaft heißen dürfen? Und wie kann man behaupten, die Sprache ändere sich "nach ihren eigenen Regeln", wenn es doch großenteils Toyota-Werber und stotternde Fußballer sind, die die Regeln setzen?

Und noch schlimmer: Die Werbetexter liefern ja nicht nur Stilmodelle; oft handeln sie auch nach einer Maxime, die Lenin ebenso aufgestellt hat wie Heiner Geißler: daß es darauf ankomme, die Begriffe zu besetzen.

Die deutschen Pazifisten bezeichneten sich frühzeitig als Friedensbewegung, und da kam die Bundeswehr viel zu spät mit ihrer Behauptung, die eigentliche Friedensbewegung sei sie selber.


Unsere Soziologen haben die Welt mit einem Netz pompöser Begriffe überzogen
Als Helmut Schmidt die Nachrüstung propagierte, dämmerte es ihren Feinden viel zu spät, daß man vielleicht besser von "Vorrüstung" hätte sprechen sollen.

Die Werbetexter haben ein geländegängiges Fahrrad durch den Namen montain bike marktgängig gemacht - Bergrad auf Deutsch, was dasselbe sagt, anschaulicher und eine Silbe kürzer; bloß eben nicht so schick.

Unsere Soziologen schließlich haben die Welt mit einem Netz pompöser Begriffe überzogen, dem keiner sich entwinden kann, der zu akademischen Weihen gelangen will.

Das also ist die dritte Art, Sprachnormen zu setzen, neben dem arglosen Gestammel und der Stilverbiegung für kommerzielle Zwecke: der klare Wille, dem Sprachgebrauch bestimmte Begriffe aufzunötigen.

All diese fahrlässigen oder mutwilligen Sprachwandler zweifeln nie - was für ein Jammer also, daß der Zweifel ausgerechnet in unseren Kreisen umgeht, die wir doch weder Wähler noch Radfahrer übertölpeln wollen und die wir, behaupte ich mal, allesamt besser Deutsch können als Boris Becker.

Da Nachrüstung und mountain bike nun wirklich die regierenden Wörter geworden sind und da man das Hinterfragungs- und Selbsteinbringungs-Kauderwelsch der Soziologen sogar von jungen Leuten hören kann, die auf der Parkbank schmusen - ist eigentlich auch die Frage nach dem Können schon beantwortet:

Keine der drei genannten Gruppen dürfte den Sprachgebrauch verändern, aber jede schafft es. Selbst ein einzelner Mensch ist imstande, tiefe Spuren in die Sprache der Gegenwart zu graben; das lehrt das Beispiel Rudolf Augsteins.

Als der 1946 den SPIEGEL gründete, war sein Vorbild die Mutter aller Nachrichtenmagazine, TIME. Dieser Mutter hatte ihr Erfinder, Henry Luce, ein Quantum Sprachmarotten als Markenzeichen verordnet.

Da muß in dem jungen Augstein ein Quell ungeheurer Vorstellungen aufgebrochen sein: Sollte sich dieses Rezept nicht ins Deutsche transponieren lassen?

Dies ist also einerseits ein Markenzeichen, das heißt die Benutzung sprachlicher Mittel zu wirtschaftlichen Zwecken. Aber da kommt nun etwas ganz Unheimliches hinzu: 95 Prozent aller deutschsprachigen Journalisten, bis nach Zürich, Wien und Bozen, haben die Spiegel-Marotten übernommen, ja halten sogar bestimmte Augsteinsche Sprachverkrampfungen für das allein zulässige Modell.

Und mehr als das: Eltern, die anderen ihr Kind vorstellen, hört man, statt des seit Jahrhunderten üblichen "Das ist Fritz, mein Sohn" oder "Das ist mein Sohn, Fritz heißt er" heute wirklich sagen: "Das ist Sohn Fritz" - eine Ausgeburt von Augsteins Hirn.

So viel also kann ein einzelner bewirken - das ist das unglaublich Ermutigende daran. Ziemlich viel bewirken könnten auch wir, die wir hier sitzen, falls wir den ungebrochenen Willen zur Wirkung hätten.

Dazu gehört nur die Einsicht, daß ohnehin nichts ohne uns geschieht, daß wir alle es sind, die Sprache verwandeln - und das gute Gewissen, das gerade wir haben dürfen, weil wir die Sprache nicht als Vehikel von Wahlkampf, Sportlerschweiß oder Kaugummi-Reklame verwenden.

Das Unwort des Jahres auszurufen ist ja ein beherzter Schritt, aber den Willen zur Wirkung möchte ich loben, der dahinter steht. Ließe sich da nicht mehr betreiben an aktiver Sprachgestaltung?

Es ist ja hübsch, daß Sie nach einem Wort für den Zustand des Genuggetrunkenhabens forschten, parallel zu "satt" - aber gäbe es da nicht viel mehr und viel Dringlicheres zu suchen?


Die großen Kultursprachen sind die großartigsten und am mühsamsten errichteten Kunstwerke der Menschheit
Und bitte nicht schon wieder Pessimismus, was die Chance des Durchsetzens angeht!

Wie also, wenn Sie Jahr für Jahr ein Dutzend guter Wortprägungen suchten und prämierten?

Oder wie, wenn Sie neben das Unwort des Jahres den Unsatz der Woche stellten: eine jener Wortverknäuelungen, in denen man sich jeden Tag in jeder unserer großen Zeitungen verheddert?

Versündigen sich die Redakteure da nicht an ihrem Auftrag, den wählenden Bürger so zu informieren, daß er halbwegs vernünftige Entscheidungen treffen kann?

Welcher Zielvorstellung von gutem Deutsch man bei alledem folgen sollte, könnte allen Journalisten also klar sein: verständlich zu sein in Wortwahl und Satzbau. Nimmt man die Begriffe "angemessenes, lebendiges, menschliches Deutsch" aus Ihren Verlautbarungen hinzu, so ist das meiste gesagt.

Gewiß aber könnten wir uns einigen auf ein Modell wie dieses: Als Sepp Herberger der Nationalelf zurief "Stürmt, Leute, stürmt!" - da war er sprachlich schlechthin besser als Franz Beckenbauer mit seiner Aufforderung, "dem Spiel im offensiven Bereich mehr Impulse zu verleihen".

Vor diesem Hintergrund wünsche ich Ihnen Tatkraft und ein gutes Gewissen. Die großen Kultursprachen sind die großartigsten und bei weitem am mühsamsten errichteten Kunstwerke der Menschheit, erbaut und verfeinert in Hunderten von Generationen. Eines dieser Kunstwerke haben wir Deutschen vorgefunden ohne alles Verdienst.

Alle haben wir guten Grund, dieses grandiose Monument der Welterfahrung, der Gewitztheit und der Phantasie nicht den Schreihälsen und den Wortverdrehern auszuliefern, sondern uns redlich zu plagen, daß wir es vielleicht mit ein paar Verdiensten weitergeben können an die nächste Generation - damit sie mindestens dieselbe Chance hat wie wir, ihre Wünsche zu artikulieren, ihre Nöte hinauszuschreien und ihren Geist das Fliegen zu lehren. (leicht gekürzt)
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HTML-Transkript, Bearbeitung und Korrekturen: W. NÄSER 11.11.1998

Verfahrensweise und Aufgaben:

  1. Wir lesen den Text gemeinsam, klären unbekannte Wörter (Lexeme) und Wendungen (Phraseologismen) und versuchen, Synonyme zu finden.
  2. Wir betrachten die Ausdrucksweise (lexikalische und syntaktische Stilistik) der Rede und hier besonders die textsortenspezifischen Stilmittel.
  3. Wir untersuchen den Aufbau die Rede: wie ist sie gegliedert?
  4. Wir versuchen, die Aussagen Wolf SCHNEIDERs thesen-artig zusammenzufassen.
  5. Wir schreiben eine Kurzform der Rede (abstract writing).
  6. Wir versuchen, die Rede zu kommentieren. Was wird gesagt und wie stellen wir uns dazu?

WN 111198