Formen schriftlicher Kommunikation, WS 1999/2000

Dr.  Wolfgang Näser * HS 207 Biegenstr., 16-18 h (Sprechstunde: Mo 15-17 h, Hermann-Jacobsohn-Weg 3, Dt. Sprachatlas, Zi. 11, Tel. 28-23508)

Text 1: Lyrik
Herbstgedichte
(Literatur-Tee am 7. Oktober 1995, Gemeinde der Thomaskirche, Oberer Richtsberg, Marburg)

1. Septembermorgen
   von Eduard MÖRIKE (1804-1875)

   Im Nebel ruhet noch die Welt,
   noch träumen Wald und Wiesen:
   bald siehst du, wenn der Schleier fällt,
   den blauen Himmel unverstellt,
   herbstkräftig die gedämpfte Welt
   in warmem Golde fließen.

2. September                        Im Hintergrund
   von Rose AUSLÄNDER (1901-1988)  singt der graue Rhein:
                                   Es geht
   Diese letzte Klausur            zu Ende
   des Sommers
   ehe das Laub                    Spatzen wehren sich
   gelb wird und fällt             gegen den Wind
                                   der schon wild ist
   Dies Farbenspiel
   vor dem Ade                     Wir wehren uns
   grüne Schwingungen              gegen das Gelb
   Blumenschaum blitzende Kiesel   auf unsrer Haut
   vor dem Ade                     trinken den letzten Glanz
                                   der sinkenden Sonne

3. Herbsttag
   von Rainer Maria RILKE (1875-1926)

   Herr: es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß.
   Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren,
   und auf den Fluren laß die Winde los.

   Befiehl den letzten Früchten voll zu sein;
   gib ihnen noch zwei südlichere Tage,
   dränge sie zur Vollendung hin und jage
   die letzte Süße in den schweren Wein.

   Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.
   Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben,
   wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben
   und wird in den Alleen hin und her
   unruhig wandern, wenn die Blätter treiben.

4. Herbstbild
   von Friedrich HEBBEL (1813-1863)

   Dies ist ein Herbsttag, wie ich keinen sah!
   Die Luft ist still, als atmete man kaumn,
   und dennoch fallen raschelnd, fern und nah,
   die schönsten Früchte ab von jedem Baum.

   O stört sie nicht, die Feier der Natur!
   Dies ist die Lese, die sie selber hält;
   denn heute löst sich von den Zweigen nur,
   was vor dem milden Strahl der Sonne fällt.

5. Herbstmanöver
  von Ingeborg BACHMANN (1926-1973)

   Ich sage nicht: das war gestern. Mit wertlosem
   Sommergeld in den Taschen liegen wir wieder
   auf der Spreu des Hohns, im Herbstmanöver der Zeit.
   Und der Fluchtweg nach Süden kommt uns nicht,
   wie den Vögeln, zustatten. Vorüber, am Abend,
   ziehen Fischkutter und Gondeln, und manchmal
   trifft mich ein Splitter traumsatten Marmors,
   wo ich verwundbar bin, durch Schönheit, im Aug.

   In den Zeitungen lese ich viel von der Kälte
   und ihren Folgen, von Törichten und Toten,
   von Vertriebenen, Mördern und Myriaden
   von Eisschollen, aber wenig, was mir behagt.
   Warum auch? Vor dem Bettler, der mittags kommt,
   schlag ich die Tür zu, denn es ist Frieden
   und man kann sich den Anblick ersparen, aber nicht
   im Regen das freudlose Sterben der Blätter.

   Laßt uns eine Reise tun! Laßt uns unter Zypressen
   oder auch unter Palmen oder in den Orangenhainen
   zu verbilligten Preisen Sonnenuntergänge sehen,
   die nicht ihresgleichen haben! Laßt uns die
   unbeantworteten Briefe an das Gestern vergessen!
   Die Zeit tut Wunder. Kommt sie uns aber unrecht,
   mit dem Pochen der Schuld: wir sind nicht zu Hause.
   Im Keller des Herzens, schlaflos, find ich mich wieder
   auf der Spreu des Hohns, im Herbstmanöver der Zeit.

6. Drachenlied                          Wenn wir an der Schnur dich halten
   von Bertolt BRECHT (1989-1956)    Wirst du in den Lüften bleiben
                                     Knecht der sieben Windsgewalten
   Fliege, fliege, kleiner Drache    Zwingst du sie, dich hochzutreiben.
   Steig mit Eifer in die Lüfte
   Schwing dich, kleine blaue Sache  Wir selbst liegen dir zu Füßen!
   Über unsre Häusergrüfte!          Fliege, fliege, kleiner Ahne
                                     Unsrer großen Aeroplane
                                     Blick dich um, sie zu begrüßen.


7. Herbst
    von Rainer Maria RILKE (1875-1926)

    Die Blätter fallen, fallen wie von weit,
    als welkten in den Himmeln ferne Gärten;
    sie fallen mit verneinender Gebärde.

    Und in den Nächten fällt die schwere Erde
    aus allen Sternen in die Einsamkeit.

    Wir alle fallen. Diese Hand da fällt.
    Und sieh die andre an: es ist in allen.

    Und doch ist Einer, welcher dieses Fallen
    unendlich sanft in seinen Händen hält.

(c) WN 01.11.99