Dr. Wolfgang Näser * HS 207 Biegenstr., 16-18 h (Sprechstunde: Mo 15-17 h, Hermann-Jacobsohn-Weg 3, Dt. Sprachatlas, Zi. 11, Tel. 28-23508)
Text 1: Lyrik
Herbstgedichte
(Literatur-Tee am 7. Oktober 1995, Gemeinde
der Thomaskirche, Oberer Richtsberg, Marburg)
1. Septembermorgen von Eduard MÖRIKE (1804-1875) Im Nebel ruhet noch die Welt, noch träumen Wald und Wiesen: bald siehst du, wenn der Schleier fällt, den blauen Himmel unverstellt, herbstkräftig die gedämpfte Welt in warmem Golde fließen. 2. September Im Hintergrund von Rose AUSLÄNDER (1901-1988) singt der graue Rhein: Es geht Diese letzte Klausur zu Ende des Sommers ehe das Laub Spatzen wehren sich gelb wird und fällt gegen den Wind der schon wild ist Dies Farbenspiel vor dem Ade Wir wehren uns grüne Schwingungen gegen das Gelb Blumenschaum blitzende Kiesel auf unsrer Haut vor dem Ade trinken den letzten Glanz der sinkenden Sonne 3. Herbsttag von Rainer Maria RILKE (1875-1926) Herr: es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß. Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren, und auf den Fluren laß die Winde los. Befiehl den letzten Früchten voll zu sein; gib ihnen noch zwei südlichere Tage, dränge sie zur Vollendung hin und jage die letzte Süße in den schweren Wein. Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr. Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben, wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben und wird in den Alleen hin und her unruhig wandern, wenn die Blätter treiben. 4. Herbstbild von Friedrich HEBBEL (1813-1863) Dies ist ein Herbsttag, wie ich keinen sah! Die Luft ist still, als atmete man kaumn, und dennoch fallen raschelnd, fern und nah, die schönsten Früchte ab von jedem Baum. O stört sie nicht, die Feier der Natur! Dies ist die Lese, die sie selber hält; denn heute löst sich von den Zweigen nur, was vor dem milden Strahl der Sonne fällt. 5. Herbstmanöver von Ingeborg BACHMANN (1926-1973) Ich sage nicht: das war gestern. Mit wertlosem Sommergeld in den Taschen liegen wir wieder auf der Spreu des Hohns, im Herbstmanöver der Zeit. Und der Fluchtweg nach Süden kommt uns nicht, wie den Vögeln, zustatten. Vorüber, am Abend, ziehen Fischkutter und Gondeln, und manchmal trifft mich ein Splitter traumsatten Marmors, wo ich verwundbar bin, durch Schönheit, im Aug. In den Zeitungen lese ich viel von der Kälte und ihren Folgen, von Törichten und Toten, von Vertriebenen, Mördern und Myriaden von Eisschollen, aber wenig, was mir behagt. Warum auch? Vor dem Bettler, der mittags kommt, schlag ich die Tür zu, denn es ist Frieden und man kann sich den Anblick ersparen, aber nicht im Regen das freudlose Sterben der Blätter. Laßt uns eine Reise tun! Laßt uns unter Zypressen oder auch unter Palmen oder in den Orangenhainen zu verbilligten Preisen Sonnenuntergänge sehen, die nicht ihresgleichen haben! Laßt uns die unbeantworteten Briefe an das Gestern vergessen! Die Zeit tut Wunder. Kommt sie uns aber unrecht, mit dem Pochen der Schuld: wir sind nicht zu Hause. Im Keller des Herzens, schlaflos, find ich mich wieder auf der Spreu des Hohns, im Herbstmanöver der Zeit. 6. Drachenlied Wenn wir an der Schnur dich halten von Bertolt BRECHT (1989-1956) Wirst du in den Lüften bleiben Knecht der sieben Windsgewalten Fliege, fliege, kleiner Drache Zwingst du sie, dich hochzutreiben. Steig mit Eifer in die Lüfte Schwing dich, kleine blaue Sache Wir selbst liegen dir zu Füßen! Über unsre Häusergrüfte! Fliege, fliege, kleiner Ahne Unsrer großen Aeroplane Blick dich um, sie zu begrüßen. 7. Herbst von Rainer Maria RILKE (1875-1926) Die Blätter fallen, fallen wie von weit, als welkten in den Himmeln ferne Gärten; sie fallen mit verneinender Gebärde. Und in den Nächten fällt die schwere Erde aus allen Sternen in die Einsamkeit. Wir alle fallen. Diese Hand da fällt. Und sieh die andre an: es ist in allen. Und doch ist Einer, welcher dieses Fallen unendlich sanft in seinen Händen hält. (c) WN 01.11.99