Formen schriftlicher Kommunikation, WS 1999/2000, Dr. Wolfgang Näser
von Julija KOMAROVIC
VORBEMERKUNG: Ich habe mich ganz spontan entschlossen, den folgenden, im Rahmen meiner Übung entstandenen Text ins Netz zu schreiben. Mögen diese wunderbaren Zeilen allen das kostbare Geschenk sein, als das ich sie empfunden habe - und stellvertretend für die in meinen DaF-Übungen geschriebenen guten Arbeiten, die Zeugnis dafür ablegen, daß auch im Deutschen als Fremdsprache die mannigfachen Möglichkeiten von Stil und Ausdruck genutzt werden: von denen, die mit Fleiß, Liebe, Eifer und Engagement diese Sprache erlernen und pflegen.
Marburg, den 10. Januar 2000 W. Näser
Weihnachten - wunderschöne, bezaubernde, märchenhafte Zeit. Tief in meiner Seele werden die herrlichen Kindheitserinnerungen erweckt. Ich genieße schon das sich nähernde Fest.
Weihnachten ... Dieses Wort ist für mich einem Zauberspruch ähnlich. Es sind darin sehr viele wunderbare Gefühle verborgen: Erinnerungen, Träume, Erwartungen. Es ist für mich das Symbol der Geborgenheit, des Freimuts, der Fröhlichkeit, der Milde und der Güte.
In jedem christlichen Land wird dieses eine der größten religiösen Feste auf verschiedene Art und Weise gefeiert. Jede Region, jeder Bezirk, jedes Land hat zahlreiche Sitten und Bräuche, die sich meistens ganz stark voneinander unterscheiden.
In Litauen, meinem Heimatland, wird Weihnachten sozusagen fast in jedem einzelnen Dorf ein bißchen anders gefeiert. Ich würde jetzt doch gerne nicht die unendliche Mannigfaltigkeit der Festtraditionen darstellen, sondern davon erzählen, wie es in meiner Familie gefeiert wird.
Wir bereiten uns darauf mehrere Tage lang vor. Zusammen mit meiner Mutter und meiner jüngeren Schwester verbringe ich zahlreiche Stunden in der Küche: wir kochen, braten, backen ... Dann soll man noch das ganze Haus aufräumen. Der Vater hat auch beide Hände voll zu tun: es gibt doch so viel zu erledigen, und man muß damit schon vor dem Einbruch der Dämmerung fertig werden.
Es herrscht feierliche Stimmung. Kein zorniges Wort wird gesprochen, an diesem Tage ist man besonders höflich und artig, man wird freundlicher, hilfsbereiter, geduldiger, friedfertiger und gutmütiger.
Am Abend fahren wir immer aufs Land zu meiner Großmutti. Stellen Sie sich vor: kleine, gemütliche Häuschen, die im tiefen Schnee liegen. In den Fenstern sieht man das frohe Licht: die Großmutter wartet auf uns, sie hat schon längst den Ofen geheizt. Der Tisch ist schon reich und festlich gedeckt. Die schmackhaften Speisen (es gibt immer nur 12 - die Zahl der Jahresmonate und/oder der Apostel) erfreuen die Augen und den Magen (der vorher zu einem den ganzen Tag dauernden Fasten "gezwungen" wurde). In der Ecke sieht man ein kleines, mit Kerzen und Weihnachtsbaumschmuck verziertes Tannenbäumchen, unter dem der Heilige Nikolaus (oder der Großvater Frost, wie es auch einem besser gefällt) jedem, sowohl den Erwachsenen als auch den Kindern, Geschenke hinterlassen hat. Aber keiner öffnet die lockenden Präsentkörbchen. Es kommt noch Zeit dazu.
Jetzt warten alle ungeduldig auf den ersten Stern, der an den Bethlehemstern erinnern sollte. Wenn er auf dem schwarzen Himmel erscheint, dann ist es ein Zeichen dafür, daß man sich schon an den feierlichen Tisch setzen kann. Die Großmutter fängt an zu beten. Alle wiederholen leise die Worte des Vaterunsers. Wir bitten um Wohlstand für die ganze Familie im kommenden Jahr, wir entschuldigen uns für all das Böse, das wir anderen Menschen getan haben, wir bitten den lieben Gott um Hoffnung, Glauben und Liebe.
Und dabei spielt es gar keine Rolle, ob du ein frommer Katholik oder ein eifriger Atheist bist.
An diesem Abend fühlt jeder die Anwesenheit der guten Kräfte; die Menschen sind anders als sonst: alle werden ein wenig besser, barmherziger, rücksichtsvoller, zärtlicher und menschlicher. Man vergibt alte Schulden, man denkt nur an das Gute. Man wird tatsächlich zu einer großen Familie.
Um Mitternacht fahren wir gewöhnlich in die Kirche zur sog. "Krippe".
Die Kirche ist voll von Menschen. Es sind sogar diejenigen gekommen, die sonst nie zur Messe gehen. Es ist doch die besondere, die Heilige Nacht. Das neugeborene Kind bringt den ermüdeten Menschen die Versöhnung und die Erlösung. Es gibt ihnen wieder die Hoffnung auf das Bessere. Und alle sind wieder bereit zu hoffen und zu glauben.
In dieser Nacht gibt es in der menschlichen Seele keinen Platz für das grimmige Gefühl der Enttäuschung, weil es von den drei größten christlichen Tugenden: dem Glauben, der Hoffnung und der Liebe, verjagt wird.
Vielleicht wird es morgen so sein, wie es auch immer gewesen ist. Vielleicht erwecken sich in ihren Seelen aufs Neue die eingeschlafenen Tiere, die grausamen Wölfe. Aber an diesem Heiligen Abend werden sie, wenn auch nur für eine kurze Weile, wirklich besser. Alle sind da Kinder.
Wir kehren nach Hause zurück. Alle können jetzt schon ihre Geschenke auspacken und sich darüber freuen. In dieser Nacht wird kaum geschlafen. Wir sitzen am Tisch und brauchen sogar nicht mehr miteinander zu reden. Wir genießen die reizvolle Herrlichkeit dieser Heiligen Nacht. Ein Platz bleibt immer frei. Auf dem Tisch liegt ein Besteck, das für die "Seelen der Gestorbenen" oder für den unerwartet gekommenen Gast frei gelassen wird. Heute darf man doch niemanden vergessen; heute soll man die ganze Welt, und das heißt eigentlich - jeden einzelnen Menschen mit seiner Freundlichkeit, Herzensgüte und Liebe beschenken.
Dieses Gefühl der allumfassenden Gutherzigkeit, Milde und Geborgenheit könnte ich nirgendwo anders auf der ganzen Welt finden. Ich sehe das faltige und welke Gesicht meiner lieben Großmutti, das von Schmerz, Qual und Leiden längst verzogen ist. Sie hat in ihrem Leben so viel unter den schmerzhaften Schlägen des erbarmungslosen Schicksals gelitten. Aber nur diese unzähligen Falten verraten das erlebte Leiden und die grenzenlose Qual. Die Augen lächeln und verstrahlen zugleich das zauberhafte Licht, das alle beleuchtet und erwärmt. Sie erinnert mich an eine gute Zauberin, die Gestalt aus einem der fast vergessenen Märchen, die mir vor vielen, vielen Jahren meine Mutter gelesen hat. Ich fühle mich so gemütlich, so sicher, beschützt und geborgen.
Das Leben ist meistens schrecklich. Gibt es Gott?! Wirklich ?! Glaubt ihr noch an diese Schaumschlägerei? "Menschen sind Brüder"?! Es ist doch ein blödes Geschwätz, ein Märchen für dumme Kinder!
"Homo homini lupus est" - davon überzeugen wir uns doch täglich.
Graue Farben der modernen Gebäude; Städte - die Festungen der Zivilisation, wo sich der kaum vorstellbare Reichtum mit der unglaublichsten Armut vermischt ... Wir versteinern uns. Das Alltägliche verkettet unsere Seelen; wir betrachten verblüfft das Grauen der Welt, des irdischen Lebens, und immer häufiger sind wir nicht mehr imstande, ihm zu widerstehen. Allmählich werden wir zu schwach und zu gleichgültig.
So ist es bei mir, so etwas passiert auch anderen Leuten. Und dann sehne ich mich noch mehr nach diesem gemütlichen Dörfchen, nach meiner Großmutter, nach dieser ein bißchen archaisch und vielleicht dadurch auch so reizvoll, entzückend und bezaubernd wirkenden Atmosphäre der Weihnachtsfeier.
HTML: W. Näser 10.1.2000