Texstsorte Autobiographie
Beispiel 2: "Bildungsgang"

VORBEMERKUNG. Innerhalb der Textsorte "Autobiographie" bildet das Folgende so etwas wie eine Untergruppe und liefert zugleich Informationen darüber, wie und mit welchen Informationen sich ein vor dem Abitur stehender Jugendlicher aus der tiefsten Provinz und ohne akademischen "Background" Ende 1962 zum Abitur meldete, ein Abiturient, der kurz zuvor im gerade vollendeten elterlichen Haus als besondere Herausforderung ohne fremden Beistand und ohne moderne Hilfsmittel die gesamte Kellerlicht-Installation vorgenommen hatte. "An den Herrn Direktor der Christian-Rauch-Schule Arolsen", schrieb ich damals, "Ich bitte, zur Reifeprüfung zum Ostertermin 1963 zugelassen zu werden. Ich habe das Gymnasium neun Jahre besucht, davon ein Jahr die Oberprima des sprachlichen Zweiges. Von den zur Wahl gestellten Fächern wünsche ich in Französisch geprüft zu werden. Ich bitte, mein Bekenntnis (ev.) im Reifezeugnis zu vermerken." Und dann folgte ein Lebenslauf, der neben kurzen standesamtlichen Daten vor allem Angaben über das enthalten sollte, was mich in meinem bisherigen Leben in puncto Bildung und Reifung geprägt hatte. Hier zeigen sich große Unterschiede zum Lebensweg eines gegenwärtigen Abiturienten.

Wer sich heute, im 21. Jahrhundert, zur Reifeprüfung meldet, hat in der Regel schon mehrere Auslandsreisen hinter sich und unter Umständen wenig Gelegenheit gehabt, so etwas wie eine unbeschwerte Kindheit und damit verbunden einen langsamen Reifungsprozeß zu erleben: zu vieles aus dem Erwachsenenleben wurde vorweggenommen, zu früh ein Selbstbewußtsein angelegt, das, auf tönernen Füßen, sich oft als Täuschung entpuppt. Zu früh wurde desillusioniert, ehrlicher Idealismus im Keime erstickt. Die gelangweilten Gesichter auch und gerade von Schüler/innen sogenannter Eliteschulen sprechen Bände. Rauchende, oft ebenso gleichgültige wie egozentrisch wirkende Disco- und Partygänger/innen mit dem unerläßlichen Multimedia-Handy haben schon fast alles hinter sich. Andererseits wollen sie das behütete Schul-Dasein ungern verlassen, im praktischen Leben "draußen" gälte es sich zu bewähren, doch fehlt es den allzu kopflastig Erzogenen, von essenziellen Problemen Abgeschotteten oft an den dazu nötigen Voraussetzungen - hart und ungeschminkt könnte man auch sagen, es wurde ihnen zu wenig praktische soziale Kompetenz vermittelt. Und deshalb wächst gerade hierzulande die Zahl der Nesthocker, die bis ins 30. oder noch höhere Lebensjahr nur wenig Lust haben, dem Hotel Mama Ade zu sagen und sich allein und aus eigener Kraft durchs Leben zu schlagen. Andererseits können die Heranwachsenden und Jugendlichen nichts für die zunehmende Perspektivlosigkeit, in der sie aufwachsen müssen, reflektieren in ihrem Benehmen das, was man ihnen entgegenbringt, suchen in ihren Vergnügungen die Werte und Ziele, die man ihnen ethischerseits vorenthält.

Was also Auslandsreisen, pseudoemanzipatorisches Gehabe und übersteigertes Selbstwertgefühl angeht, so waren wir klar unterlegen. Achtzehn Jahre nach Ende des verheerenden Zweiten Weltkriegs konnten kleinbürgerlich aufgewachsene Jugendliche nicht glänzen mit luxuriösen Vergnügungen und Erlebnissen; ihr Schulalltag, ihr Tageslauf war, am Heute gemessen, eher sterbenslangweilig. Jenseits späterer Segnungen der Hyper-Zivilisation empfanden wir das nicht so, waren mit dem, was wir hatten, größtenteils zufrieden - heute unvorstellbar, daß man vielleicht nur alle paar Wochen (oder gar Monate) ins Kino ging, daß man nicht (üblicherweise) schon mit Vierzehn rauchte, sich nicht als Konfirmand beim "Kampftrinken" bewähren mußte, nicht schon mit Fünfzehn über teils exzessive sexuelle Erfahrungen zu erzählen hatte; Deutschland suchte noch keinen Teenie-"Superstar" und es gab noch nicht den schulischen Gruppenzwang der Nobelmarken-Klamotten. Es wurde kaum jemand ausgegrenzt und gemobbt, es gab keine Drogen und keine Amokläufe, es gab vielerorts noch Respekt vor den Lehrenden und Lebenserfahrenen und das Bewußtsein, daß man noch viel zu tun, zu lernen und zu erfahren hatte, um sich mit ihnen messen zu können.

Das heißt nicht, daß wir allzu brav waren und keine Streiche verübten. Streiche gehörten schon immer zum Schülerdasein - Ludwig Thomas Lausbubengeschichten und Heinrich Spoerls Feuerzangenbowle beweisen es. Unsere Streiche waren meist harmlos: es gab für uns kaum "Vorbilder" in Gestalt medialer Produktionen; die seelischen Blessuren durch Actionfilme und Horrorvideos blieben uns erspart, damit auch die nächtlichen Alpträume und psychischen Schäden, von denen heute nicht wenige Kinder und Jugendliche betroffen sind. Und es gab nicht die Kopflastigkeit, wie sie heute leider in vielen Schulen, auch und gerade "besseren", praktiziert wird.

In der - oft als repressiv kritisierten - Pädagogik der ehemaligen "DDR" galt als Ziel die "allseitig gebildete Persönlichkeit": Idealistisch formuliert, sollten sich in einer polytechnischen Erziehung theoretisch-formale Bildung und handwerklich-praktische Unterweisung ergänzen, in schöpferischer manueller Arbeit sollte geformt und gestaltet werden, es sollten Geist und Körper zu einem harmonischem Ganzen zusammenwachsen. Im Westen gab / gibt es nur wenige pädagogische Institutionen wie die Odenwaldschule, wo neben dem Abitur eine handwerkliche Ausbildung angeboten und zusammen mit der Hochschulreife abgeschlossen wird: mit dem Abiturzeugnis wird ein Gesellenbrief ausgehändigt und ist der junge Erwachsene somit gut für das praktische Leben gerüstet.

Ohne von polytechnischer Erziehung etwas zu wissen, erlebte ich diese damals aufgrund eines parallel zum normalen Schülerdasein ausgeübten handwerklichen Hobbys: ich "bastelte" und baute schließlich eine große Lautsprechersäule und einen Verstärker, um das von mir seit dem Frühjahr 1959 betriebene Tonbandhobby effizienter zu gestalten. Eine sehr detaillierte Passage hierzu aus der Typoskript-Vorlage wurde (als hier unpassend) im vorgeschriebenermaßen handschriftlichen "Bildungsgang" ausgespart.

Nach früheren Alternativen (z.B. Techniker, Ingenieur, Tonmeister) wählte ich den Lehrerberuf als Ziel, studierte für das Höhere Lehramt, blieb per Zufall an der Universität und bereue es nicht, mittlerweile 34 Jahre akademischer Lehre erteilt zu haben. Denn die jungen Menschen sind unsere Zukunft - nur sie haben die langfristige Perspektive, unsere Welt zum besseren zu verändern, und es ist eine große Freude und Ehre, ihnen etwas dafür mit auf den Weg zu geben.
Wolfgang Näser, Marburg, 1.2.2007


(geschrieben am 15.11.1962)
Wenn ich auf das zurückblicke, was mich in meinem bisherigen Leben entscheidend beeinflußt und meinen Charakter geformt hat, so möchte ich zunächst mein Elternhaus erwähnen, wo ich zu Sparsamkeit und Ehrlichkeit erzogen wurde. So war es für mich selbstverständlich, daß ich mein Hobby aus eigener Tasche finanzieren mußte. Dadurch, daß ich miterlebte, wie mein Vater ohne jede finanzielle Hilfe ein Geschäft aufbaute, lernte ich, daß man nur mit Bescheidenheit, Sparsamkeit und verantwortungsbewußtem Handeln die Gefahren des Lebens meistern kann.

Von den verhältnismäßig wenigen Fahrten, die ich bisher unternommen habe, beeindruckte mich am meisten die gemeinsame Fahrt unserer Klasse nach West-Berlin. Hier wurde mir bewußt, daß man unsere jetzige politische Lage nicht vom Grünen Tisch beurteilen kann, sondern nur durch eigenes, persönliches Erleben und durch die Auseinandersetzung mit den gewonnenen Eindrücken.

Ich hatte während meines bisherigen Schulbesuchs keine nennenswerten Schwierigkeiten zu überwinden, abgesehen von der Entscheidung zwischen dem sprachlichen und naturwissenschaftlichen Zweig, die für mich nicht leicht war, da meine Interessen sowohl auf naturwissenschaftlichem wie auf sprachlichem, ferner auf musikalischem Gebiet liegen.

Vom Besuch der Quinta an begeisterte ich mich für Klassische Musik. Meine Liebe zur Musik wurde von einem hervorragenden Musikpädagogen geweckt, der heute noch an der Christian-Rauch-Schule wirkt. Am tiefsten beeindruckte mich die Musik Bachs, am liebsten hörte ich die Werke des Barock und die der Wiener Klassik. Mehrere Jahre sang ich im Schulchor mit, unter anderem den "Messias" von Händel.

Neben der Beschäftigung mit der Musik hat, wie ich glaube, die radiotechnische Arbeit ganz entscheidend zur Formung meines Charakters beigetragen. Die Anschaffung eines Tonbandgerätes und der Bau einer Lautsprechersäule erweckten in mir die Neigung zur Elektro- und Radiotechnik, mit der ich mich in meiner Freizeit beschäftige. Ich begann, die Liebe zur Musik und zur Technik miteinander zu verbinden, in dem ich Chorkonzerte (Kirchenmusik) unserer Schule auf Band mitschnitt und ständig versuchte, die Aufnahmen und ihre Wiedergabequalität zu verbessern. Ich schaffte mir ein reichhaltiges Tonbandzubehör an, verbesserte mein Rundfunkgerät und konstruierte einen Verstärker. Durch diese Beschäftigung, vor allen Dingen durch das Anstreben optimaler Tonqualität, hatte ich Gelegenheit, sowohl technische Kenntnisse zu erwerben als auch mich mit der Musik zu beschäftigen, mein Gehör auszubilden; ich lernte, auf unscheinbare Feinheiten der Musik zu achten, ich versuchte, Musikwerke und ihre Ausführenden zu beurteilen, und beschäftigte mich nicht nur mit (im weitläufigen Sinne) Klassischer Musik, sondern auch mit leichter Unterhaltungsmusik und Jazz.

Ich nahm an Besichtigungen des Kölner Funkhauses und des Senders Freies Berlin teil. Hier bekam ich einen Einblick in die Studioarbeit, konnte meine Kenntnisse in der Rundfunktechnik durch praktische Anschauung bereichern und lernte vieles kennen, das mir in meiner Freizeitbeschäftigung nützlich sein konnte. Diese Besichtigungen haben tiefe und nachhaltige Eindrücke in mir hinterlassen. Durch diese Besichtigungen und durch meine radiotechnische Beschäftigung wurden mir die großen Sorgen und Probleme bewußt, denen der Rundfunk und das Fernsehen Tag für Tag gegenüberstehen, die sie zu überwinden und zu meistern haben. Ich stellte fest, daß auch der Rundfunk von den Schwächen und Fehlern der Menschen abhängig ist, ich wurde mir der großen Bedeutung und der wichtigen kulturellen Aufgabe des Rundfunks bewußt.

Viele Menschen bezeichnen die theoretische und zugleich praktische Beschäftigung mit der Rundfunktechnik schlechthin als "Basteln" oder "Radiobasteln", wobei diese Bezeichnungen meist in abwertendem Sinne gemeint sind. Ich fasse jedoch diese Beschäftigung nicht gemeinhin als "Basteln" auf, nein vielmehr bedeutet sie für mich eine Art schöpferischer Tätigkeit, die zu immer neuem Erstaunen über die Wunder des täglichen Lebens führt.

Mit dieser für mich wahrhaft schöpferischen Tätigkeit verbindet sich zugleich immer neues Erstaunen: man setzt leblose Bauteile zusammen, um hiermit die herrlichste Musik erklingen, die schönsten Musikwerke vor dem Ohr erstehen zu lassen. Welch ein Wunder! Durch Dutzende winziger Leitungen fließender Strom, vielen Gesetzen gehorchend, läßt uns rauschende und mitreißende Musik, silbrigen Diskant und majestätische Bässe erleben, füllt den Raum mit der alles belebenden Zauberwelt der Musik. Wenn ich an die vielen mehr oder weniger komplizierten Vorgänge denke, die nötig sind, um uns die Welt der Musik auf elektronischem Übertragungswege nahezubringen, so ist dies für mich immer wieder echtes Erstaunen.

Die Fremdsprachen Englisch, Französisch und Latein, die mich unter den Schulfächern neben Physik und Musik am meisten interessieren, bereiteten mir immer Freude, zumal ich erkannte, wie die Sprachen miteinander zusammenhängen, und mir durch Parallelen zu anderen Sprachen das Lernen zu erleichtern suchte. Vom Besuch der Obertertia ab gebe ich bis heute Nachhilfestunden, die aus meinem Sprachinteresse erwuchsen. Durch die aus den Nachhilfestunden resultierende Beschäftigung mit dem Stoff wurde meine Liebe zu den Sprachen noch verstärkt. Ich konnte anderen Wissen vermitteln. Es bereitete mir Freude zu sehen, wie meine "Zöglinge" sich in der Schule zu bessern begannen, plötzlich Freude an den Sprachen bekamen und eifrig in der Schule mitarbeiteten. Ich habe mich nicht zuletzt aus diesem Grunde entschlossen, mich nach dem Abitur dem pädagogischen Studium zuzuwenden und Lehrer zu werden.

Man könnte mir jetzt entgegenhalten, warum ich denn nicht zum Beispiel Hochfrequenztechnik studieren wolle, da doch die Rundfunktechnik mir so viel bedeute. Ich muß gestehen, daß ich sehr oft hierüber nachgedacht habe und daß ich erst nach langen Überlegungen zu dem Entschluß gekommen bin, die Rundfunktechnik ausschließlich als Hobby zu betreiben. Der Lehrerberuf ist jedoch für mich bei weitem keine Notlösung, wie mir gegenüber manche Menschen im Gespräch argumentierten. Das Lehren, das Vermitteln von Wissen bereitet mir große Freude, und ich betrachte es als eine große Aufgabe, einen kleinen Beitrag leisten zu dürfen zur Hebung des Bildungsniveaus, Menschen dazu anregen zu dürfen, sich in ihrer Freizeit geistig zu beschäftigen und sich ernsthaft mit den Problemen unserer Zeit auseinanderzusetzen. Es ist wahrlich eine große Aufgabe, junge Menschen zu bilden, zu der Formung ihres Charakters beitragen zu können, ihnen Lehrer, Helfer und stets Kamerad zu sein, ihnen ein Ziel zu setzen, sie zu begeistern. Dies halte ich für die wahre Aufgabe eines Lehrers, und darum möchte ich diesen Beruf ergreifen.

Text und HTML: (c) WN 2/2007