Ludwig Manfred Lommel:
Eine Fahrkarte zu Anspitzers
hochdeutsche Transkription: Dr. W. Näser
Bitte schön, Herr Beamter, geben Sie mir doch eine Fahrkarte.
Ja, wohin?
Zu Anspitzers. Der alte Anspitzer ist gestorben. Ein Jammer, Herr Beamter.
Aber wir sind ja alle sterblich.
Ja. Also bitte wohin wollen Sie fahren?
Zu Anspitzers. Anspitzer war ein guter Freund von mir. Eines Tages, da geht
er auf der Straße, geht ganz ruhig, wissen Sie, plötzlich kommt
ein großer Hund und bellt ihn an. Anspitzer fährt erschrocken
zurück, stolpert und fällt...
Wohin, fragte ich?
In ein Schaufenster von einem Radioartikel-Geschäft. Es stand ein
Lautsprecher drin, und das Orchester hat gerade den Walzer aus der Lustigen
Witwe gespielt. Stellen Sie sich mal vor: die Lustige Witwe, und der
Anspitzer sitzt mit Glasscherben da.
Na, werden Sie mir mal jetzt ihr Reiseziel nennen?
Wie bitte?
Wohin Sie fahren wollen, möchte ich wissen!
Ach so, ja. Zu Anspitzers. Sie können sich ja denken, Herr Beamter,
daß die Witwe des tröstenden Zuspruchs bedarf. Ihr Vater war
nämlich Tulpenzwiebelhändler, daher hat sie auch das weiche,
empfindsame Gemüt. Wollen Sie mir glauben, daß sie dem
Radiohändler eine runtergehauen hat?
Wirklich, zum Verzweifeln!
Ja, das habe ich auch gesagt. Aber den Radiohändler trifft ja keine
Schuld. Ich bitte Sie, Herr Beamter, der Mann, der macht doch die Programme
nicht selber. Er hat gesagt, wenn's nach ihm gegangen wäre, da hätte
der Anspitzer ernste Musik zu hören gekriegt, wie er so mit den
Glassplittern da saß.
Lassen Sie jetzt mal einen Augenblick mich reden, verehrter Herr. Ich nehme
jetzt Rücksicht auf den Umstand, daß Ihr Freund gestorben ist
und auf Ihren Schmerz.
Danke sehr, danke, es ist sehr...
Na, ruhig...
Na, also, Herr, ich muß mich bedanken. Man hört selten so warm
empfundene Worte des Mitgefühls. Anspitzer war eine Seele von einem
Menschen. Einmal hatte sein Söhnchen einen Regenwurm mit einer Schere
in der Mitte durchgeschnitten und, was soll ich Ihnen sagen, da hat der Anspitzer
den Regenwurm mit Gummi Arabicum wieder zusammengekleistert, und der
Regenwurm, der hat wieder gelebt, Herr Beamter...
Also, man sollte es doch nicht für möglich halten...
Das hab ich auch gesagt. Aber er hat doch gelebt und geliebt, Herr Beamter,
so wahr ich ein ehrlicher Mensch bin.
Also ich erkläre Ihnen, wenn ich nicht zur Höflichkeit verpflichtet
wäre...
Herr Beamter, er hat ihn mit Gummi Arabicum zusammengekleistert, oder ich
will nicht wieder gesund aufstehen. Warte mal, wer war denn noch Zeuge? Ja,
der alte Baum. Und, wissen Sie? Der war Zeuge, allerdings auch schon
hinüber. Ein ganz ähnlicher Fall. Baum hat einen Nagel im Schuh
gehabt...
Also gestatten Sie mal, mein Herr, Sie wollen eine Fahrkarte haben, nicht
wahr?
Ja.
Wohin bitte?
Zu Anspitzers.
Das weiß ich! Ich meine: wo wohnen die Anspitzers?
Ach so: in der Hermsdorfer Straße, vier Treppen links. Vier Treppen,
Herr Beamter, stellen Sie sich mal vor, was das für Malchen Anspitzer
bedeutet. Die ist beinahe zwei Zentner schwer, und dann leidet sie doch immer
noch an dem Knie, das sie sich in der Jugend verletzt hat. Malchens Mutter,
die wollte mal damals Pflaumenmus einkochen, wissen Sie?
Na ja, in welcher Stadt?
In Haarlem. Ihr Vater war Tulpenzwiebelhändler.
Ja, der hatte das empfindsame Gemüt, das kenne ich.
Ach, das kennen Sie? Höhö. Sie kennen Malchen Anspitzer, Herr
Beamter?'
Ach was. Ich habe keine Ahnung.
Ach, Sie! Ich weiß Bescheid. Ich weiß, Malchen soll in der Jugend
mal was mit einem Eisenbahnassistenten gehabt haben. Sie hat lange geweint
um den jungen Mann, aber dann kam Anspitzer und hat sie getröstet. Nun
ist er hinüber, und Sie haben freie Bahn, Herr Beamter.
Sagen Sie, alter Herr, wollen wir nicht mal jetzt vernünftig miteinander
reden, ja?
Herr Beamter, mit mir können Sie reden wie mit Ihrem Vater. Ich weiß,
was Liebe heißt. Zwanzig Jahre bin ich mit einem Mädel gegangen,
die war Telefonistin, und die hat einmal bei einem Gewitter einen elektrischen
Schlag gekriegt. Sie werden es mir gar nicht glauben, aber es ist Tatsache,
daß sie seit der Zeit im linken Ohr dauernd ein Geräusch hat und
im rechten das eben..
Aber das will ich ja gar nicht wissen! Hören Sie davon auf!
Na schön, dann sprechen wir von was anderem. Also, Malchen
Anspitzer...
Nein, davon will ich nichts mehr wissen! Merken Sie denn nicht, daß
mir die Anspitzers zum Halse herauskommen?
Sehn Sie, sehn Sie, das habe ich mir gleich gedacht. Ich bitte Sie: eine
Frau, die beinahe zwei Zentner wiegt und die hinkt - also, unter uns, Sie,
schnarchen tut die, ah, die fängt immer mit einem harmlosen Rascheln
an, aber dann stößt sie plötzlich in eine Posaune, und zum
Schluß gibt sie immer einen Pfiff, daß Sie denken, Ihr Zug
fährt ab.
Na ja, sagen Sie mal, alter Herr, haben Sie denn eigentlich keine Angst,
daß Ihr Zug abfährt?
Nee, wenn der abfährt, dann nehme ich den nächsten. ich komme immer
noch zurecht. Sie müssen bedenken, Anspitzer war Alkoholiker, und
Alkoholiker, die verwesen nicht so schnell. Als mein Vater starb - er hatte
infolge einer Wette die Säbeltrottel des Gendarmeriewachtmeisters in
Benschen verschluckt, ein äußerst seltener Fall, Herr Beamter
-, also, mein Vater...
Moment mal - wollen Sie jetzt eine Fahrkarte haben oder nicht?
Ja, ich bitte sehr darum, Herr Beamter.
Also wohin?
Zu Anspitzers. Der Al---
Nein! Lassen Sie mich zufrieden damit! In welcher Stadt wohnen Anspitzers?
In gar keiner Stadt.
Also, wie heißt das Nest?
Nest? Erlauben Sie, Herr Beamter, das ist eine Villenkolonie. Anspitzers
konnten sich das leisten, in einer Villenkolonie zu wohnen. Was meinen Sie,
was der Mann alleine an den Lizenzen für seinen Patent-Hosenspanner
Prince of Arcadien verdient hat?
Das ist ja Nebensache.
Das nennen Sie Nebensache? Fuffzig Mille, hehe? Ha, na, wissen Sie, Herr
Beamter, dabei war der Hosenspanner gar nichts wert. Ein einziges Mal habe
ich einen Versuch damit gemacht. Ich sage Ihnen, die Hosen haben nachher
ausgesehen wie onduliert, Dauerwellen habe ich drinnen gehabt, so wahr ich
hier stehe. Einen Nachmittag habe ich mich mit den Hosen auf die Straße
gewagt, da hat ein Kind zu seinem Vater gesagt: "Papa, guck einmal, ein
Beduine!"
Also, hören Sie mal jetzt her. Ja? Geben Sie mal jetzt eine präzise
Antwort. Wie heißt die Villenkolonie, wo Anspitzers wohnen?
Eden bei Hermsdorf.
Aha. Sie wollen also nach Hermsdorf.
Nein, ich will nach Eden. Der alte Anspitzer...
Na das...was ist denn mit den Anspitzers? Sie sind ja auf dem verkehrten
Bahnhof! Von hier fährt man nicht nach dem Norden, von hier fährt
man nach Potsdam, Magdeburg und so weiter, haben Sie verstanden?
Ach - von hier fährt man nicht nach'm Norden...
Nein, da müssen Sie nach'm Stettiner Bahnhof.
Ach. Von hier fährt man nach Magdeburg.
Ja, nach Magdeburg.
Nach Magdeburg. Wissen Sie was, Herr Beamter? Da fahre ich eben nach Magdeburg.
Das trifft sich ja sehr gut, Herr Beamter. Ich habe in Magdeburg eine
Schwägerin, die vor ein paar Tagen gestorben ist. An einem heftigen
Schreck ist sie gestorben. Nämlich meine Schwägerin, die hat ihr
ganzes Leben lang noch keinen Chinesen gesehen. Nun passen Sie mal auf ,
Herr... Hallo, Herr Beamter! Hallo! Herr Beamter! Du lieber Himmel, was ist
denn los? Er regt sich ja gar nicht mehr. Ach, das tut mir aber leid. Was
ist denn, Herr Beamter? Ach, den hat der Schlag getroffen. Lassen wir'n Kranz
hier, da brauch ich erst gar nicht verreisen.
Zur Lautung dieser Probe:
hochdeutsch | wird zu schlesisch | Bemerkungen |
gestorben, Herr, Beamter, hinüber, schwer u.a. | . | retroflexes "englisches" /r/ |
gut, das tut mir aber leid | gutt, das tutt mir aber leid | kurzes /u/; Merksatz "gutt fürsch Blutt" |
Glasscherben | Glass- | kurzes /a/ |
Sie können sich denken | ...kennen.. | Entrundung: offenes kurzes /e/ |
des tröstenden Zuspruchs bedarf | ...treestenden.. | Entrundung: geschlossenes langes /e/ |
auch | ooch | |
Gemüt | Gemiit | Entrundung /ü:/ > /i:/ (aber nicht immer durchgeführt, z. B. in Gefühl) |
keine, zwei | keene, zwee | |
hören, schön, dann stößt sie | heeren, scheen, schteest | Entrundung: /ö:/ > /e:/ |
Worte, warte mal | Wotte, watte | |
Wurm, durchgeschnitten, Treppen, schnarchen, Rascheln |
. | Zungen-/r/ |
gelebt und geliebt, sehn Sie, verwesen | . | Öffnungstendenz beim /e/ (geläbt, sähn Se, verwäsen) |
ein ganz ähnlicher Fall, ein einziges Mal | ...ähnli-er, einzi-es | verschleifende Tilgung des Reibe- bzw. Verschlußlautes |
Pflaumenmus einkochen | . | stimmhaftes /ch/ mit Tendenz zu /r/ |
sie werden mir es gar nicht | ...mersch.. | |
gar nicht / gar nichts / gar nicht mehr / erst gar nicht | gor ni / gor nischt / gor nimmer / erscht gor ni | |
ich komme immer noch | ...kumm.. | |
fünfzig tausend | fuffzich mille | |
da brauch ich erst gar nicht | da brau i erscht gor ni | Verschleifende Kontraktion (siehe oben) |
zur schlesischen Lautung siehe auch hier
Transkription und Zusätze (c) WN 15.6.2k7 * Änderungen und
Ergänzungen vorbehalten * Nur zu didaktischen Zwecken