Allgemeines zum Thema "Homepages"
von Wolfgang Näser, Marburg
Daß wir, die universitären Internet-Nutzer,
diesen gewaltigen, weltumspannenden Raum nicht nur zum Information
Retrieval, zum Mailing, zu interaktiven Konferenzen,
Telefonieren oder zum Abruf nützlicher Programme nutzen
können bzw. dürfen, sondern auch zur persönlichen
Darstellung durch eigene, individuelle Web-Sites, ist ein kostbares
Gut, für das wir dankbar sein und das wir mit allen uns zur Verfügung
stehenden Mitteln pflegen und verteidigen sollten. Das wird
gerade in solchen Momenten bewußt, wo erste Ansätze auftauchen,
mit Formen der Zensur die für das Publikationsmedium Internet
garantierte Meinungs- und Publikationsfreiheit zu beschneiden.
Im Sinne des zur Zeit aus den USA importierten Prinzips der political
correctness (PC) sind dies - von jeweiligen subjektiven Standpunkt aus
gesehen - durchaus gutgemeinte Ansätze.
Tue recht und scheue niemand (prae-internetionale Maxime)
Wo kämen wir denn hin, wenn da jeder ... so einfach ...
(aufgeschreckter Zensor)
Hiermit übergebe ich dem Löschkopf die Web-Pages von ...
(Konsequenz)
Wir, und gerade wir als Volk, sollten in diesem Zusammenhang unserer eigenen
Entwicklung und unserer Wesenszüge gedenken. Die Absolutheit und der
Eifer, die uns in guten Dingen an die Weltspitze katapultiert haben, diese
Eigenschaften haben in negativer Hinsicht katastrophale Ergebnisse gezeitigt.
Mit anderen Worten: uns fehlt oft das Maß, um gewisse
Phänomene einzuordnen und zu relativieren.
Gerade was die (schon vom Simplicissimus des 19. Jahrhunderts völlig
zu Recht angeprangerte) Zensur betrifft, so sollten
wir besondere Empfindlichkeit an den Tag legen. In diesem Lichte gesehen,
bedeutet die derzeit vielgepriesene und nach deutschen
Maßstäben realisierte political correctness
möglicherweise einen Rückfall in solche publikatorische
Voraussetzungen, wie sie in diktatorischen Systemen (Drittes Reich,
DDR-Kommunismus) "geflegt" wurden. Und das will doch wohl niemand ernstlich
haben, der sich ebenso ernstlich mit dem
Internet beschäftigt, dessen Ressourcen
verantwortungsbewußt nutzt, dessen Möglichkeiten auslotet und
dem dessen Zukunft nicht gleichgültig ist.
EINE ZENSUR FINDET
DOCH STATT
Das Internet galt bisher weltweit als letzter publikatorischer Freiraum.
Galt - bis Anfang 1997, als bekannt wurde, daß hierzulande
Staatsanwaltschaften in bundesdeutschen Web-Angeboten recherchieren und z.B.
Links daraufhin überprüfen, ob sie ggf. zu
staatsgefährdenden, verfassungsfeindlichen Gruppierungen oder
Aktivitäten hinführen bzw. verleiten. Die allerneueste
Rechts-Kommentierung scheint wohl darauf hinauszugehen, daß bereits
die zitatweise Übernahme bestimmter kritischer Äußerungen
insofern krininalisiert wird, als man den Zitierenden mit dem Verdikt bzw.
Makel belegt, er schließe sich der zitierten Meinung an. Wer also etwas
Kritisches und gleichzeitig Strittiges zitiert, ist demnach quasi verpflichtet,
sich explizit von dessen Inhalt zu distanzieren bzw. diesen zu verurteilen.
Wird im Zuge des wachsenden Generalverdachts contra Internet eine solche
Rechtsauffassung zur Norm und/oder beschränkt sie sich auf dieses Medium,
so verstößt dies nicht nur gegen journalistische
Gleichheitsgrundsätze und die im Grundgesetz verankerte Meinungsfreiheit,
sondern wird allen, die das Internet - im übrigen genauso ein
Publikationsmedium wie jede Tageszeitung - als legitimes journalistisches
Organ nutzen, ein Maulkorb umgehängt, der an jene diktatorischen Epochen
in Ost und West erinnert, die man in zäher Vergangenheitsbewältigung
doch abzuschaffen gedachte (und hoffentlich noch gedenkt). In einer einzig
vom Fortschritt der Prozessor-Taktzahl bestimmten, immer orientierungsloseren
Zeit werden so vorauseilender Gehorsam, blinder Aktionismus, übereifrige
und kopflose Hektik zu Instrumenten einer Tendenz, die sich nun auch des
Internets bemächtigt, um hier unerwünschte kritische Stimmen zum
Schweigen zu bringen: eine Entwicklung, die niemandem gleichgültig sein
darf, der seinen Kopf nicht ausschließlich als Hutständer nutzt.
Die Internet-Gegner verbreiteten schon immer gern ihre Horror-Vision von negativen Inhalten, Schund und Schmutz, die mit Lichtgeschwindigkeit transportiert würden. Kein sozial verantwortungsvoll denkender Mensch kann und will ernsthaft bestreiten, daß auch und gerade das Internet in den letzten Jahren leider mehr und mehr von skrupellosen Menschen und Organisationen mißbraucht wird - insofern erleidet es dasselbe Schicksal wie die vor knapp zwanzig Jahren generell so euphorisch begrüßten Neuen Medien, vor allem die privaten TV-Kanäle. Jugendverderbende und menschenverachtendende Tendenzen zu bekämpfen ist unser aller Pflicht; doch sollten wir mit derselben Behutsamkeit, die psychologischerseits gerade im Strafvollzug oft ungerechtfertigterweise geübt wird, dem Internet eine Aufmerksamkeit widmen, die alle begrüßenswerten Ansätze fördert und berechtigte Kritik ebenso wie jede Art positiver Kreativität fördert und nicht im Keim erstickt.
Für uns geht es um die eher zeitlosen Fragen und Prinzipien einer
verantwortungsvollen Internet-Nutzung vor allem durch
nichtkommerzielle und an irgendwie gearteter
Machtausübung uninteressierte Personen. Niemand, der im
wissenschaftlichen, didaktischen, künstlerischen,
politischen Sinne verantwortungsbewußt Web-Seiten einrichtet
(und damit publiziert, das heißt im presse- oder informationsrechtlichen
Sinne als Autor der Öffentlichkeit zugänglich macht), wird auch
nur im Traum daran denken, sogenannten Schund oder Schmutz kommentar- und
zusammenhanglos bzw. als normativ richtungsweisend in solche Seiten zu
integrieren. Was ist denn Schund? Ist Satire Schund? Ist eine Parodie
Schund? Ein Sketch etwa? Ein Wortspiel? Ein
Szene-Interview? Eine überlieferte Volksweisheit? Politisches
Kabarett grundsätzlich? Oder die deutsche Version der burlesk-derben
commedia dell' arte und damit auch ein Dialekt-Stück wie
"Schweig, Bub"?
Eine gewachsene, gesunde demokratische Lebensform muß
widerstandsfähig genug sein, negativ oder extrem
erscheinende Endpunkte der Informations-Skala zu verkraften. Und es darf
nicht sein, daß etwa (in einer literarischen Homepage) ein
Zuckmayer-Text verboten wird, nur weil darin ein als derb empfundenes
Wort erscheint, oder ein harmloses Heinz-Erhardt-Gedicht, nur weil
darin das karikierte "Pechmariechen" in den Keller geht, um dort Männer
zu suchen. Wollen wir den "fröhlichen Weinberg" als "sexistisch" verbieten?
Wollen wir das Hohe Lied Salomonis
des Alten Testaments als "Porno" brandmarken? Verbote von Gedanken und
Meinungen und deren Verbreitung signalisieren immer systemare
Schwächen und damit erste Stadien einer systemaren
Erkrankung.
Wir alle, die wir das Internet als jüngstes Mitglied in der
Multimedia-Familie begrüßten, haben auch weiterhin die höchst
verantwortungsvolle Aufgabe, dieses Kind aufzuziehen, ihm viel Aufmerksamkeit
zu schenken und ihm gute Nahrung zukommen zu lassen. Denn es soll ein starkes
Kind werden, gesund und widerstandsfähig auch gegen jede Art von
Verletzung und Unterdrückung. Bedenken wir dies immer
und wehren wir den Anfängen!
NB: Die inzwischen (2020) alle ungültig gewordenen Links wurden entfernt - vielleicht finden sich noch andere, nützliche(re).
(c) Dr. Wolfgang Näser, Marburg * Stand: 9.11.2001 / 7.10.2020