Deutsch im 20. Jahrhundert * Dr. Wolfgang Näser * Mi 16-18, HS 110 Biegenstraße 14 * Beginn 10.4.2002

Brecht, Bertolt (1898-1956): Textproben (1927-1940)
siehe auch: Was wollte Brecht mit dem Stück "Mutter Courage und ihre Kinder"? (geschrieben am 12.6.61)

"Der leichtfertige Mensch, der die Wahrheit nicht weiss, drückt sich allgemein, hoch und ungenau aus. Es faselt von "den" Deutschen, er jammert über "das" Böse, und der Hörer weiss im besten Fall nicht was tun. Soll er beschliessen, kein Deutscher zu sein? Wird die Hölle verschwinden, wenn er gut ist? Auch das Gerede von der Barbarei, die von der Barbarei kommt, ist von dieser Art. Danach kommt die Barbarei von der Barbarei und hört auf durch die Gesittung, die von der Bildung kommt. Das ist alles ganz allgemein ausgedrückt, nicht der Folgerungen für das Handeln wegen und im Grunde niemandem gesagt."
Bertolt Brecht, Fünf Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit, Paris 1938

"An jenem Tag im blauen Mond September
still unter einem jungen Pflaumenbaum,
da hielt ich sie, die stille, bleiche Liebe
in meinem Arm in einem holden Traum.
Und über uns, im schönen Sommerhimmel,
war eine Wolke, die ich lange sah,
sie war sehr weiß und ungeheuer oben,
und als ich aufsah, war sie nimmer da."
zitiert von "HGW" in "Das Leben der anderen".

Bert(hold Eugen Friedrich) Brecht (Bild hier) kommt am 19.2.1898 in Augsburg zur Welt, studiert in München Philosophie und Medizin. Als Sanitäter lernt er den Krieg hassen, unterstützt die sozialistische Revolution  und studiert weiter, jetzt allerdings Literatur. 1922 erhält er den Kleist-Preis (für Trommeln in der Nacht) und arbeitet 1924 in Berlin zusammen mit Carl Zuckmayer als Dramaturg für Max Reinhardt und ab 1927 auch bei Erwin Piscator. Zusammen mit dem Komponisten Kurt Weill bearbeitet er die (1728 entstandene) "Beggar's Opera" im Jahre 1928 um zur "Dreigroschenoper", durch das Lied von der Seeräuber-Jenny und die Moritat von Mecky Messer ebenso weltberühmt wie die 1930 entstandene Oper "Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny", deren Uraufführung zum Skandal wurde. Der 1932 vorgestellte Film "Kuhle Wampe" wird erst in "entschärfter" Fassung von der Prüfstelle freigegeben. Nach dem Reichstagsbrand 1933 übersiedelt B. nach Dänemark und arbeitet mit Walter Benjamin und dem Komponisten Hanns Eisler zusammen (der die von Johannes R. Becher gedichtete DDR-Hymne vertonte). 1935 wird ihm die dt. Staatsbürgerschaft aberkannt. Nach einer fruchtbaren Schaffensperiode (Die Rundköpfe und die Spitzköpfe, Glanz und Elend des 3. Reiches, Leben des Galilei, Mutter Courage und ihre Kinder) übersiedelt er 1940 nach Finnland und 1941 in die USA, wo im selben Jahre "Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui" erscheint, kurz vor Hal B. Wallis' ebenfalls nazikritischem, berühmtem Spielfilm "Casablanca" (H. Bogart, I. Bergman). Während BB in New Yorks Emigrantenkreisen diskutiert, fällt 1943 sein (mit Paula Banholzer gezeugter, 1919 geborener) Sohn Frank als dt. Soldat an der Ostfront. Nach den US-Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki ändert B. die gedankliche Konzeption seines "Galilei", dessen Aufführung 1947 ihm als "unamerikanisch" angelastet wird (hearings of the House on Un-American Activities Committee, HUAC); er übersiedelt daher sofort in die Schweiz und 1949 nach Ost-Berlin, wo er in dem von seiner (1922 kennengelernten und 1929 geheirateten) Frau Helene Weigel gegründeten Berliner Ensemble als Oberspielleiter sein Stück "Herr Puntila und sein Knecht Matti" aufführt. 1951 erhält er den Nationalpreis 1. Klasse der DDR und 1954 den Internationalen Lenin-Friedenspreis und wird 1954 Vizepräsident der Deutschen Akademie der Künste (Ost) und erhält den "Stalin-Preis für Frieden und Verständigung zwischen den Völkern". Das brutale Vorgehen gegen die Demonstranten des 17. Juni 1953 zunächst billigend, distanziert sich B. kurz darauf von der SED, agitiert 1955 gegen die Pariser Verträge und die NATO und stirbt am 14.8.1956 an den Folgen eines Herzinfarktes. - Brecht, hinsichtlich seines Lebenswandels heute umstritten, begründete das "epische Theater" und gilt in vieler Hinsicht als größter deutscher Dramatiker des 20. Jahrhunderts. Sein pädagogisches Theater verwendet desillusionierende Mittel, sog. V[erfremdungs]-Effekte: rampenlose Bühne, Zwischentexte, Songs, kommentierende Sprecher, Plakate etc.), um so ein komplexes Weltbild darstellen, mittels Kommentaren das Gesagte und Erzählte politisch auszurichten und vom Zuschauer eine intellektuelle und moralische Stellungnahme/Entscheidung zu erzwingen.

Text 1: Aufruf an die jungen Maler! (1920)

Ich bin durch einige Ausstellungen durchgegangen und habe mir die Mühe gemacht, euer Elend auszuhalten, und habe mir gedacht: Es macht nichts, wenn die da verrecken, sie können noch einen Fußtritt haben. Aber dann fiel mir ein die große Menge derer, die von einer Leiche nicht fett wird, die gewaltig vielen Augen, die nicht gesättigt, die Gehirne, die nicht besänftigt oder erregt werden, wie es sich gehört, und ich überredete mich, euch zu verzeihen.

Ich sehe euch auf einem kleinen Bezirk weiden, auf dem kein Halm mehr wächst, große dumme, muhende Kälber, und ihr seid eher bereit, eure Mägen und Darmsysteme umzuarbeiten, als den Bezirk neuem Gras zu überlassen, das eure viel zu vielen Hufe am Aufkeimen hindern. Ihr wollt lieber Luftfresser werden oder pflanzenartige Ungeheuer neuer Art als den Bezirk verlassen, auf dem eure Mütter gestorben sind, um ihn fürderhin mit ihrem Aasgeruch zu verpesten.

Ich sage nicht, daß die alten Meister schlecht gearbeitet haben oder ihre Aufgabe nicht erfüllten. Ich glaube nur, daß sie ihre Aufgabe so vollständig erfüllten, daß ihr euch schämen sollt, auf die alten Fragen immer wieder eine andere Antwort finden zu wollen, anstatt neue Fragen zu stellen.

Es ist gewiß peinlich, alle Wiesen immerzu grün sehen zu müssen, nur weil meine Eltern beschlossen haben, sie sollen grün sein. Es ist nett von euch, wenn ihr sie blau malt oder weiß, aber ich meine: es genügt nicht. (Faustschläge sind besser als Langeweile, weil Langeweile schlechter als alles übrige ist.) Ich empfehle euch das Gegenteil.

Ihr sollt unsre Gewohnheiten malen. Ihr habt jahrhundertelang die Gewohnheiten derer gemalt, die ihr maltet. Eure letzte Mode war: eure eigenen Gewohnheiten zu malen. (Die Resultate waren für den Arzt und den Masochisten ergiebig!) Ich rate euch: die Gewohnheiten derer zu malen, die eure Bilder anschauen müssen.

Ich weiß nicht, wer von euch nur sich selbst befriedigen will, nicht das Publikum oder nicht auch das Publikum. (Dem bringe ich das Evangelium.) Allen andern bringe ich (auch) das Evangelium: denn wenn man tut, was man nicht lassen kann, ist es anständig zu wissen, daß man es nicht lassen kann.

Wenn ihr also das Herrische malt, ist es anständig für den Beschauer: zu wissen, daß er es nicht lassen kann, Brust herauszudrücken und den Kopf in den Nacken zu werfen.

So schmeiße ich euch die Historie hin: Freßt sie, Kinder! Aber schluckt nicht eure eignen Zähne mit hinunter!

Text 2: Vom armen B.B. (Berlin 1927)
Das Gedicht aus seiner ersten Lyrik-Sammlung "Hauspostille" symbolisiert die Suche des modernen, alleingelassenen Menschen im Dschungel eines seelenlosen Häusermeers.

1 Ich, Bertolt Brecht, bin aus den schwarzen Wäldern.
Meine Mutter trug mich in die Städte hinein,
Als ich in ihrem Leibe lag. Und die Kälte der Wälder
Wird in mir bis zu meinem Absterben sein.

2 In der Asphaltstadt bin ich daheim. Von allem Anfang
Versehen mit jedem Sterbsakrament:
Mit Zeitungen. Und Tabak. Und Branntwein.
Misstrauisch und faul und zufrieden am Ende.

3 Ich bin zu den Leuten freundlich. Ich setze
Einen steifen Hut auf nach ihrem Brauch.
Ich sage: es sind ganz besonders riechende Tiere,
Und ich sage: es macht nichts, ich bin es auch.

4 In meine leeren Schaukelstühle vormittags
Setze ich mir mitunter ein paar Frauen,
Und ich betrachte sie sorglos und sage ihnen:
In mir habt ihr einen, auf den könnt ihr nicht bauen.

5 Gegen Abend versammle ich um mich Männer,
Wir reden uns da mit "Gentleman" an.
Sie haben ihre Füße auf meinen Tischen
Und sagen: Es wird besser mit uns. Und ich frage nicht: Wann?

6 Gegen Morgen in der grauen Frühe pissen die Tannen,
Und ihr Ungeziefer, die Vögel, fängt an zu schreien.
Um die Stunde trink ich mein Glas in der Stadt aus und schmeiße
Den Tabakstummel weg und schlafe beunruhigt ein.

7 Wir sind gesessen ein leichtes Geschlecht
In Häusern, die für unzerstörbare galten
(So haben wir gebaut die langen Gehäuse des Eilands Manhattan
Und die dünnen Antennen, die das Atlantische Meer unterhalten).

8 Von diesen Städten wird bleiben: der durch sie hindurchging, der Wind!
Fröhlich macht das Haus den Esser; er leert es.
Wir wissen, daß wir Vorläufige sind,
Und nach uns wird kommen: nichts Nennenswertes.

9 Bei den Erdbeben, die kommen werden, werde ich hoffentlich
Meine Virginia nicht ausgehen lassen durch Bitterkeit,
Ich Bertolt Brecht, in die Asphaltstädte verschlagen
Aus den schwarzen Wäldern, in meiner Mutter, in früher Zeit.

Text 3: Fragen eines lesenden Arbeiters

Wer baute das siebentorige Theben?
In den Büchern stehen die Namen von Königen
Haben die Könige die Felsbrocken herbeigeschleppt?
Und das mehrmals zerstörte Babylon -
Wer baute es so viele Male auf? In welchen Häusern
Des goldstrahlenden Lima wohnten die Bauleute?
Wohin gingen an dem Abend, wo die Chinesische Mauer fertig war,
Die Maurer? Das große Rom
Ist voll von Triumphbögen. Wer errichtete sie? Über wen
Triumphierten die Cäsaren? Hatte das vielbesungene Byzanz
Nur Paläste für seine Bewohner? Selbst in dem sagenhaften Atlantis
Brüllten in der Nacht, wo das Meer es verschlang,
Die Ersaufenden nach ihren Sklaven.
Der junge Alexander eroberte Indien.
Er allein?
Cäsar schlug die Gallier.
Hatte er nicht wenigstens einen Koch bei sich?
Philipp von Spanien weinte, als seine Flotte
Untergegangen war. Weinte sonst niemand?
Friedrich der Zweite siegte im Siebenjährigen Krieg. Wer
Siegte außer ihm?
Jede Seite ein Sieg.
Wer kochte den Siegesschmaus?
Alle zehn Jahre ein großer Mann.
Wer bezahlte die Spesen?
So viele Berichte.
So viele Fragen.

Text 4: Thesen für proletarische Literatur (ca. 1940)

1 Kämpfe, indem du schreibst! Zeige, daß du kämpfst! Kräftiger Realismus! Die Realität ist auf deiner Seite, sei du auf ihrer! Laß das Leben sprechen! Vergewaltige es nicht! Wisse, daß es die Bürgerlichen nicht sprechen lassen! Du aber darfst es. Du mußt es. Such dir die Punkte aus, wo die Realität weggelogen, weggeschoben, weggeschminkt wird. Kratze die Schminke an! Widersprich, statt zu monologisieren! Erwecke Widerspruch! Deine Argumente sind der lebendige praktische und praktizierte Mensch und sein Leben, wie es ist. Sei unerschrocken, es gilt die Wahrheit! Wenn du recht hast mit deinen Folgerungen und Vorschlägen, dann, dann mußt du den Widerspruch der Realität vertragen können, die Schwierigkeiten in ihrer furchtbaren Gesamtheit erforschen, sie in aller Öffentlichkeit behandeln. Tue alles, um die Sache deiner Klasse vorwärtszubringen, die die Sache der ganzen Menschheit ist, aber laß nichts aus, weil es zu deinen Folgerungen, Vorschlägen und – Hoffnungen nicht paßt, verzichte lieber auf eine solche Folgerung in einem speziellen Fall als auf eine Wahrheit; aber auch in diesem Fall bestehe darauf, daß die Schwierigkeit, die du in ihrer ganzen Furchtbarkeit zeigst, überwunden wird. Nicht du allein kämpfst, auch dein Leser kämpft mit dir, wenn du ihn zum Kampf begeisterst. Nicht du allein findest Lösungen, auch er findet solche.

2 Nimm den Kampf auf mit deiner eigenen Armut! Als Schriftsteller, am Schreibtisch, mußt du dich emanzipieren von der Misere deiner proletarischen Existenz! Du mußt den Erlebnissen gegenüber souverän sein.

Text 5: Erinnerung an die Marie A. (1920 / 1927)

Dieses in Urfassung 1920 entstandene und 1927 in der Hauspostille publizierte Gedicht spielt eine wesentliche Rolle im 2005 gedrehten Film "Das Leben der Anderen". Stasi-Hauptmann Gerd Wiesler (Ulrich Mühe) entdeckt es in einem Buch, das er aus der observierten Wohnung des prominenten Schriftstellers Georg Dreyman (Sebastian Koch) mitgenommen hat. Die Lektüre leitet seinen tiefgreifenden Wandel ein. Leider wurde ich nicht eher auf diese wunderbaren Zeilen aufmerksam und konnte ich sie in meiner Lehrveranstaltung deshalb nicht (mehr) behandeln.

1. An jenem Tag im blauen Mond September
Still unter einem jungen Pflaumenbaum
Da hielt ich sie, die stille bleiche Liebe
In meinem Arm wie einen holden Traum.

2. Und über uns im schönen Sommerhimmel
War eine Wolke, die ich lange sah
Sie war sehr weiß und ungeheuer oben
Und als ich aufsah, war sie nimmer da.

3. Seit jenem Tag sind viele, viele Monde
Geschwommen still hinunter und vorbei.
Die Pflaumenbäume sind wohl abgehauen
Und fragst du mich, was mit der Liebe sei.
  4. So sag ich dir: ich kann mich nicht erinnern
Und doch, gewiß, ich weiß schon, was du meinst.
Doch ihr Gesicht, das weiß ich wirklich nimmer
Ich weiß nunmehr: ich küßte es dereinst.

5. Und auch den Kuß, ich hätt ihn längst vergessen
Wenn nicht die Wolke dagewesen wär
Die weiß ich noch und werd ich immer wissen
Sie war sehr weiß und kam von oben her.

6. Die Pflaumenbäume blühn vielleicht noch immer
Und jene Frau hat jetzt vielleicht das siebte Kind.
Doch jene Wolke blühte nur Minuten
Und als ich aufsah, schwand sie schon im Wind.

Hervorhebungen von mir. Ergänzungen vorbehalten * Stand: 21.4.2015