Textsorte Besinnungsaufsatz, Beispiel 5:
Was wollte Brecht mit dem Stück "Mutter Courage und ihre Kinder"?
(geschrieben am 12.6.61)
VORBEMERKUNG. Wie die Betrachtungen über die damalige "Zonengrenze" entstand auch das 5. Beispiel meiner schulischen "Besinnungsaufsätze" unter unserem als Direktor fungierenden Deutschlehrer Ernst Gemeinhardt. Stilistisch bedeutet es eine Befreiung und Weiterentwicklung, sachlich zeigt es, wie wir Unterprimaner uns damals mit dem bedeutenden, knapp 5 Jahre zuvor verstorbenen Dramatiker Brecht auseinandersetzten, nur sechzehn Jahre nach dem verheerenden Zweiten Weltkrieg - eine bemerkenswert kurze Zeitspanne, wenn man bedenkt, daß seit der deutschen (Wieder-)Vereinigung am 3. Oktober 1990 inzwischen auch schon sechzehn Jahre ins Land gegangen sind. Der Text soll zeigen, daß wir jungen Menschen uns keinesfalls gedankenlos im Wirtschaftswunder wiegten, sondern genauso kritisch wie unsere heutigen Altersgenossen unbequeme Fragen stellten, vor allem nach dem "Sinn" eines Krieges. Die Bundeswehr war gerade erst knapp sechs Jahre alt, das die Spiegel-Affäre auslösende NATO-Manöver "Fallex 62" und der "Schleifer"-Skandal von Nagold sollten folgen. "Neben einseitigen Betrachtungen auch recht gute Gedanken", urteilte Gemeinhardt, "störend" seien einige Fehler, "lobenswert dagegen die Selbständigkeit", und honorierte schließlich das Ganze mit einem "Gut".
Bemerkenswert ist für mich heute, aus 46-jähriger Distanz,
was ich damals über den Krieg geschrieben habe (worauf ich in gewisser
Weise stolz bin), und ein Trost, daß ich in all den folgenden Jahren
nie meine Ansicht darüber geändert habe. Wünschenswert wäre,
daß sich in den heutigen Schulen die verantwortlichen Deutschlehrer
auch so wie unser damals als konservativ angesehener Direktor mit diesem
Thema auseinandersetzten, wenn sie abseits von Gameboy,
Killerspielen, Rap und Hiphop und angesichts eines
rücksichtslosen, als Antiterrorkampf camouflierten
US-Hurrapatriotismus ihre Schülerinnen und Schüler ebenso
kritisch und tief über den Irrsinn des Krieges reflektieren
ließen.
W. Näser, Marburg, 26.1.2007
Gliederung:
Einleitung: Probleme des Krieges; Brechts Stück, seine Herkunft
und Anlage
Hauptteil: (Darstellungs-)Ziele des Stücks
I.
Sinnlosigkeit des Krieges
II. Was der
Krieg den Höheren einbringt
III. Wie es
um die Ideale der "kleinen Leute" bestellt ist
IV. Wie der
Mensch zum Kriege steht und mit seinen Problemen fertig wird
V. Brechts
Weltanschauung
VI. Wirkungen auf
den Zuschauer
Schluß: Widerstrebende Meinungen über Brecht; Beurteilung
des Stücks
Sechzehn Jahre ist es nun schon her, daß die Kanonen aufgehört haben, mit schweren Granaten das aufzureißen und zu vernichten, wofür Menschen ihr ganzes Leben einsetzten, daß die schweren Bomber nicht mehr ihre todbringenden Lasten über den mächtigen Großstädten mit ihrem pulsierenden Verkehr abwerfen, um blühendes Leben in gähnende Trichter und rauchende Aschehaufen zu verwandeln. Sechzehn Jahre des Aufbaus liegen hinter uns, und dennoch müssen wir fast täglich noch über den Krieg, seine furchtbaren Wirkungen und seine Probleme nachdenken. Wie vielen Kindern ist der Vater durch den Krieg verlorengegangen, wie viele Menschen sind in den furchtbaren Bombennächten ums Leben gekommen?
Wie wurde nun der Mensch mit den Problemen des Krieges fertig? Oft hören wir von den furchtbaren Gewissenskonflikten, wenn Soldaten nicht auf Frauen und Kinder schießen konnten und dafür mit dem eigenen Leben bezahlen mußten.
Vom Krieg, seinen Wirkungen und seinen Problemen handelt Brechts Stück "Mutter Courage und ihre Kinder", das im Jahre 1939 nach einer Vorlage von Grimmelshausens "Geschichte von der Landstörtzerin Courache" entstand. Diese "Chronik aus dem Dreißigjährigen Krieg" schildert in zehn Szenen das Auf und Ab im Leben einer fahrenden Marketenderin, die in allen Teilen des Reichs umherzieht und dabei viele Abenteuer erlebt. Aber Mutter Courage, die ihre drei Kinder in diesem furchtbaren Kriege verliert, ist nur ein Beispiel für diese haltlose Zeit, die uns Brecht mit einer derben, schmucklosen Sprache vor Augen führt. Zwar gehen die Meinungen über dieses Stück weit auseinander, doch kann man deutlich erkennen, welche Ziele der Autor mit seinem Werk verfolgt.
Werfen wir einmal einen Blick in die Geschichte, sehen wir sofort, daß eine große Zahl von Kriegen bis heute geführt wurde. Millionen von Menschen verloren ihr Leben, andere wiederum ihre ganze Habe; große Kulturen und wertvolle Kunstschätze wurden vernichtet; das Sittlichkeitsgefühl der Menschen wurde zerstört. Welchen Sinn hatten diese Kriege, sollte man sich fragen. Jeder vernünftige Mensch wird darauf nur eine bestimmte Antwort geben: Jeglicher Krieg ist sinnlos. Wie sollte es auch von Nutzen sein, all das zu vernichten, was in mühevoller Arbeit, mit viel Schweiß, Tränen und Entbehrung aufgebaut wurde? Krieg bedeutet Armut, Tod, Vernichtung, Verderben und Verstümmelung. Blühendes, emporkeimendes, hoffnungsvolles Leben wird mit einem Schlage vernichtet, das Werk der Menschen dem Erdboden gleichgemacht. In der haltlosen Zeit des Krieges wird dem Menschen jegliches Empfinden für Gut und Böse genommen und so sein Gefühl für Sittlichkeit und Anstand zerstört. Dies alles will uns Brecht in seinem Stück vor Augen führen, und zwar mit eindringlicher, nicht mehr zu überbietender Deutlichkeit.
Geht es aber nun allen Menschen im Kriege gleich schlecht? Wie kommt es, daß eine gewisse Bevölkerungsschicht sofort nach dem Kriege sich schneller erholt als die übrigen Menschen, die ihr Geld mühsam verdienen müssen? Wenn der Krieg doch - nach Meinung mancher Politiker - eine gerechte Sache ist, müßten sich doch alle Menschen - ohne Berücksichtigung der Standesunterschiede und des Einkommens - in gleichem Maße und mit allen verfügbaren Kräften für die Verteidigung ihres Vaterlandes einsetzen! Daß dies aber ganz offenbar nicht der Fall ist, erkennen die meisten Menschen leider immer zu spät, oder sie kommen nicht mehr dazu. "Welche Opfer haben Sie denn für den Krieg gebracht?" sollte man einmal diejenigen fragen, die am Kriege verdienen und dennoch große Worte von "Vaterlandsverteidigung" im Munde herumtragen. Unsummen haben die verdient, in deren gewaltigen Maschinenhallen die todbringenden Bomben, Granaten und anderen Vernichtungsmittel hergestellt wurden, für die andere ihr Leben hergeben mußten. Heute werden bereits wieder Bunker gebaut, und zwar Atombunker - vielleicht unter dem Motto: Jedem Wirtschaftsmagnaten seinen strahlensicheren Betonbunker! Da stimmt doch irgendetwas nicht! Ist denn ein Krieg eine gerechte Sache, in dem die Großen ihre Schäfchen ins Trockene bringen, während der "Normalverbraucher" seine Haut zu Markte tragen muß?
In Friedenszeiten ist jede Regierung stets bemüht, dem Durchschnittsbürger "Ideale" mit auf den Weg zu geben, wobei merkwürdigerweise immer die gleichen Wörter an der Tagesordnung sind. Im Nationalsozialismus z.B. waren es die "Erhaltung der arischen Rasse", das "Volk ohne Raum", Schlagwörter, die in dem Ruf gipfelten "Juda verrecke!", einem Ausspruch, der wohl an Unverschämtheit kaum noch zu überbieten ist. Mit Scheinidealen und durch Scheinerfolge wurde die Bevölkerung gefüttert, aufgeputscht und zu einem willigen Instrument des Staates gemacht. "Führer befiel, wir folgen!" Darüberhinaus ist der Begriff "Vaterland" schon für alle möglichen Zwecke benutzt worden. Jeder Soldat war im Zweiten Weltkrieg bestrebt, sein Vaterland mit allen Mitteln zu verteidigen, aber leider zu spät ist so manchem braven Manne der Gedanke gekommen, daß doch eigentlich dieser Krieg kein "Vaterlandskrieg", sondern ein Krieg war, der nur anderen Völkern ihr Land entreißen wollte. Diese Worte mögen sehr hart und vielleicht etwas übertrieben klingen, aber im Grunde genommen können wir nur einem neuen Kriege ausweichen, wenn wir uns dies überlegen, darüber nachdenken und erkennen, daß man sich im Kriege wenig um die Ideale des "kleinen Mannes" kümmert, sondern daß sie vielmehr zu politischen Zwecken mißbraucht werden.
Wie aber steht der Mensch zum Kriege? Wie wird er mit seinen Problemen fertig? Auch dies zeigt uns Brecht sehr deutlich in seinem Stück. Jeder betrachtet den Krieg und seine Vor- und Nachteile von seinem Standpunkt aus. Für Mutter Courage ist der Krieg mit nichts Schrecklichem verbunden, solange sie aus ihm Gewinn ziehen kann. Selbst der Verlust ihrer Kinder wirft sie nicht in dem Maße seelisch um, wie man es eigentlich vermuten sollte. Dies zeigt uns sehr gut die Haltlosigkeit und Gleichgültigkeit im Dreißigjährigen Kriege, einer Zeit des Mordens, Sengens, Schändens und Plünderns. Nach Gefühlen wird nicht gefragt; jeder sucht mit seinen Problemen auf eine Art fertigzuwerden, die meistens für den anderen mit Schaden verbunden ist. Konflikte werden nicht berücksichtigt, über den einzelnen wird hinweggesehen. In Friedenszeiten wird man schwer bestraft für das, was im Kriege an der Tagesordnung war.
Seine ganze Weltanschauung legt Brecht in das Stück "Mutter Courage und ihre Kinder". Mit aller Kraft wendet er sich gegen das Bürgertum und seine Ideale. Er verneint und verspottet all das, was uns heute teuer und heilig ist. Sehr stark ist Brechts Weltanschauung mit dem Kommunismus verbunden, weswegen er auch besonders in Mitteldeutschland verehrt und von den kommunistischen Machthabern in den Himmel gehoben wird. Über die Art und Weise aber, wie er seine Ideen zum Ausdruck bringt, kann man sich streiten. Seine Ausdrucksweise ist nicht nur derb und rauh, sondern steigert sich oft zum Gewöhnlichen und Gemeinen, was man mit schärfster Deutlichkeit in der "Dreigroschenoper" feststellen kann, in der Brecht Wörter und Formulierungen benutzt, die in einem normalen Menschen Abscheu und Ekel erwecken. Deshalb sollte man sich eigentlich fragen, wieso Brecht noch heute als einer der größten zeitgenössischen Dichter betrachtet wird.
Eines der wichtigsten in Brechts Stücken erscheinenden Elemente ist der "Song", eine Art Bänkelsängerlied mit einem Kehrreim, der besonders eindringlich dem Zuschauer die Weltanschauung Brechts und die Tendenz des Stückes einhämmern und ihn zum Nachdenken anregen soll. So kann man Brechts Stücke als "Lehrstücke" betrachten; sie wollen den Zuschauer nicht etwa mitleiden lassen, ihn nicht erschüttern, sondern ihn zum Nachdenken anregen. Was eignet sich schon besser hierfür als der Brechtsche "Song" mit seinem immer wiederkehrenden Reim, der dem Zuschauer immer nur eines vor Augen führt: "Dies will ich mit meinem Stück sagen. Denke darüber nach. Dies ist die Tendenz meines Stückes!" Ist ihm aber diese Absicht immer gelungen? Keineswegs, denn an einigen Stellen des Stücks wird der Zuschauer unwillkürlich ergriffen und erschüttert, z.B. beim Tod Kattrins.
Die Meinungen über Brecht und sein vielgestaltiges Schaffen gehen weit auseinander. Was ist nun über Brechts "Mutter Courage und ihre Kinder" zu sagen? Brecht hat in diesem Stück einige Gedankengänge gebracht, über die nachzudenken es sich wirklich lohnt. Aber diese wenigen Gedankengänge überwiegen bei weitem nicht die negativen Elemente des Stücks, wie die herbe, jeglicher Beherrschung entkleidete Ausdrucksweise und die stark anzuzweifelnde Tendenz mancher Songs. Eines der besten Beispiele hierfür ist der große "Song" in Szene 9, in dem Brecht - man höre und staune - folgende Tendenz dem Zuschauer einzuhämmern versucht:
"Beneidenswert, wer frei von Weisheit (!), Kühnheit, Redlichkeit (!), Selbstlosigkeit (!) und Gottesfurcht (!)".
Ich kann mich dieser Meinung beim besten Willen nicht anschließen, würde ich doch dann mithelfen, jeglicher Kultur das eigene Grab zu graben! Mögen es andere tun; ich bevorzuge die Werke der Klassiker und Romantiker, deren Ideen wirklich zeitlos sind und deren hohe künstlerische Sprache wirklich alles auszudrücken vermag - von zartester Empfindung bis zum kraftvollen, gottnahen Naturschauspiel.
Text und HTML: (c) W. Näser 1/2k7